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Universität Potsdam Dagmar Klose (Hrsg.) Begegnung mit dem Fremden in Geschichtswissenschaft und Geschichtsunterricht Perspektiven historischen Denkens und Lernens | 6 Begegnung mit dem Fremden in Geschichtswissenschaft und Geschichtsunterricht Dagmar Klose (Hrsg.) Perspektiven historischen Denkens und Lernens | 6 Dagmar Klose (Hrsg.) Begegnung mit dem Fremden in Geschichtswissenschaft und Geschichtsunterricht Universitätsverlag Potsdam Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.de abrufbar. Universitätsverlag Potsdam 2013 http://verlag.ub.uni-potsdam.de/ Am Neuen Palais 10, 14469 Potsdam Tel.: +49 (0)331 977 2533 / Fax: 2292 E-Mail: [email protected] Die Schriftenreihe Perspektiven Historischen Denkens und Lernens wird herausgegeben vom Lehrstuhl für Didaktik der Geschichte des Historischen Instituts der Universität Potsdam. Herausgeberin: Dagmar Klose Das Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Wir möchten darauf hinweisen, dass einige Texte und Abbildungen aufgrund unklarer Rechteverhältnisse nicht aufgeführt sind. Es wird auf die entsprechende Provenienz verwiesen. Satz und Layout: Thomas Flechsig, Tim Warnke, Silja Haller Online veröffentlicht auf dem Publikationsserver der Universität Potsdam URL http://pub.ub.uni-potsdam.de/volltexte/2013/5025/ URN urn:nbn:de:kobv:517-opus-50250 http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:kobv:517-opus-50250 Inhaltsverzeichnis Einleitung ........................................................................................................ 10 KAPITEL I: WELTMACHT GEGEN GROßMACHT – ROM UND DAS PARTHERREICH 1 Sachinformation ......................................................................................... 19 1.1 Historischer Kontext ............................................................................ 19 1.2 Das parthische Militärwesen ............................................................... 23 1.3 Das Partherbild der Römer ................................................................. 23 2 Baustein I – Das Partherbild der Römer ................................................... 24 Römische Kunst und Parther ....................................................................... 25 3 Baustein II – Geographie ........................................................................... 28 3.1 Einleitung ............................................................................................ 28 3.2 Quellen und Materialien ...................................................................... 29 3.3 Kartenmaterial ..................................................................................... 36 4 Baustein III – Veränderung der Parther-Wahrnehmung bei den Römern im Laufe der Jahrhunderte .......................................................... 38 4.1 Sachinformationen .............................................................................. 38 4.2 Aufgaben, Materialien, Erwartungshorizont ........................................ 39 Quellen ............................................................................................... 40 4.3 Hinweise zur Bearbeitung der Aufgaben drei bis fünf ......................... 48 4.4 Abschluss ............................................................................................ 49 KAPITEL II: DAS ANTIKE GRIECHENLAND AM BEISPIEL DER OLYMPISCHEN SPIELE 1 Didaktisch-methodische Überlegungen ................................................... 55 2 Baustein I – Hinleiten zum Thema „Olympische Spiele in der Antike“ . 56 2.1 Einführung und didaktische Idee ......................................................... 56 2.2 Fachwissenschaftliche Grundlegung................................................... 57 2.3 Beitrag zur Kompetenzentwicklung ..................................................... 60 5 2.4 Lernarrangement und Arbeitsteil mit Aufgaben ................................... 61 3 Baustein II – Grundriss Olympia ............................................................... 64 3.1 Aufbau der Anlage .............................................................................. 64 3.2 Die Archäologischen Befunde ............................................................. 66 3.3 Die Zeusstatue .................................................................................... 67 3.4 Anhang................................................................................................ 70 4 Baustein III – Geschichte der Poleis, politische Ordnungen und Gesellschaften in Sparta und Athen ......................................................... 71 4.1 Die griechische Polis ........................................................................... 73 4.2 Athen und Sparta ................................................................................ 74 4.3 Der Peloponnesische Krieg ................................................................. 77 5 Baustein IV – Sportwettkämpfe ................................................................. 79 5.1 Leichtathletik im antiken Olympia (gymnische Agone) ........................ 79 5.2 Schwerathletik bei den Olympischen Spielen ..................................... 83 5.3 Wagenrennen und Pferderennen (hippische Agone) .......................... 85 5.4 Die musischen Wettkämpfe (musische Agone) ................................... 86 5.5 Bildquellen .......................................................................................... 87 5.6 Aufgaben ............................................................................................. 88 6 Baustein V – Nacktheit und Starkult ......................................................... 89 6.1 Nacktheit bei den Olympischen Spielen .............................................. 89 6.1.1 Entstehungsgeschichte .......................................................... 89 6.1.2 Unterrichtsbezüge .................................................................. 91 6.2 Starkult bei den Olympischen Spielen – Milon von Kroton .................. 93 6.2.1 Entstehungsgeschichte .......................................................... 93 6.2.2 Unterrichtsbezüge .................................................................. 95 6.3 Arbeitsmaterialien ............................................................................... 98 6.4 Bildmaterialien .................................................................................. 104 KAPITEL III: EXPEDITION IN DIE NEUE WELT 1 Baustein I – Gewalt als Reaktion auf das Fremde ................................. 109 1.1 Sachinformation ................................................................................ 109 1.1.1 6 Das Bild von den Kriegern Amerikas .................................... 109 1.1.2 Die Gründe für das Gelingen der Expeditionen .................... 112 1.2 Aufgaben, Materialien und didaktische Bemerkungen ...................... 114 1.2.1 Militärische Grundlagen ........................................................ 114 1.2.2 Das Kriterium der Angst vor dem Fremden .......................... 120 1.2.3 Diplomatie und Bündnispolitik .............................................. 124 2 Baustein II – Wirtschaft und Geographie ............................................... 129 2.1 Sachinformation ................................................................................ 129 2.2 Materialien und Aufgaben ................................................................. 130 2.2.1 Wirtschaftliche Aspekte der europäischen Expansion in schriftlichen Quellen ............................................................. 130 2.2.2 Geographischer Ansatz ........................................................ 138 2.2.3 Einsatz des Mediums Film.................................................... 144 3 Baustein III – Die christliche Mission der Neuen Welt .......................... 148 3.1 Sachinformation ................................................................................ 148 3.1.1 Die Entdeckung Amerikas .................................................... 148 3.1.2 Begegnung mit dem Fremden – Lebensweise und Religion der Indios aus der Sicht der Eroberer ................................... 149 3.1.3 Gründe für eine christliche Mission – Kontroversen und Legitimation .......................................................................... 153 3.2 Aufgaben, Materialien und didaktische Bemerkungen ...................... 156 3.2.1 Die Ankunft der Franziskaner in der Neuen Welt ................. 156 3.2.2 Die Indios als Kannibalen ..................................................... 158 3.2.3 Das Scheitern der Kommunikation zwischen den fremden Kulturen .................................................................. 159 3.2.4 Eine Debatte über die Legitimitätsgrundlage der Eroberung 161 4 Baustein IV – Das Schiff .......................................................................... 163 4.1 Sachinformation ................................................................................ 163 4.2 Aufgaben und Material ...................................................................... 164 4.2.1 Mythen und Sagen der Meere – Naturkräfte ........................ 164 4.2.2 Hoffnungen und Ängste einer Seereise ................................ 168 4.2.3 Tag und Nacht auf See......................................................... 172 4.2.4 Krankheiten an Bord ............................................................. 175 7 KAPITEL IV: SORBEN/WENDEN IM GESCHICHTSUNTERRICHT 1 Baustein I – Die Minderheitenpolitik des Nationalsozialismus am Beispiel der Sorben/Wenden............................................................. 181 1.1 Didaktisch-methodische Überlegungen............................................. 181 1.1.1 Zur Bedeutung des Themas ................................................. 181 1.1.2 Das Potenzial zur Entwicklung des historischen Denkens – Zugänglichkeit ...................................................................... 184 1.1.3 Anregungen zur Entwicklung von Kompetenzen .................. 185 1.2 Sachinformationen ............................................................................ 193 1.2.1 Historischer Hintergrund: Nationalsozialistische Politik gegenüber den Sorben ......................................................... 193 1.2.2 Die sorbische Zeitung Serbske Nowiny ................................ 195 1.3 Aufgaben und Materialien; didaktisch-methodische Arrangements .. 196 1.4 Inhaltlicher Überblick zu den Aufgaben ............................................. 210 2 Baustein II – „1945 – Was wird aus uns?“ ............................................. 213 2.1 Didaktisch-methodische Überlegungen............................................. 213 2.1.1 2.1.2 Zur Bedeutung des Themas ................................................. 213 2.1.1.1 Exemplarische Bedeutung .................................... 213 2.1.1.2 Gegenwartsbedeutung .......................................... 213 2.1.1.3 Zukunftsbedeutung ............................................... 214 Das Potential zur Entwicklung des historischen Denkens .... 214 2.1.2.1 Zugänglichkeit ....................................................... 214 2.1.2.2 Darstellbarkeit ....................................................... 215 2.1.2.3 Methodische Strukturierung .................................. 215 2.1.2.4 Kompetenzerwerb ................................................. 217 2.2 Sachinformationen ............................................................................ 220 2.3 Aufgaben und Materialien, didaktisch-methodische Arrangements .. 220 8 2.3.1 Aufgaben und Materialien..................................................... 220 2.3.2 Inhaltlicher Überblick zu den Aufgaben ................................ 227 Einleitung Begegnung mit dem Fremden in Geschichtswissenschaft und Geschichtsunterricht Dagmar Klose „Man kennt nur die Dinge, die man zähmt“, sagte der Fuchs. „Die Menschen haben keine Zeit mehr, irgendetwas kennen zu lernen. Sie kaufen sich alles fertig in den Geschäften. Aber da es keine Kaufläden für Freunde gibt, haben die Leute keine Freunde mehr. Wenn du einen Freund willst, so zähme mich!“ „Was muss ich da tun?“, sagte der kleine Prinz. „Du musst sehr geduldig sein“, antwortete der Fuchs. „Du setzt dich zuerst ein wenig abseits von mir ins Gras. Ich werde dich so verstohlen, so aus dem Augenwinkel anschauen und du wirst nichts sagen. Die Sprache ist die Quelle der Missverständnisse. Aber jeden Tag wirst du dich ein bisschen näher setzen können…“1 Sagt uns der schlaue Fuchs auf diese Weise, dass es ganz und gar unmöglich ist, ein fremdes Wesen, eine fremde Kultur zu verstehen, ohne dass im Annäherungsprozess das jeweils Eigene aufgegeben werden muss? Ist Verstehen ein permanenter Assimilationsprozess? Und verweist uns der Dialog zwischen dem Fuchs und dem kleinen Prinzen nicht zugleich auf die Missverständlichkeit unseres wichtigsten Kommunikationsmediums, die Sprache?2 Die Kapitel dieser Handreiche bergen eine Fülle dieser Missverständlichkeiten. Einer der schlagendsten Belege ist wohl die Szene, als Atahualpa die Bibel in hohem Bogen verwirft, weil die Buchstaben keinen Sinn für ihn ergeben, in seiner Deutung: das Buch nicht zu ihm spricht, der Gott für ihn nicht existent ist. Missverständlich kann auch das Medium Bild interpretiert werden. Andererseits eignet sich gerade die bildhafte Darstellung hervorragend, in die Problematik des Fremdverstehens einzuführen, denn es sind für die Schülerinnen und Schüler ungewohnte Fragestellungen, die auf andere Weise als gewöhnlich ihre Aufmerksamkeit, ihre Wahrnehmungen und ihre Deutungen herausfordern. Wählen wir zum Exempel das Jahr 1853: Der amerikanische Admiral Perry läuft mit seinem Flaggschiff, das den Schwarzen Schiffen vorausfährt, in Edo (heute Tokio) ein. Wählte man den ereignisgeschichtlich-chronologischen Zugang, so würden ein Bild von Perry und seiner Flotte als Einstieg zur Vermittlung der historischen Trendwende hinführen, die Perrys Unternehmen einleitete: Nach langer Abschottung von der westlichen Welt öffnete sich Japan unter amerikanischem Druck, was wiederum einen Modernisierungsschub im Lande einleitete. Dies zu erklären würde eine Vorund Nachgeschichte erfordern. Aber nicht um diese sozioökonomischen und politischen Prozesse geht es beim Fremdverstehen primär; sie bilden dagegen den Hand1 2 Antoine de Saint-Exupéry: Der Kleine Prinz, Düsseldorf 1998, S. 67. Auch die Fremdsprachendidaktik versucht dem Vorwurf, dass Verstehen durch Assimilation auf das Eigene zurückführe, mit einer entsprechenden Didaktik zu begegnen, vgl. Bredella, Lothar/Christ, Herbert/Legutke, Michael K. (Hrsg.): Fremdverstehen zwischen Theorie und Praxis, Tübingen 2000, S. 10. 11 lungsrahmen für die agierenden Personen ab. Interessanter in Bezug auf das Fremdverstehen ist schon die bildliche Darstellung der Japaner und der Amerikaner von dieser Landung, ein Paradebeispiel für unterschiedliche Perspektivik. B1 Landung in Yokohama (William Heine, 1854) [http://ocw.mit.edu/ans7870/21f/21f.027/black_ships_and_samurai/bss_essay04.html (19.6.2013)] B2 Landung in Yokohama (japanische Sicht, 19. Jh.) [http://ocw.mit.edu/ans7870/21f/21f.027/black_ships_and_samurai/bss_essay05.html (19.6.2013)] 12 B3 „Das schwarze Schiff“ (Farbholzschnitt, Japan 1854) [http://ocw.mit.edu/ans7870/21f/21f.027/black_ships_and_samurai/bss_essay03.html (19.6.2013)] Ins Zentrum der Thematik führt jedoch die bildliche Darstellung Perrys, wie ihn die Japaner sahen. Man kann sich vorstellen, wie die Berichte über Perry das Bild über ihn prägten. Besonders aufschlussreich ist ein Farbholzschnitt etwa um 1855.3 Allein dominierende Mandelaugen (Stereotyp: „Schlitzaugen“) und schrägstehende Augenbrauen verweisen auf eine Transformation des Eigenen (Japanischen) in den Fremden. Die eigene Kultur wird überdimensioniert. Zugleich erscheinen Merkmale einer fremden Kultur (Bart, gelocktes Haar, große Nase) als eine Überzeichnung des Fremden, sie werden als das Andere besonders hervorgehoben. Vergleicht man den Holzschnitt mit dem Foto Perrys, so kann für Anforderungen an das Fremdverstehen sensibilisiert werden. Es handelt sich immer um eine Wechselbeziehung zwischen dem Eigenen und dem Fremden; nur in diesem spannungsvollen Reflexionsprozess lässt sich Fremdverstehen entwickeln.4 Mit dem Verweis auf die notwendige Kompetenz der Selbstreflexion ist bereits auf eine entwicklungsspezifische Hürde hingewiesen, die zum Teil mit dem 3 4 Vgl. dazu auch die Interpretation in: Sauer, Michael: Bilder im Geschichtsunterricht. Typen. Interpretationsmethoden. Unterrichtsverfahren, Seelze-Velber 2000, S. 62 f. Vgl. ausführlich dazu: Hammerschmidt, Anette C.: Fremdverstehen: interkulturelle Hermeneutik zwischen Eigenem und Fremdem, München 1997. 13 Lebens- und Lernalter zu tun hat, aber auch mit der bisherigen Gestaltung historischen Lernens. So könnte dieser Holzschnitt die Schülerinnen und Schüler für Beobachtungen sensibilisieren, wodurch unsere Bilder von ANDEREN beeinflusst werden. B4 Portrait Perry (M. Brady, ca. 1854) [http://ocw.mit.edu/ans7870/21f/21f.027/blac k_ships_and_samurai/bss_essay02.html (19.6.2013)] B5 Perry aus japanischer Sicht (unbekannt, ca. 1855) [http://ocw.mit.edu/ans7870/21f/21f.027/black_ships_a nd_samurai/bss_essay02.html (19.6.2013)] Im Geschichtsunterricht geht es immer um die Rekonstruktion des Fremden, sei es in der Geschichte des eigenen Volkes oder darüber hinaus in anderen Kulturen. Stets ist das Vorhandensein eines Erfahrungshorizonts – bezogen auf den Lerngegenstand – Voraussetzung und Bedingung dafür, dass historische Sinnbildungsprozesse überhaupt stattfinden können. Die Hauptschiene für die Verbindung zwischen dem aktuellen Erfahrungshorizont und dem historischen Sachverhalt ist der kulturelle Raum; beim Fremdverstehen im Geschichtsunterricht kommt es zur Rekonstruktion, Überlagerung, Vermischung, Differenzierung verschiedener kultureller Begegnungsräume, auch zum Löschen von Elementen. Kultur ist hier in einem weiten Verständnis zu interpretieren, als Lebensraum der Menschen und ihrer Gesellschaft generell und nicht als ein separater Sektor. Neuere kulturgeschichtliche Ansätze in der Geschichtswissenschaft geben der Hoffnung reale Gestalt, dass einschlägige Forschungsergebnisse alsbald im Geschichtsunterricht wirksam werden können. Die damit verbundenen methodischen Neuerungen sind auch für historisches Lernen essentiell: Nunmehr wird eine Handlungspraxis nicht nur unter dem Aspekt ihrer Funktionalität untersucht; zur Entschlüsselung des Sinns von Handlungen geraten 14 die Rituale, Symbole, Zeichen als Bedeutungsträger von Geschichtskultur in den Focus. Die Erinnerungskultur selbst wird zum Gegenstand der Erkenntnis. In der inhaltlichen Ausdifferenzierung der vorliegenden Kompetenzmodelle der Geschichtsdidaktik werden mit der Thematik des Fremdverstehens vor allem solche Ziele angesprochen wie: Rekonstruktion eines historischen Handlungsraumes auf der Grundlage multiperspektivischer Quellen und Darstellungen, Focus auf die Subjekte in der Geschichte – ihre Intentionen, Wünsche, Hoffnungen, Ängste –, Reflexivität in Deutungs- und Urteilsprozessen, Entschlüsselung der Bedeutung von geschichtskulturellen Zeugnissen und Handlungspraxen, reflektiertes historisches Erzählen, Ausgestaltung von Rollen in Spielen … In der Geschichte selbst war es zu allen Zeiten vonnöten, sich mit dem Fremden auseinanderzusetzen. Bereits die Sippe, die einer anderen das Jagdrevier streitig zu machen suchte, musste sich mit den Eigenheiten der Fremden vorab auseinandersetzen, sollte ihr Handeln von Erfolg gekrönt sein. Doch auch aus individueller Perspektive ist es lebensnotwendig, den eigenen Erfahrungsraum stetig zu erweitern. Das kann in der realen oder medialen Erfahrung der Welt von heute geschehen, aber/und auch in der historischen Dimension, in der Erweiterung des historischen Erfahrungsraumes. Eine Interkulturgeschichte, d. h. eine Reflexion über historische Formen der Auseinandersetzung mit dem Fremden in anderen Kulturen, steht wohl derzeit noch aus. Aber es ist schon recht hilfreich, wenn Schülerinnen und Schüler erkennen, dass sich die Begegnung mit dem Fremden als Berührung, Kontakt, Zusammenstoß, Verflechtung, Ausrottung und Transformation gestalten kann. Vor allem das Kapitel „Expedition in die Neue Welt“ enthält Beispiele für alle diese Formen. Doch nicht nur dies, die Eskalation wird auch erklärt. Auf der individuellen Ebene kann die Erfahrung des Fremden positiv erlebt werden als Integration und Erfahrungserweiterung, aber auch negativ als Ablehnung und Ausgrenzung. Aktuelle Bezüge lassen sich für beide Pole hinreichend anführen, so dass der Lebensweltbezug sich geradezu aufdrängt. Auch die Stufung sollte dabei Beachtung finden auf einer Skala von übersetzbarer Andersheit (Alterität) bis zur radikalen Andersheit (Alienität). Es finden sich in der Handreiche durchaus Belege für Alienität, das heißt die vorgefundenen Lebewesen werden nicht als zur christlichen Welt zugehörig eingestuft. Es findet eine Ausgrenzung aus der menschlichen Gemeinschaft statt. Dies wiederum dient der Legitimation für verabscheuungswürdige Taten. In intensivem Quellenstudium können die Schülerinnen und Schüler Faktoren ermitteln, welche auf dieser Skala wirksam werden. Eine mögliche Schlussfolgerung für das Lernen aus der Geschichte könnte zum Beispiel sein, sich einen offenen Blick zu bewahren auf das Andere und das Eigene. 15 Die Kapitel dieser Handreiche orientieren sich an Marksteinen der Rahmenlehrpläne und verändern dabei, wie oben ausgeführt, die Sicht auf bekannte historische Inhalte und die Methoden. Eingebürgerte strukturalistische Zugänge werden umfunktioniert: Das Zentrum des Erkenntnisprozesses bilden die Intentionen, Zwänge, Wünsche, Emotionen, religiösen Vorstellungen etc. der historischen Subjekte als Individuen und in ihrer Gruppenzugehörigkeit; die Strukturen, Ereignisse und Prozesse konturieren den Rahmen für die jeweiligen Handlungsspielräume. Eine Besonderheit stellt das Kapitel zu den Sorben dar; es ist dies vor allem der Spezifik der Region geschuldet, bildet aber darüber hinaus auch eine relativ unbekannte Facette zum Umgang mit Minderheiten im nationalsozialistischen System. Eine nähere Einführung in die einzelnen Kapitel ist an dieser Stelle nicht vonnöten, da die Verfasserinnen und Verfasser ihr Anliegen selbst erklären. 16 Kapitel I Weltmacht gegen Grossmacht – Rom und das Partherreich Patrick Fretzdorff Martin Heineck Roland Huschner [http://www.library.yale.edu/edu/exhibition/judaica/jcsml.2.html (23.11.2009)] Baustein I Das Partherbild der Römer (Patrick Fretzdorff) Baustein II Geographie (Martin Heineck) Baustein III Veränderung der Parther-Wahrnehmung bei den Römern (Roland Huschner) 1 SACHINFORMATION 1.1 Historischer Kontext Das nachweislich erste Treffen zwischen Rom und dem Partherreich fand 96 v. Chr. am oberen Euphrat in Kleinasien statt. L. Cornelius Sulla, Propraetor von Kilikien, traf mit einer Gesandtschaft des Partherkönigs Mithridates II. zusammen.5 Die dabei zugrunde liegenden Ziele beider Mächte scheinen heute klar. Die Parther hatten die Absicht, Mesopotamien und Armenien als äußere Teile ihres Reiches abzusichern, während Rom sein strategisches Vorfeld im Osten in Augenschein nahm und seinerseits abzusichern suchte. Infolgedessen wurde höchstwahrscheinlich auch ein amicitia-Verhältnis begründet, was einen Prestige-Gewinn für L. C. Sulla mit sich brachte.6 Die Besonderheit im Aufeinandertreffen beider Mächte liegt aber in der Tatsache, dass bis dato auf Seiten der Römer keine spezifischen Vorstellungen, kein „über Generationen tradierter, kollektiver Erfahrungsschatz der römischen Eliten mit [in die politischen Verhandlungen] eingebracht werden konnte“7, wie es zum Beispiel im Falle des Aufeinandertreffens von Rom und Ägypten der Fall war. Die gesamte römische Politik basierte auf diesem Erfahrungsschatz, einer Art „Schwarmintelligenz“, die vorrangig durch die Mitglieder des Senats repräsentiert wurde. Das fein abgestufte System der Ämterlaufbahn, dass jeder aufstrebende römische Bürger durchlaufen musste, diente u. a. dazu, mit einer Vielzahl dieser überlieferten Grundsätze vertraut zu werden. Ein Beispiel hierfür sind die umfangreichen Sammlungen von Verfahrensund Ablaufbestimmungen, die den römischen Statthaltern zur Durchführung der Amtsgeschäfte in den Provinzen mit übergeben wurden. Traf ein bisher unbekanntes juristisches Problem auf, wurde bei nächst höherer Instanz um Rat angerufen. Im Jahre 96 v. Chr. fehlte es also auf römischer Seite hinsichtlich der Parther an einem grundlegenden politischen und kulturellen Erfahrungsschatz. Das Partherreich durfte, aus römischer Sicht, als fremd angenommen werden. Umso interessanter ist damit die ab 96 v. Chr. einsetzende Herausbildung eines Partherbildes, das über die Entwicklungen in römischer Politik und Kunst erschlossen werden kann. Die Herausbildung spezifischer Vorstellungen über die fremde Macht waren nicht vorrangig, wie noch gezeigt werden wird, auf Basis einer schrittweisen kulturellen Annäherung und Verständigung geprägt. Vielmehr waren es klare politische Ambitionen des römischen Principats, die in der Folge ein ganz bestimmtes Partherbild entstehen ließen. 5 Vgl. Linz, Oliver: Studien zur römischen Ostpolitik im Principat, Hamburg 2009, S. 31. Vgl. Ebd. 7 Vgl. Sonnabend, Holger: Fremdenbild in der Politik. Vorstellungen der Römer von Ägypten und dem Partherreich in der späten Republik und frühen Kaiserzeit, Frankfurt/M. 1986, S. 157. 6 19 Erst die armenischen Feldzüge des L. Licinius Lucullus 70/69 v. Chr. brachten den Römern nähere Vorstellungen vom Partherreich. Der Legat Sextilius wurde unter nicht näher angegebenen Umständen zum Partherkönig ausgesandt, während gleichzeitig Kontakte zu parthischen Fürsten unterhalten wurden. Es ist anzunehmen, dass Lucullus hier zum ersten Mal detaillierte Vorstellungen der geographischen Ausdehnung sowie der politischen Strukturen des Partherreiches erhielt. Die Aussendung des Sextilius kann entweder als steigendes Interesse der Römer an Parthien gewertet oder sogar als Überprüfung eines Feldzuges gedeutet werden. Wenn letztere Deutung vorliegt, könnte dies hier schon ein Hinweis auf ein einerseits vorliegendes Überlegenheitsgefühl auf römischer Seite verstanden werden. Andererseits wäre dann für diesen Zeitpunkt schon die Bedeutung des Partherreiches als zukünftiges militärisches Betätigungsfeld greifbar.8 Sowohl L. Lucullus als auch der ihm 66 v. Chr. nachfolgende Pompeius Magnus schlossen mit den Parthern Verträge, die im Wesentlichen den Euphrat als Grenze des Partherreiches anerkannten.9 In der Folge hielt sich Pompeius allerdings nicht an die getroffenen Abmachungen und überschritt in mehreren Fällen den Euphrat, um zu ausgedehnten Feldzügen in Armenien und im Kaukasus zu marschieren. Er weitete den Einflussbereich des Römischen Reiches durch Bündnis- und Klientelverträge sukzessive deutlich über den Euphrat hinaus aus.10 Das eigentlich ausgeglichene Verhältnis zwischen beiden Mächten nahm hier zum ersten Mal Spannungen an. Die Parther kritisierten scharf die römische Politik der Dominanz und Geringschätzung und wandten sich gegen den römischen Klientelkönig Armeniens. Dem virtus Pompeius’ schadete dies allerdings nicht. Die unter ihm erfolgte Neuordnung des Ostens (Syrien fiel noch als Provinz an Rom) stärkte seine eigene Macht enorm und ließ bei seiner Rückkehr nach Rom Assoziationen mit den Taten Alexanders des Großen entstehen.11 Nach einer Periode der Ruhe schickte sich im Jahr 54 v. Chr. M. Licinius Crassus an, die Euphratgrenze in militärischer Absicht zu überschreiten. Als Kriegsgrund war nur ein aus persönlichem Gewinn- und innenpolitischem Machtstreben bestehende Gemengelage zu fassen.12 Als Mitglied des Triumvirates konnte er neben Pompeius und Caesar nicht mit deren Glanz und Erfolgen mithalten. Das unter Orodes II. noch nicht voll konsolidierte und von Bürgerkrieg geschwächte Partherreich ließ gleichzeitig auf reiche und einfache Beute hoffen. 53 v. Chr. zog Crassus in die parthischen Kerngebiete und stellte sich dort nach anfänglichen Gebietsgewinnen bei Carrhae einer 8 Vgl. Sonnabend, S. 158. Linz gibt zu bedenken, dass der Abschluss unter Pompeius nicht voll und ganz aus den Quellen erschlossen werden kann. Vgl. Linz, S. 34, Anm. 114. 10 Vgl. Linz, S. 36 f. 11 Vgl. Linz, S. 39. 12 Vgl. Landskron, Alice: Parther und Sasaniden. Das Bild der Orientalen in der römischen Kaiserzeit, Wien 2005, S. 37. 9 20 Schlacht mit den Parthern, die nachhaltig das römische Bild der fremden Macht prägen sollte. Die Römer wurden durch die deutlich überlegene parthische Reiterei sowie aus Unkenntnis der geographischen und klimatischen Besonderheiten der Region geschlagen. Ein Großteil der 20.000 römischen Soldaten wurde, so wie Crassus in der Folge ebenfalls, getötet. Der verbliebene Rest der römischen Truppen kam in Gefangenschaft.13 Neben den menschlichen Verlusten muss wohl ebenfalls der Verlust der römischen Feldzeichen eine enorme Demütigung für die siegesverwöhnte Großmacht dargestellt haben. Ohne Zweifel nahmen die Parther nach diesem glorreichen Sieg einen neuen Stellenwert im Bewusstsein der Römer ein. Neben dem Nimbus als geschickte und taktisch versierte Militärs wandelte sich das Bild Parthiens zu einem nicht zu unterschätzenden Machtfaktor des Ostens.14 Teilweise wurde nach dem Einfall der Parther 51 v. Chr. in Syrien, der in Rom größte Sorge hervorrief, das Bild vom gefährlichen, räuberischen Volk artikuliert.15 In der Folge begann das Partherreich in der römischen Außenpolitik eine bedeutende Rolle einzunehmen, in dem es zum Schauplatz egoistischer Machtambitionen römischer Feldherren wurde. Die militärische Betätigung im nahezu unendlichen Osten weckte die Aussicht auf Steigerung des eigenen virtus. Militärische Erfolge, die Aussicht auf geographischen und materiellen Reichtum des unerschlossenen Ostens ließen immer wieder AlexanderPhantasien entstehen. Nach einer der größten militärischen Niederlagen der Römer überhaupt bei Carrhae blühte zudem der Rache- und Revanchegedanke prächtig auf und wurde gleichsam zum politischen Motiv für weitere Engagements und Ambitionen im Osten.16 Diesen Revanchegedanken machte sich auch C. Julius Caesar zu Nutze, nachdem er im Bürgerkrieg obsiegt hatte. Um seine innenpolitische Ausnahmestellung abzusichern und zu festigen, leitete er umfangreiche Vorbereitungen für eine Offensive im Osten ein. Nicht weniger als 16 Legionen ließ er dafür ausheben und trainieren. Nur seine Ermordung 44 v. Chr. verschonte wohl das Partherreich vor einer gewaltigen Invasion. Die Parther nutzten nun wiederrum ihrerseits die innerrömischen Konflikte und fielen in Syrien und Kilikien ein. Der Erfolg war jedoch nur von kurzer Dauer.17 Mit dem Partherfeldzug des Antonius kam es vorerst zum letzten großen militärischen Vorgehen gegen die Parther vor Christi Geburt. Im Spätsommer 36 v. Chr. zog dieser gegen den Großkönig Phraates IV. Antrieb war dabei einerseits wieder ein persönliches Motiv der Machtsteigerung in Konkurrenz zu Octavian. Rückblickend betrachtet kann aber ebenfalls ein geostrategischer Gestaltungsgedanke erkannt 13 Vgl. Linz, S. 42 f. Vgl. Sonnabend, S. 174. 15 Ebd., S. 177. 16 Vgl. Linz, S. 263 f. 17 Vgl. Linz, S. 45 ff. 14 21 werden, den gesamten Osten einer neuartigen Konzeption zu unterwerfen. So versuchte er, durch zahlreiche Bündnis- und Beistandsverträge und Einsetzung ihm legitimer Herrscher einen Kranz von Rom-abhängigen Mächten um das Partherreich zu schmieden.18 Antonius nutzte das armenische Bergland als Einfallsroute nach Parthien, um die parthische Reiterei im offenen Feld zu umgehen. Doch schon seine Belagerung der Stadt Phraaspa konnte nicht aufgenommen werden, da seine Nachschubroute ständigen Angriffen ausgesetzt war. Der nahende Winter ließ Antonius zum Rückzug bewegen, auf dem er noch einmal enorme Verluste zu verzeichnen hatte.19 Nach der Aufgabe des Feldzuges stellte Antonius seine Ambitionen 34 v. Chr. gänzlich ein und wurde 31 v. Chr. in der Schlacht bei Actium von Octavian schließlich vollends geschlagen. Unter Augustus kam es in der Folge zu einer Änderung der Taktik gegenüber dem Partherreich. Einerseits musste der Kaiser seine Macht im Reich stabilisieren und konnte die durch innerparthische Querelen hervorgerufene Ruhe dafür ausnutzen. Ziel Augustus’ war es nun, ein ausgeglichenes Verhältnis zu Parthien anzustreben, das sich 20 v. Chr. in einem Abkommen mit den Parthern niederschlug. Zuvor verfolgte er allerdings die Politik Antonius’ weiter und kreiste das Partherreich strategisch ein. Unter den Eindrücken eines Bürgerkrieges akzeptierte der Partherkönig die Macht Roms an seinen Nord- und Westgrenzen. Beide Mächte schlossen 20 v. Chr. ein Abkommen, in dem vereinbart wurde, dass die römische Herrschaft am Euphrat enden würde und keine weiteren Eroberungen im Osten geplant seien. Die Parther gaben ihrerseits die römischen Feldzeichen aus der Schlacht von Carrhae sowie die verbliebenen Gefangen zurück.20 Diesen Erfolg konnte Augustus für sich verbuchen, zumal er diesen ohne direkte militärische Auseinandersetzung errungen hatte.21 Schwierigkeiten gab es allerdings mit der öffentlichen Perzeption des neuen Verhältnisses. Der jahrzehntelang vorherrschende Rachegedanke musste ebenso umgeformt wie der allgemeine Weltmachtanspruch Roms neu interpretiert werden. Diese Umformung erfolge auf der Bewusstseinsebene. Die Parther wurden wie bisher als etwas völlig Fremdes, als etwas komplett Anderes betrachtet und vermittelt. Ein Bewusstsein von enormer kultureller und geographischer Distanz wurde geschaffen.22 So konnte über die Vorstellung eines „alter orbis“ der bestehende „orbis romanus“ in Einklang zur neuen geopolitischen Ausrichtung gebracht werden, ohne grundlegende römische Traditionen und Ansichten aufzugeben.23 18 Sonnabend, S. 189. Vgl. Linz, S. 50. 20 Sonnabend, S. 201. 21 Sonnabend, S. 61–65. 22 Ebd., S. 207. 23 Ebd., S. 214. 19 22 1.2 Das parthische Militärwesen Viele Quellen, besonders diese, die die Schlacht bei Carrhae schildern, geben detaillierte Auskunft über die Kampftaktik der Parther. Signifikant ist, dass die Parther zu Pferde unterwegs waren und mit Pfeil und Bogen kämpften. Gerade damit hatten die Fußtruppen der Römer arge Probleme. Als „Parthisches Manöver“ gilt der vorgetäuschte Rückzug der Reiter, während diese sich umdrehen und vom Pferde aus die Pfeile abschießen. Geschützt wurden die parthischen Soldaten durch Panzer am eigenen Körper und dem des Pferdes. Das flache Land der Wüste bot die Bedingung für diese Kampftaktik, die nach der Niederlage des Crassus bei den Römern gefürchtet war und zumindest für kurze Zeit die Überlegenheit der römischen Militärmacht in Frage stellte.24 1.3 Das Partherbild der Römer Das Partherbild der Römer war über einen langen Zeitraum stereotyp. Die Parther waren demnach von einem Despoten regierte, sittenlose Orientalen, unkultiviert und damit als ein Barbarenvolk anzusehen. Gleichzeitig wurden die Parther durch ihre Erfahrung in militärischen Auseinandersetzungen als militärische Potenz angesehen, die sich vor allem auf ihre erfahrene Reiterei und exzellenten Bogenschützen gründete.25 Obgleich es wenige diplomatische Kontakte gab, und obgleich parthische Geiseln in Rom lebten, waren die Kenntnisse über den Lebensbereich der Parther gering.26 Das Partherbild war vorrangig geprägt durch das Perserbild der Griechen sowie die direkten militärischen Auseinandersetzungen. Politisch waren für die Römer die Parther die Herrscher des Orients. Es bestand in den Köpfen die Anschauung von der anderen Welt (alius orbis27). In der Bildkunst überwog die Demonstration der Überlegenheit des Westens28, bis sich im Lauf der Zeit immer mehr eine Ambivalenz in der Bildkunst herauskristallisierte. So gibt es auch Darstellungen, die Respekt vor den Parthern ausdrücken. Man sah den Orient als märchenhafte Gegenwelt29, indem der Parther allgemein mit barbarischem Aussehen30, also mit langem lockigem Haar und Vollbart, dargestellt wurde. Charakteristisch sind auch die Hosen, das Ärmelgewand mit V-Ausschnitt und die phrygische Mütze, die allerdings erst nach der augusteischen Zeit zum absoluten Topos wurde.31 Es gibt, wie angesprochen, auch Darstellungen von Parthern ohne Bart mit jünglichem Aussehen. 24 Vgl. Landskron, S. 181. Vgl. Sonnabend, S. 198. 26 Vgl. Schneider, S. 103. 27 Tac: Ann. 2, 2, 2. 28 Vgl. Landskron, S. 150. 29 Vgl. Schneider, S. 106. 30 Vgl. Landskron, S. 150. 31 Ebd., S. 102. 25 23 2 BAUSTEIN I – DAS PARTHERBILD DER RÖMER Q1 Trogus 41, 2 – Das parthische Militärwesen „(1) Darauf, in geschlossener Linie einen Nahkampf zu führen, oder Städte zu belagern, verstehen sie sich gar nicht. Sie kämpfen nur zu Pferde, und zwar stürmisch vorwärts reitend und schleunigst sich wieder zurückziehend; oft auch stellen sie sich wie Flüchtlinge, um die Nachfolgenden gegen Verwundungen unvorsichtiger zu machen und sie (5) so zu fassen. [...] Auch können sie nicht lange kämpfen; übrigens wäre Ihnen überhaupt nicht zu widerstehen, wenn so groß wie ihr Ungestüm auch ihre Ausdauer wäre. Meistens lassen sie grad in der ärgsten Kampfeshitze das Treffen mit im Stich, und bald darauf nehmen sie aus der Fluchtbewegung heraus die Schlacht wieder auf, so dass der Gegner dann, wenn er am meisten glaubt, schon gesiegt zu haben, gerade erst die eigentliche Bewährungsprobe zu (10) bestehen hat. Zu ihrem eigenem Schutz und zu dem ihrer Pferde dienen ihnen Schuppenpanzer, und zwar decken diese den ganzen Leib von Mann und Ross.“ [Trogus, Pompeius: Weltgeschichte von den Anfängen bis Augustus. Im Auszug des Justin, Zürich/München 1972] Q2 Cassius Dio 15,40 – Bewaffnung der Parther „(1) Sie [die Parther] bedienen sich allerdings folgender Bewaffnung und Art der Kriegsführung; [...] Einen Schild verwenden die Parther nicht, sie ziehen vielmehr als berittene Bogenschützen und Speerträger, größtenteils voll gepanzert, ins Feld. Ihr Fußvolk hingegen ist zahlenmäßig klein und setzt sich nur aus schwächeren Kämpfern zusammen, die aber auch ihrerseits (5) sämtlich mit Bogen ausgerüstet sind. Schon von Kind an üben sie sich in den erwähnten Fertigkeiten, wobei Klima und Land zusammen zur Entfaltung der Reit- und Bogenkunst beitragen. [...] Die dortige Luft aber, sehr trocken und ohne den mindesten Feuchtigkeitsgehalt, erhält, abgesehen vom tiefsten Winter, ihren Bogen die volle Spannkraft. Deshalb unternehmen sie auch in jener Jahreszeit keine Feldzüge. Im übrigen Teil des Jahres (10) aber sind die Parther gar schwer besiegbar, sowohl im eigenen Land wie auch in ähnlichen Gebieten.“ [Dio, Cassius: Römische Geschichte, Bd. II, Bücher 36–43, Düsseldorf 2007] A1 Erläutert mit Hilfe der Quellen das „Parthische Manöver“. A2 Erläutert, welchen Eindruck man von der Kampftaktik der Parther bekommt. Versucht, die Beschreibung in einem Wort zusammenzufassen. A3 Diskutiert, wie die Autoren die Parther im Krieg einschätzen. 24 A4 Malt auf die Folie mit Hilfe der Quelle, wie ein parthischer Soldat im Kampf ausgesehen haben könnte. B1 Parthisches Manöver [http://de.wikipedia.org/w/index.php ?title=Bild:OttomanHorseArcher.jpg &filetimestamp=20061229113303201 10909.08a.jpg (8.1.2011)] B2 Bewaffnete Reiterei [http://www.marook armouries.de/images Sarmate5.jpg (8.1.2011)] Die Gruppe kann ihre Zeichnung den anderen präsentieren und anhand dieser die Kampftaktik und das Aussehen eines parthischen Soldaten erklären. Einen zusätzlichen Lerneffekt erhält man, wenn man die Konstruktionen der Schüler mit vorhandenem Bildmaterial vergleicht. Römische Kunst und Parther Q3 Trogus, 41,3 – Frauenbild der Parther „(1) Jeder einzelne von ihnen hat um des Reizes wechselnder Lust willen mehrere Weiber, und keine Verfehlung bestrafen sie härter als Ehebruch. Deswegen untersagen sie den Frauen nicht nur die Teilnahme an den Gelagen der Männer, sondern sogar deren bloßen Anblick. [...] Zu Pferde bewegen sie sich jederzeit. [...] Schließlich ist auch das der Unterschied (5) zwischen Sklaven und Freien, dass jene zu Fuß, diese aber nur zu Pferde sich fortbewegen. [...] In religiösen Fragen und beim Kult ihrer Götter lassen sich alle ein besonders Maß von Ehrfurcht angelegen sein. Nach Sinnesart ist dieses Volk anmaßend, aufbegehrend, betrügerisch und zudringlich, denn Draufgängertum halten sie für Sache der Männer, sanften Sinn für die der 25 Frauen, immer unruhig und zu irgendwelchen Aktionen gegen Auswärtige (10) oder Einheimische aufgelegt, von Natur wortkarg, eher zum Handeln als zum Reden bereit und so decken sie Günstiges wie Widriges mit Schweigen zu. Sinnlicher Lust sind sie sehr zugetan, im Essen dagegen sind sie anspruchslos. Treue zum gegebenen Wort und Versprechen gibt es bei Ihnen überhaupt nicht, es sei denn, es läge im eigenen Vorteil.“ [Trogus, Pompeius: Weltgeschichte von den Anfängen bis Augustus. Im Auszug des Justin, Zürich/München 1972] A1 Zählt die Merkmale der Parther auf, die der Autor der Quelle nennt. Wie kommen die Parther dabei weg? A2 Vergleicht die genannten Eigenschaften mit denen der Römern. Welche Gemeinsamkeiten und Unterschiede gibt es? A3 Diskutiert, woher der Autor der Quelle sein Wissen haben könnte. B3 Parther – Bronzeapplike – Sockelrelief Severusbogen (Forum Romanum) [Inhalt aufgrund unklarer Rechteverhältnisse entfernt. Referenz: Landskron, Alice: Parther und Sasaniden. Das Bild der Orientalen in der römischen Kaiserzeit, Wien 2005, Tafel 22/27.] A Erklärt den Mitschülern mit Hilfe der zwei Abbildungen, wie die Römer die Parther dargestellt haben. B4 Sockelrelief Severusbogen (Forum Romanum) – Pferdepectoral, Aosta [Inhalt aufgrund unklarer Rechteverhältnisse entfernt. Referenz: Landskron, Alice: Parther und Sasaniden. Das Bild der Orientalen in der römischen Kaiserzeit, Wien 2005, Tafel 22/27.] A 26 Fasst gemeinsam zusammen, was ihr auf den zwei Abbildungen seht und versucht zu deuten, welche Sicht die Römer auf die Parther nach außen hin hatten. Der Lehrer kann den Erkenntnisprozess ausweiten, indem er am folgenden Bild ikonographische Deutung übt und diskutieren lässt. Auf dem Bild befinden sich drei Partherdarstellungen. Auf drei Ebenen wird das Verhältnis der Römer zu den Parthern, also den Orientalen, symbolisiert. Unten sieht man zusammen mit anderen Besiegten einen unterdrückten Orientalen im Barbarenstil. In der Mitte kniet ein Parther mit phrygischer Mütze, der zwar noch unterlegen wirkt, aber dennoch mischt er sich unter die Gesellschaft der römischen Kaiser. Oben bei den Göttern fliegt ein parthischer (orientalischer) Jüngling, der die Faszination der Römer gegenüber dem unnahbaren Fremden, dem Unbesiegbaren, kennzeichnet. B5 Grand Camée de France (23 n. Chr.) [http://commons.wikimedia.org/wiki/Image:Grand_Cam%C3%A9e_de_France.JPG (8.1.2011)] 27 3 BAUSTEIN II – GEOGRAPHIE 3.1 Einleitung In diesem Teil der Gruppenarbeit geht es um die geografische Erschließung Persiens und des parthischen Gebietes. Dabei liegen mehrere Quellen antiker Autoren, fachwissenschaftliche Quellen und Kartenmaterial zur Auswahl vor. Die Lehrperson selbst kann entscheiden, welche Materialien den Schülern zur Verfügung gestellt werden sollen bzw. wie diese kombiniert werden. Auch ist es möglich, mit dieser Materialsammlung fächerübergreifend zu arbeiten, mit Geographie bzw. Englisch. Die Quellen der antiken Autoren liegen in deutscher Übersetzung vor. Die fachwissenschaftlichen Texte von Jan Willem Drijvers wurden im Original bereitgestellt. Primäres Anliegen einer fächerübergreifenden Gruppenarbeit soll sein, die Schüler erkennen zu lassen, dass Geschichte auch mit Methoden anderer Fächer rekonstruiert werden kann, dass ein interdisziplinärer Ansatz sinnvoll sein kann. Zum anderen wird der Lerninhalt exemplarisch erschlossen. An die damit trainierten oder neu erworbenen Kompetenzen der Schüler kann in anderen Themenfeldern angeknüpft werden. Die Aufgaben sind an den drei Anforderungsbereichen orientiert. A1 Zählt die Landschaften und Orte des Persischen Reiches und insbesondere des parthischen Landstriches, die sowohl bei Ammian als auch bei Strabon vorkommen, auf und benennt sie. Zeigt diese Landschaften und Orte auf den zur Verfügung stehenden Karten auf. Sammelt Informationen über diese beiden antiken Geschichtsschreiber. A2 Charakterisiert den Schreibstil sowohl von Ammianus Marcellinus als auch von Strabon. Stellt diese Schreibstile anschließend gegenüber. A3 Vergleicht die Schreibstile beider antiken Autoren miteinander. 28 3.2 Q1 Quellen und Materialien Ammianus Marcellinus, Buch XXIII,6,10–13: Die geographische Lage des Persischen Reiches Ammianus Marcellinus, römischer Soldat griechischer Herkunft, stammte aus der reichen, antiken Handelsstadt Antiochia. „[…] Jetzt will ich, soweit es die Umstände erlauben, die Lage des Landes zusammenfassend und kurz beschreiben. Diese Gebiete erstrecken sich weit und breit und umschließen allseitig das inselreiche und viel befahrene Persische Meer. Wie berichtet wird, hat es eine so enge Einmündung zur offenen See, dass man von Karmaniens Vorgebirge Harmozon das gegenüberliegende Kap, das bei den Einwohnern Makes heißt, ohne Mühe sehen kann. Fährt man durch diese Meerenge ein, so liegt vor einem eine weit ausgedehnte Wasserfläche offen da. Auf ihr erstreckt sich die Schifffahrt bis zur Stadt Teredon, wo der Euphrat nach dem Verlust großer Wassermengen ins Meer mündet. Der gesamte Meerbusen hat, an der Küste gemessen, einen Umfang von 20.000 Stadien und ist wie gedrechselt rund. An der gesamten Küste liegen in dichter Reihenfolge Städte und Dörfer, und viele Schiffe verkehren hier. Wenn man also die erwähnte Meerenge durchfahren hat, kommt man zum Golf von Karmanien, der nach Osten zu liegt. In weiter Entfernung von dort erstreckt sich nach Süden ein Meerbusen, mit Namen Cantichus, und nicht viel weiter entfernt ein weiterer, den man Chalites nennt. Er liegt nach Westen zu. Danach fährt man an mehreren Inseln vorüber, von denen nur wenige bekannt sind, und die Buchten vereinigen sich mit dem Indischen Ozean, der als erster die Glut des Sonnenaufgangs empfängt und auch selbst außerordentlich warm ist. Wie die Geographen es dargestellt haben, lässt sich das gesamte vorher genannte Gebiet folgendermaßen beschreiben. Im Norden bis zur Kaspischen Pforte grenzt es an die Cadusier, viele Skythenstämme und die Arimasper, einäugige und wilde Menschen. Im Westen grenzt das Land an Armenien und den Niphates und die in Asien lebenden Albaner, das Rote Meer und die scenitischen Araber, die man später Sarazenen nannte. Im Süden blickt es nach Mesopotamien hin. Auf der entgegengesetzten Seite, im Osten, dehnt es sich bis zum Ganges aus, der die Gebiete der Inder voneinander trennt, um sich dann in das Südmeer zu ergießen. […]“ [Marcellinus, Ammianus: Römische Geschichte, lateinisch und deutsch mit einem Kommentar versehen von Wolfgang Seyfarth, dritter Teil, Bücher 22–25, Akademie-Verlag, Berlin 1970] Erwartungshorizont Nach der Darstellung des Konfliktes zwischen Kaiser Julian und Schapur II., beginnt Ammian die geographische Lage Persiens zu beschreiben. Er geht zunächst von der Küste des Persischen Meeres aus. Angefangen vom unteren Lauf des Euphrats und 29 des Tigrisdeltas, erwähnt er viele Städte und Dörfer an der Küste, bis er schließlich zum Indischen Ozean gelangt. Anschließend ist ein Bruch in Ammians Beschreibung zu erkennen. Koordinatorisch anhand der Himmelsrichtungen beschreibt er die Gesamtlage Persiens. Er beginnt im Norden, wo das Reich an den südlichen Teil des Kaspischen Meeres angrenzt. Typisch sind auch hier die Wertungen Ammians gegenüber fremden Stämmen. Er bezeichnet demnach die Skythen und Arimasper als „einäugige und wilde Menschen“. Danach erwähnt er den Westen des Persischen Reiches, der an Armenien angrenzt und fällt schnell in den südlichen Teil des Reiches, wo es an das Rote Meer angrenzt. Fälschlicherweise ordnet er Mesopotamien anschließend in den Süden ein. Dieses Gebiet erstreckt sich aber de facto von Nordwesten bis hin zum Südwesten des Reiches. Das Perserreich soll zum östlichen Gebiet an den Ganges angrenzen. Allgemein gesagt, ist die geografische Beschreibung Ammians sehr ungenau. Gerade die Beschreibung der Lage der östlichen Grenzen des Reiches ist fragwürdig. In der heutigen Forschung wird davon ausgegangen, dass im Nordosten der Hindukusch und der von Nord nach Süd verlaufende Fluss Indus die natürlichen Grenzen des Reiches bildeten. Zu dem antiken Schreiber selbst: Ammianus Marcellinus, römischer Soldat griechischer Herkunft, aus der reichen Handelsstadt Antiochia stammend, hinterließ uns glücklicherweise eine Darstellung der römischen Geschichte, die aus 31 Büchern besteht. Leider sind die Bücher 1 bis 13 verschollen. Somit setzt Buch 14 im Jahre 353 n. Chr. mit dem Caesariat Gallus’ und mit der Herrschaft Constantius’ II. ein und schließt beim 31. Buch mit dem Einfall der Goten in Thrakien und der Schlacht bei Adrianopel im Jahre 378 n. Chr. Er hinterlässt uns einen einzigartigen Einblick in die Geschichte des Römischen Reiches eines Vierteljahrhunderts. Beim Lesen dieser Quellen fällt immer wieder der pathetische Schreibstil auf, weshalb viele Historiker unserer Zeit Ammians Glaubwürdigkeit in Frage stellen. Nichtsdestotrotz, Ammian gibt uns hier einen einzigartigen Einblick in die Verhältnisse der Spätantike. In Bezug auf Roms Beziehung zum Perserreich stößt man bei Ammian auf eine Fülle an Informationen, die er uns überliefert. Was uns Ammian über die Beziehungen zum Perserreich berichtet, so sind diese alles andere als rosig. Des Weiteren sind seine Berichte sehr wertvoll, da er selbst als römischer Soldat im Konflikt mit den Persern dabei war. Konflikte mit den Persern gab es in der römischen Geschichte schon immer. Angefangen bei der Schlacht bei Carrhae, die für die späte römische Republik in einer Katastrophe endete. Dann das Zurückholen der Feldzeichen unter Augustus. Schließlich der letzte große Konflikt mit den Parthern unter Kaiser Septimius Severus und endlich die Annektion Armeniens und Mesopotamiens unter Kaiser Diocletian. Den Ausgangspunkt von Ammians Berichten zu den Beziehungen zwischen beiden Mächten findet man unter Kaiser Constantius II. Diese Beziehungen werden nach der Chronologie der römischen Kai- 30 ser fortgeführt, bis schließlich die Armenienfrage unter Kaiser Valens wieder offensteht. Q2 Ammianus Marcellinus: Geographie des Partherreiches Buch XXIII,6,41–44 „[…] In der Nähe nach Norden zu, leben die Parther. Sie bewohnen schneereiche und kalte Länder, deren Gebiete der Choatres durchschneidet, der wasserreichste Fluss im Verhältnis zu den übrigen. Die wichtigsten Städte sind folgende: Oenunia, Moesia, Charax, Apamea, Artacana und Hekatompylos, von dessen Gebiet am Gestade des Kaspischen Meeres entlang bis zum Engpass der Kaspischen Tore man 1040 Stadien zählt. Dort sind die Bewohner der Gaue alle wild und kriegerisch, und sie haben eine solche Freude an Kämpfen und Kriegen, dass der allein von allen anderen für glücklich gilt, der in der Schlacht seine Seele ausgehaucht hat. Wer eines natürlichen Todes stirbt, den bedrängen sie mit Schmähungen und als entartet und feige. […]“ [Marcellinus, Ammianus: Römische Geschichte, lateinisch und deutsch mit einem Kommentar versehen von Wolfgang Seyfarth, dritter Teil, Bücher 22–25, Akademie-Verlag, Berlin 1970] Erwartungshorizont Ammian beschreibt die Region der Parther als schneereich und kalt. Der Choatres ist der heutige Adschi-Su (Bitterwasser). Die folgenden Städte, die Ammian benennt, sind heute fassbar: Charax, das an der medischen Küste Rhagiane lag, Apamea mit dem Beinamen Rhagiane, das in der persischen Landschaft Choarene oder Choara existierte und Artacana, das im südlichen Teil Persiens lag. Die Kaspischen Tore (Kaspische Pforte) sind ein 14 Kilometer langer Engpass in den Kaspischen Gebirgen am gleichnamigen Meer, der Medien, Parthien und Hyrkanien trennte und den die Perser mit eisernen Toren verschlossen. Q3 Strabon – Aufteilung des Perserreiches (15,3,1) „Nach Karmanien folgt Persis, weit ausgedehnt schon an der Küste des von ihm benannten Busens, viel grösser aber im Mittenlande, und vorzüglich in seiner Länge von Süden nach Karmanien gegen Norden und die Völker Mediens. Es ist aber dreifach sowohl nach natürlicher Beschaffenheit als nach Mischung der Luft. Die Küste nämlich ist […] heiss und […] sandig und arm an Früchten […] ausser Palmen; sie wird auf etwa viertausend und vierhundert oder dreihundert Stadien geschätzt, und endet am grössten Flusse dieser Gegend, […] welcher Oroatis heisst.Die überliegende Landfläche ist allergiebig und eben, die beste Nährerin des Zuchtviehes, und mit Flüssen und Seen gefüllt. Der dritte theil gegen Norden ist kalt und gebirgig, und an den Enden wohnen die Kamelhirten. Die Länge beträgt […] gegen Norden und bis 31 […] Medien etwa achttausend Stadien, von einigen vorlaufenden Landspitzen (aber wohl neuntausend); das Uebrige bis zu den Kaspischen Pforten nicht mehr als dreitausend. Die Breite im Mittenlande ist von Susa bis […] Persepolis viertausend zweihundert, von dort zu den Grenzen Karmaniens noch tausend sechshundert. Völkerstämme, welche dieses Land bewohnen, sind die so genannten Pateischorer; die Achaimeniden und die Mager, diese zugleich Eiferer eines heiligen Wandels; dann die räuberischen […] Kyrtier und […] Marder, und einige Feldbau treibende.“ [Strabo‘s Erdbeschreibung. Übersetzt und durch Anmerkungen erläutert von Albert Forbiger (= Langenscheidtsche Bibliothek sämtlicher griechischen und römischen Klassiker in neueren deutschen Musterübersetzungen), Berlin und Stuttgart 1855–1911] Erwartungshorizont Strabon teilt das Persische Reich in drei Gebiete auf, die er anschließend klimatisch und geographisch beschreibt. Das erste Gebiet Persiens liegt an der Küste des Persischen Golfes, ist trocken, heiß und soll arm an Früchten sein. Dieser Teil erstreckt sich bis zum Fluss Oroatis. Der Küstenabschnitt misst etwa 4400 bzw. 4300 Stadien, das entspricht in etwa 783 km, je nachdem, welcher Fuß von Strabon zugrunde gelegt wurde. Es folgt die geographische und klimatische Beschreibung des zweiten Teils, der sich über dem ersten Landstrich befindet. Laut Strabon soll er sehr fruchtbar und eben sein, genügend Weideflächen bieten und eine üppige Seen- und Flusslandschaft besitzen. Das dritte Gebiet Persiens liegt im Norden und soll kalt und gebirgig sein. Strabon bezieht sich auf die Längenangabe nach Eratosthenes, wohin sich der Norden von der Länge bis Medien etwa 9000 Stadien erstreckt. Das sind je nach Fußlänge etwa 1602 km. Strabon gibt den Abstand zwischen den Städten Persepolis und Susa an, wonach diese 4200 Stadien, also etwa 747 km auseinanderliegen. Zu dem antiken Schreiber selbst: Strabon aus Amaseia (Pontos) war griechischer Historiker, Geograf und Stoiker. Man vermutet sein Geburtsjahr in etwa 64 v. Chr. und sein Todesjahr zwischen 23 und 26 n. Chr. Sein Werk Geographika umfasst 17 Bücher, die uns fast vollständig erhalten geblieben sind. Teils berichtet er als Augenzeuge, teils zitiert er die ihm vorliegende Literatur. Das meiste hat er, wie er selbst behauptet, aus zweiter Hand. Eindrucksvoll in diesem Werk ist die Fülle von historischen, mythologischen, literarischen und naturkundlichen Details. Neben seiner Geographika verfasste er ein Geschichtswerk in 47 Büchern, das als Fortsetzung von Polybios’ Römischer Geschichte gedacht war. Seine Historika Hypomnemata ist, wie es scheint, verloren. Erhalten sind leider nur noch wenige Fragmente. 32 Q4 Strabon – Größe des Partherreiches (11,9,1 f.) „Parthien ist nicht groß, und entrichtete daher sowohl in den Persischen Zeiten, als auch nachher unter der langen Herrschaft der Macedonier mit den Hyrkanern gemeinschaftliche Steuern. Außer seiner Kleinheit ist es auch waldig, bergig und unergiebig, so dass deswegen die Könige ihre Heerhaufen eiligst hindurchziehen lassen, weil das Land sie nicht einmal auf kurze Zeit ernähren kann. Jetzt aber ist es vergrößert; denn auch Komisene und Chorene bilden jetzt Teile von Parthien, ingleichen auch fast alles Land bis an die Kaspischen Pforten, bis Rhagä und zu den Tapurern, welches früher zu Medien gehörte. Apamea und Heraklea sind zwei Städte in der Nähe von Rhagä. Von den Kaspischen Pforten bis Rhagä sind, wie Apollodorus sagt, 500 Stadien, bis Hekatompylos aber, dem Königssitze der Parther, 1260. Rhagä soll seinen Namen von den Erdbeben erhalten haben, durch welche, wie Posidonius berichtet, viele Städte und zweitausend Dörfer zerstört wurden. Die Tapurer aber sollen zwischen den Derbikern und Hyrkanern wohnen. Man erzählt von den Tapurern, dass es bei ihnen herkömmlich sei, die geheirateten Frauen anderen Männern zu überlassen, sobald sie von ihnen zwei oder drei Kinder erhalten haben; wie auch zu unsrer Zeit Cato nach einer alten Sitte der Römer dem Hortensius auf dessen Bitte die Marcia überließ. […]“ [Strabo‘s Erdbeschreibung. Übersetzt und durch Anmerkungen erläutert von Albert Forbiger (= Langenscheidtsche Bibliothek sämtlicher griechischen und römischen Klassiker in neueren deutschen Musterübersetzungen), Berlin und Stuttgart 1855–1911] Erwartungshorizont Strabon beschreibt zunächst Parthien als nicht groß. Man vermutet, dass die Steuern nur für einen Teil Hyrkaniens galten. Des Weiteren beschreibt er Parthien als „waldig, bergig und unergiebig“. Mit „unergiebig“ meint er, dass nicht genug Nahrung für die Heere, die dort durchzogen, vorhanden war. Zu Lebzeiten Strabons ist Parthien vergrößert durch die Landschaften Komisene und Chorene, die dem Parthischen Reich zugeschrieben wurden. Er schreibt sogar dem Parthischen Reich alles Land bis an die Kaspischen Pforten zu. Man findet die Ruinen der Stadt Rhagä südöstlich von Teheran, dem heutigen Rey. Zu erkennen ist auch, dass Strabon von seinem unmittelbaren Vorgänger Apollodorus Informationen schöpft. Hierbei handelt es sich um Apollodorus’ Kommentare zum Homerischen Schiffskatalog, woraus Strabon die Maße entnahm. De facto ist Rhagä an das altgriechische Wort „regnynai“ angelehnt, was so viel wie „zerreißen“ bedeutet. Strabon bedient sich einer zweiten Quelle, woraus er Informationen schöpft: Aus Posidonius’ Schrift Über den Okeanos und aus den Historiai gibt er uns Auskunft über die Zerstörung vieler Städte und zweitausender Dörfer. 33 Q5 Strabon – Beschreibung der östlichen Teile des Taurus (11,8,1) „Geht man vom Hyrkanischen Meere gegen Osten, so liegen rechts die bis zum Indischen Ozean reichenden Gebirge, welche die Hellenen Taurus nennen. Sie beginnen bei Pamphylien und Cilicien und ziehen sich, bald diesen, bald jenen Namen empfangend, von Westen her in einer ununterbrochenen Kette bis dorthin. An ihrer Nordseite wohnen zuerst die Gelen, Kadusier und Armader, wie schon oben bemerkt wurde, und ein Teil der Hyrkanier; dann, wenn man gegen Osten und nach dem Ochus hin fortschreitet, die Völkerschaften der Parther, Margianer, Arier und die Wüste, welche der Fluss Sarnius von Hyrkanien scheidet. Das von Armenien bis hierher reichende oder nur noch eine kleine Strecke übrig lassende Gebirge heißt Parachoathras. Vom Hyrkanischen Meere bis zu den Arien sind gegen 6000 Stadien. Dann folgt Baktriana und Sogdiana, zuletzt aber die skythischen Wanderhirten. Alle übrigen Berge von den Arien an nannten die Macedonier Kaukasus, bei den Barbaren aber (wurden die einzelnen Teile mit dem Namen Paropamisus, Emodus, Imaus und anderen dergleichen bezeichnet.) […]“ [Strabo‘s Erdbeschreibung. Übersetzt und durch Anmerkungen erläutert von Albert Forbiger (= Langenscheidtsche Bibliothek sämtlicher griechischen und römischen Klassiker in neueren deutschen Musterübersetzungen), Berlin und Stuttgart 1855–1911] Erwartungshorizont Bei der Beschreibung des Taurusgebirges benennt Strabon auch das Parthische Volk, das gegen Osten und nach dem Fluss Ochus anzutreffen war. Der Fluss Sarnius ist wahrscheinlich der heutige Atrek oder der Gurgan. Die ausgeklammerte Stelle soll sowohl in der Handschrift, als auch in der Ausgabe so verunstaltet sein, sodass der Übersetzer nur noch erraten konnte, was Strabon wirklich geschrieben hatte. Der Übersetzer versichert aber, dass die parenthetische Stelle sinngemäß dem entspräche, was Strabon geschrieben hatte. Anmerkung zur Arbeit mit den fachwissenschaftlichen Texten Die Aufgabenteile zu den Quellen und zu den fachwissenschaftlichen Texten sind bewusst getrennt worden, da sie unterschiedliche Funktionen haben. Die fachwissenschaftlichen Texte verhelfen den Schülern zu einem Überblick über die Geographie des Partherreiches aus der Sicht der modernen Altertumsforschung; die Quellen haben ihren eigenen Wert. Falls eine gemeinsame Bearbeitung der Aufgabenteile erfolgen soll, erhält der Schüler die Möglichkeit, die fachwissenschaftlichen Texte zusammen mit den antiken Quellen unter Nutzung von Operatoren zu bearbeiten. Ein naheliegendes Beispiel wäre der Vergleich von Strabons Quellen und Jan Willem Drijvers’ Artikel zu Strabons Beschreibung des Partherreiches. Wie im Aufgabenteil 34 zu den Quellen, so sind auch hier die Aufgaben nach ansteigender Schwierigkeit und den drei Aufgabenbereichen unterteilt. A1 Gebt den Inhalt der fachwissenschaftlichen Texte mit eigenen Worten wieder. Zeigt die Orte auf dem bereitliegenden Kartenmaterial, die die Autoren benennen. A2 Beschreibt die dargestellten Landschaften. Charakterisiert die Äußerungen Drijvers’ über den historischen Geographen Strabon. A3 Vergleicht die geographischen Aussagen der Fachwissenschaftler mit den Aussagen der antiken Geschichtsschreiber. Q6 Großlandschaften [Inhalt aufgrund unklarer Rechteverhältnisse entfernt. Referenz: Sommer, Michael: Der Römische Orient. Zwischen Mittelmeer und Tigris, Darmstadt 2006, S. 21 ff.] Q7 Jan Willem Drijvers: „The geography of Parthia“, in: „Strabo on Parthia and the Parthians“ “[…] Strabo distinguishes between Parthia as a geographical area, coinciding with the Achaemenid and Seleucid satrapy, and Parthia as an empire. The former is the heartland of the Parthians in north-east modern Iran. Here Parthian history began and from here the Parthian territory gradually expanded; eventually an empire was created. Strabo is vague about the exact location of the heartland of Parthia, its dimension and its boundaries. He remarks that Parthia was not large (11.9.1, 514C) and that greater Media was bounded on the east by Parthia (11.13.6, 524C). He also mentions that the Parthians were situated towards the west of Bactriana, next to the Arii (15.2.9, 724C), that they lived in the northerly parts of Taurus (11.8.1, 510C) and that Carmania has a desert which bordered on Parthia (15.2.14, 726C). To the north – between the (Arpanian) Dahae, and Hyrcania and Parthia as far as Arii – was another great and waterless desert (11.8.3, 511C). In addition to its smallness, Parthia was thickly wooded, mountainous and poverty-stricken. Because of this the kings travelled through it in haste since the country was unable to support them and their trains even for a short period (11.9.1, 514C). It is not evident to which kings Strabo refers here. Probably he means the Achaemenid or Seleucid kings, since he has just mentioned that Parthia paid tribute in Persian times and afterwards when the Macedonians were masters. This is all Strabo has to say about the geography of Parthia. Modern readers would have preferred some more exact and coherent data and one may wonder whether 35 Strabo’s readers, the politikoi, found this information useful and understandable. Nevertheless, some valuable conclusions may be drawn from this description. First, geographical knowledge concerning Parthia, as well as other regions in the East, left much to be desired in the time of Strabo. This is in spite of the fact that as a consequence of Roman and Parthian expansion knowledge had increased, as Strabo himself indicated. Strabo’s sources, Apollodorus of Artemita and others, apparently let him down, and did not enable him to extract from their works a clear impression of the geographical situation of Parthia. Furthermore, the Roman contact with the Parthians in the first century B.C.E. do not seem to have added to the geographical knowledge of the regions beyond the Euphrates and especially not of those farther to the east. It is not without reason that Augustus commissioned Isidorus/Dionysius of Charax to gather relevant information in the east when Gaius Caesar was about to set out for his oriental mission. Secondly, in the Geography there is a clear connection between the natural circumstances in which people live and the level of civilization. Strabo’s standard in this respect is based on the countries of the Mediterranean, especially Italy. These were civilized countries because they had plenty of arable and fertile land brought into culture by man, had good pastures, were fit for human habitation and were easily accessible. Such was the natural habitat of civilized man. In describing Parthia as mountainous, thickly wooded and poverty-stricken, Strabo gives a value judgment: this is a country where non-civilized people live. […]” [Drijvers, Jan Willem: “Strabo on Parthia and the Parthians”, in: Wiesehöfer, Josef [Hrsg.]: Das Partherreich und seine Zeugnisse. Beiträge des internationalen Colloquiums, Eutin (27.–30. Juni 1996), Stuttgart 1998, S. 282 f.] Q8 Jan Willem Drijvers: Auszug aus „Ammianus’ Image of Arsaces and Parthia“ [Inhalt aufgrund unklarer Rechteverhältnisse entfernt. Referenz: Drijvers, Jan Willem/Hunt, David (Hrsg.): The Late Roman World and ist historian: interpreting Ammianus Marcellinus, London/New York 1999, S. 193–206] 3.3 Kartenmaterial Das bereitgestellte Material gibt den Schülern die Möglichkeit, einen visuellen Eindruck des Partherreiches zu bekommen. Die Kartenauswertung kann in zwei Arbeitsphasen erfolgen. In der ersten Phase erfolgen das Wahrnehmen und das Lesen der Karten. In der zweiten Phase können dann die Kartenanalyse bzw. die Karteninterpretation erfolgen. Die zur Verfügung stehenden Karten haben für die Schüler aus mehreren Gründen wichtige Funktionen: Die Karten dienen der inhaltlichen und räumlichen Visualisierung der vorliegenden Textinformationen. Des Weiteren ergänzen und erweitern sie die inhaltlichen und territorialen Informationen der Texte. Der Schüler wird explizit in den Aufgabenstellungen darauf hingewiesen, zusammen mit dem Kartenmaterial die Aufgaben zu bearbeiten. 36 K1 Vorderasien um 64 v. Chr. K2 Vorderasien unter den Flaviern (ca. 80 n. Chr.) K3 Der Partherkrieg Trajans (114–117 n. Chr.) K4 Vorderasien um 166 n. Chr. K5 Vorderasien zur Zeit des Todes von Septimius Severus (211 n. Chr.) K6 Vorderasien um die Mitte des 3. Jahrhunderts K7 Vorderasien nach dem römisch-persischen Frieden von 298 n. Chr. [K 1–K 7 aufgrund unklarer Rechteverhältnisse entfernt. Referenz: Sommer, Michael: Der römische Orient. Zwischen Mittelmeer und Tigris, hrsg. von der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft, Darmstadt 2006, S. 51, 60, 76, 78, 80, 84, 91] K8 Geographische Barrieren der Kaukasusregion [Schottky, Martin: Parther, Meder und Hyrkanier. Eine Untersuchung der dynastischen und geografischen Verflechtungen im Iran des 1. Jh. n. Chr., hrsg. vom Deutschen Archäologischen Institut Abteilung Teheran, Berlin 1991, S. 124] 37 4 BAUSTEIN III – VERÄNDERUNG DER PARTHER-WAHRNEHMUNG BEI DEN RÖMERN IM LAUFE DER JAHRHUNDERTE 4.1 Sachinformationen Der Kurs sollte in vier Gruppen eingeteilt werden, die unterschiedliche Aspekte des Themas erarbeiten. Während es in den ersten drei Gruppen hauptsächlich um die Akkumulation von Fachwissen geht, womit das Partherreich bezüglich geographischer Ausdehnung, Militär, Herrschaftsstruktur und Sitten charakterisiert werden kann, soll in der vierten Gruppe die externe Sicht der damaligen römischen Weltmacht auf den Konkurrenten im Osten thematisiert werden. Ziel dieser Gruppe ist es, die gewissermaßen romanozentrische Geschichtswahrnehmung der Gegenwart vorsichtig zu korrigieren und in eine neue Richtung zu lenken. Letztendlich soll den Schülern bewusst werden, dass die Römer keinesfalls bis zum Untergang ihres Reiches derart militärisch unangefochten und einzigartig in ihrer Vormachtstellung sowie ihrer staatlichen Organisationsstufe waren, wie weithin angenommen. Die Erkenntnis, dass der römische Expansionswille in Richtung des Partherreiches nicht aufgrund einer Entscheidung des Senats oder später des Imperators versiegte, sondern hauptsächlich durch sich beständig wiederholende militärische Niederlagen bedingt war, sollte die Illusion einer römischen Allmacht, die nur durch innere Konflikte und Fehler aufgehalten wurde, zerstören. Als Konsequenz daraus wird es den interessierten Schülern zu denken geben, wenn ein Schreiber der Zeit von den beiden größten Imperien unter der Sonne32 spricht, ohne dem römischen oder parthischen Reich einen Vorrang einräumen zu wollen. Ebenfalls bedeutsam erscheint, dass z. B. die Parther sich durchaus stark genug fühlten, in innere Angelegenheiten des Römischen Reiches einzugreifen.33 Die starke Veränderung der römischen Wahrnehmung des östlichen Nachbarn kann mittels der hier aufgeführten Quellen nachgezeichnet werden. Beginnend mit Cicero, der das Parthische Reich oder Volk gar nicht erst erwähnt, über den besagten Josephus, welcher die Imperien nahezu gleichstellt, oder Tacitus, der die Parther als Hilfsvolk bezeichnet, bis hin zu Fronto, welcher das Partherreich als einzigen wahren Gegner der Römer bezeichnet.34 In diesem Zusammenhang ist es daher lohnenswert, gleichfalls Hintergrundinformationen zu den verschiedenen Schreibern zu nutzen, wie es in den Aufgaben auch vorgeschlagen werden wird, um die erheblichen Diskrepanzen der Quellenaussagen begründen zu können. Die Quellen selbst sind demzufolge für diese Gruppe auch die Hauptmaterialien, Haupthilfsmittel und bilden die Argumenta- 32 Vgl. Josephus XVIII (39–42). Vgl. Trogus XLII (4). 34 Vgl. Fronto, historiae principiae, 6/7. 33 38 tionsgrundlage in der Präsentation der Ergebnisse und der sich möglicherweise anschließenden Diskussion. 4.2 Aufgaben, Materialien, Erwartungshorizont A1 Beschreibt die Wandlung des Partherbildes bei den Römern. Konzentriert euch dabei auf den Umgang der Römer mit den Parthern und belegt dies am Text. Nennt auch fehlende bzw. vorenthaltene Informationen. A2 Erläutert die möglichen Ursachen für die Veränderungen des Verhaltens und der Wahrnehmung innerhalb des Römischen Reiches gegenüber den Parthern. A3 Äußert euch zu Besonderheiten in den Beziehungen zwischen beiden Reichen. A4 Recherchiert vergleichbare „zwischenstaatliche“ Beziehungen der Römer zu anderen Reichen. A5 Sammelt Hintergrundinformationen zu den Schreibern und vergleicht die Quellen hinsichtlich ihrer Diktion und der zu vermutenden Darstellungsabsichten. Bewertet mögliche Einflüsse wie Herkunft des Verfassers und Zeitpunkt der Quellenentstehung. Anmerkung: Die Aufgaben sind, entsprechend ihrer Nummerierung, mit aufsteigendem Schwierigkeitsgrad versehen. So kann die erste Aufgabe aufgrund des reinen Abfragens von Tatsachen, die in den Quellen enthalten sind, dem Anforderungsbereich I zugeordnet werden. Die Aufgaben zwei bis vier wiederum können dem Anforderungsbereich II zugeordnet werden. Das aus den Quellen extrahierte Wissen muss nun angewendet werden, um die verschiedenen Aussagen der Texte miteinander vergleichen und deren Ursachen erläutern zu können. Die Fragen drei und vier wiederum fordern von den Schülern, dass sie ihr neu erlangtes Wissen über die Beziehungen zwischen Parthern und Römern mit den bisherigen erlernten Fakten der römischen Außenpolitik vergleichen. Am komplexesten erscheint daher die letzte Aufgabe, da sie von den Schülern zunächst einmal verlangt, eigenständige Recherchen zu den verschiedenen Schreibern zu betreiben, auf deren Basis sie dann schließlich eine Quellenkritik formulieren können. Mit Hilfe dieser Informationen ist es ihnen auch erst möglich, begründet über die verschiedenen Texte zu urteilen bzw. bestimmte Schlussfolgerungen zu ziehen, mit denen sie innerhalb der Diskussion bzw. Präsentation der Ergebnisse die mitunter starken Diskrepanzen zwischen den verschiedenen Aussagen der Autoren erklären können. 39 Die Arbeitsaufträge können vom Niveau her selbstverständlich stark vereinfacht werden, damit das Thema auch in niedrigeren Klassenstufen bearbeitbar ist. So könnten die Schüler im Rahmen der fünften Aufgabe bereits vorgefertigtes Material erhalten; zu den hier aufgeführten Schreibern existieren eine Vielzahl an frei zugänglichen Informationen, sowohl digitaler als auch lexikalischer Natur. Die dritte und vierte Aufgabe verliert viel von ihrer Schwierigkeit, sobald man z. B. in tabellarischer Form das bisher Bekannte zur römischen Außenpolitik festhält und diese dann den Äußerungen zu den Parthern gegenüberstellt. Weiterhin ist die Auseinandersetzung mit den verschiedenen Autoren wesentlich einfacher, sobald die englischsprachigen Texte in deutscher Sprache präsent sind oder aber gar nicht erst in ihrer vorliegenden Form genutzt werden. Quellen Die hier aufgeführten Quellen sind verschiedenen Schreibern und Werken zugeordnet, die vor den jeweiligen Texten genannt werden. Im Anschluss an die Schriften folgen dann die Hinweise zum Erwartungshorizont. Diese sind in Hinsicht auf die Aufgaben A 1 und A 2 formuliert. Hinweise und Vorschläge zu den anderen drei Aufgaben folgen im Anschluss. Die Kapitel- und Zeilenangaben folgen den Angaben der genutzten Quelleneditionen bzw. -übersetzungen, d. h. Josephus XVIII (39–42) bedeutet demzufolge, dass die Quelle dem Buch 18, Kapitel 39–42 entnommen ist. Die Rechtschreibung ist ebenfalls übernommen, Auslassungen sind, wie üblich, mit [...] markiert. Q1 Trogus (ca. 60 v. Chr.–10 n. Chr.)/Iustin (2. Jh. n. Chr.) 42. Buch (2) „[...] Aber da wir nun einmal den Übergang nach Armenien gemacht haben, so muss dessen Ursprung ein wenig breiter nachgetragen werden. Denn es wäre ja nicht recht, ein so ansehnliches Reich mit Stillschweigen zu übergehen, da seine Grenzen, abgesehen vom Partherland, die Größe aller anderen Königtümer übertreffen, indem nämlich Armenien von Kappadokien bis zum Kaspischen Meer sich elfmal hundert Meilen erstreckt und auch in der Breite siebenhundert Meilen weit ausdehnt. [...] (4) Mithridates also, der Partherkönig, wurde nach seinem armenischen Krieg wegen seiner Grausamkeit vom parthischen Senat aus seinem Königtum gejagt. Sein Bruder Orodes nimmt den leerstehenden Thron in Besitz und belagert dann Babylonien, wohin Mithridates geflohen war, so lange, bis die Einwohner vom Hunger bezwungen wurden und er sie so nötigte, sich ihm zu ergeben. Mithridates selbst aber gab im Vertrauen auf ihre Blutsverwandtschaft sich freiwillig in die Hand des Orodes. Aber Orodes, welcher mehr den Feind als den Bruder im Sinn hatte, ließ ihn vor seinen 40 Augen zusammenhauen. Danach führte er Krieg mit den Römern und vernichtete dabei den Feldherrn Crassus samt seinem Sohn und dem gesamten Römerheer. Sein Sohn Pakoros, ausgeschickt, um die Reste des römischen Krieges zu verfolgen, vollbrachte in Syrien große Dinge, geriet aber bei seinem Vater in Verdacht und wurde zurückbeordert, und in seiner Abwesenheit wird das in Syrien zurückgelassene Heer von Cassius, dem Quästor des Crassus, mit allen Anführern erschlagen. Nachdem dies so geschehen war, bricht nach nicht langer Zeit bei den Römern zwischen Caesar und Pompeius der Bürgerkrieg aus, bei welchem die Parther auf Seiten der Pompeianerpartei standen, und zwar sowohl wegen des Freundschaftsbundes, den sie im Mithridatischen Krieg mit Pompeius geschlossen hatten, als auch wegen des Todes des Crassus, dessen Sohn, wie sie gehört hatten, auf der Seite der Partei Caesars stehe, und da hatten sie keinen Zweifel, dass dieser im Falle eines Sieges Caesars zum Rächer seines Vaters werden wolle. Deshalb schicken sie auch nach der Niederlage der Pompejanerpartei dem Cassius und Brutus Hilfstruppen gegen Augustus und Antonius, und nach Kriegsende schlossen sie wiederum unter Anführung des Pakoros mit Labienus ein Bündnis, verwüsteten Syrien und Asien und griffen das Lager des Ventidius, welcher nach Cassius in Abwesenheit des Pakoros das Partherheer geschlagen hatte, mit großer Macht an. [...] Aber das Unglück des Partherlandes, in dem es so eine Art feste Spielregel ist, dass es Vatermörder zu Königen habe, ließ es dahin kommen, dass der allergrößte Schurke, wiederum mit Namen Phrahates, zum König ausersehen wurde. (5) Der jedoch brachte sogleich seinen Vater [Orodes], so als wolle der durchaus nicht von alleine sterben, ums Leben, ermordete auch seine sämtlichen dreißig Brüder. Aber auch vor seinen eigenen Söhnen machte seine Mordgier nicht Halt. Denn als er einsehen musste, dass die ganze Oberschicht wegen seiner ständigen Untaten gegen ihn war, befahl er, damit keiner da sei, der zum König ausgerufen werden könnte, seinen gerade erwachsenen Sohn zu töten. Gegen diesen Phrahates nun zog Antonius wegen der gegen ihn und Caesar entsandten Hilfstruppen mit sechzehn kriegsstarken Legionen zu Felde, kam aber dabei in einer ganzen Anzahl von Treffen in arge Bedrängnis und verließ das Partherland wieder fluchtartig.“ [Trogus, Pompeius: Weltgeschichte von den Anfängen bis Augustus. Im Auszug des Justin, Zürich/München 1972] Erwartungshorizont Der erste kurze Abschnitt geht nur in einem Nebensatz auf das parthische Reich ein, bezeichnet es aber gleichzeitig als größtes aller Königreiche. Relevant könnte in diesem Zusammenhang die Tatsache sein, dass sich die parthisch-römischen Auseinandersetzungen zumeist auf armenischem bzw. mesopotamischem Boden zutrugen und auch gerade die Frage nach der Herrschaft bzw. dem Regenten, der sie ausüb41 te, oftmals Grund für diese Konflikte war. Gleichsam ist dieses Volk nach Ansicht des Schreibers als militärischer Gegner zu fürchten, wie der vollständige Sieg über Crassus zeigt. Selbst in römischen Provinzen würden parthische Truppen schweres Unheil anrichten. Das Selbstbewusstsein und die Stärke dieses Reiches gingen sogar soweit, dass es sich in innere Angelegenheiten des Römischen Reiches, hier den Bürgerkrieg zwischen Caesar und Pompeius, einmischte. All diese Punkte sind Belege für die militärische Macht des östlichen Nachbarn. Der im Anschluss folgende Hinweis auf das „Unglück des Partherlandes“, womit die beständigen Konflikte um den Thron unter den näheren Verwandten, oftmals Vater und Sohn oder zwischen Brüdern, gemeint sind, könnten durchaus als Beleg für die Ruchlosigkeit und Entschlossenheit der Parther gelten. Gegen einen solchen grausamen Gegner, der selbst seine nächsten Verwandten nicht schont, führt sicherlich kein Feldherr gerne Krieg. Obgleich mit Antonius ein sehr erfahrener Feldherr mit einer großen Zahl von Legionen gegen die Parther zog, waren auch ihm militärische Erfolge nicht vergönnt. Das Problem der Charakterisierung von Trogus liegt in der Überlieferung des Iustin: Vom originalen Werk sind nur Fragmente überliefert, die allerdings den Schluss zulassen, dass Trogus als römischer Geschichtsschreiber eher an einer faktologischen Darstellung interessiert ist, wie die kurzen Abhandlungen über die Feldzüge, Siege und Niederlagen der Römer und Parther zeigen, als an einer ausufernden romanozentrischen Darstellung der Geschehnisse. Die schiere militärische Potenz der Parther wird daher ebenso (positiv?) herausgehoben, wie der im Kontrast dazu stehende barbarische Umgang der Herrscher mit ihren nahen Verwandten. Besonders deutlich wird dies in dem Kommentar zum Mord an Orodes. Dieser verdeutlicht noch einmal, wie unnötig und grausam es in den Augen des Schreibers gewesen sei, den alten und bereits freiwillig zurückgetretenen König zu töten. Auffällig ist, dass Trogus/Iustin auch nur zu diesen Vorgängen eine eigene Wertung abgibt. Q2 Flavius Josephus (ca. 37–100), 18. Buch, 2. Kapitel (39–52) [Inhalt aufgrund unklarer Rechteverhältnisse entfernt. Referenz: Josephus, Flavius: Jüdische Antiquitäten, nach der Ausgabe Halle an der Saale 1899, Wiesbaden 2004, S. 875 f.] Erwartungshorizont Die Entsendung einer offensichtlich sehr schönen italienischen Sklavin an den parthischen Königshof kann entweder als Versuch gedeutet werden, das Wohlwollen des Großkönigs zu gewinnen oder zumindest als Symbol der diplomatischen Anerkennung des Herrschers. Gleichzeitig weist die hier erzählte Geschichte auf eine charakterliche Schwäche des Königs hin, welcher der hier genannten Frau verfällt und seine gesamten Thronfolger in den Gewahrsam der Römer übergibt. Diese Handlungsweise muss auch zu damaliger Zeit einige Verwunderung verursacht ha42 ben und kann ohne weiteres als Schwächung des Partherreiches verstanden werden. Diese wird besonders sichtbar, als die Parther aufgrund des Fehlens legitimer Nachfolger aus Rom einen neuen König erbitten müssen und ihn zwar erhalten, aufgrund ihrer, wie Josephus hier schreibt, Wankelmütigkeit indes schnell wieder absetzen. Hervorzuheben ist in diesem Zusammenhang die Bezeichnung beider Imperien als „the two greatest empires under the sun“, in welcher keinem der beiden Reiche eine Vorrangstellung eingeräumt wird. Weiterhin erreichen die Barbaren, dass der von ihnen geflohene ehemalige König in Schutzhaft genommen wird und sie ihre Interessen im umkämpften Armenien zumindest temporär durchsetzen können. Ein weiterer Hinweis auf ihre den Römern mehr als ebenbürtige militärische Schlagkraft. Die Einzigartigkeit des Schreibers Josephus liegt in seiner Herkunft bzw. vielmehr in seiner Religion begründet. Als Jude hatte er sein Werk eigentlich auch auf den großen Jüdischen Krieg ausgerichtet, weniger auf das politische Handeln des Römischen Reiches. Daher fühlt er sich in seiner Darstellung auch keinem der beiden Imperien verpflichtet, was zu einer recht neutralen Gegenüberstellung und auch Abwägung der Macht führt mit dem genannten Ergebnis einer im Vergleich zu anderen Darstellungen objektiveren Berichterstattung. Q3 Tacitus – (ca. 55–nach 116), Annalen II (16) „Unter dem Konsulat von Sisenna Statilius Taurus und L. Libo gerieten die Königreiche und römischen Provinzen des Ostens in Unruhe; sie nahm ihren Ausgang bei den Parthern, die den von Rom erbetenen und empfangenen König, wenngleich er aus dem Geschlecht der Arsakiden stammte, als Ausländer ablehnten. Dies war Vonones, der dem Augustus von Phraates als Geisel gestellt worden war. Denn Phraates hatte, obwohl er römische Heere und Heerführer zurückgeschlagen hatte, dem Augustus alle Ehrenbezeigungen erwiesen und ihm einen Teil seiner Nachkommenschaft zur Festigung der Freundschaft geschickt, nicht so sehr aus Furcht vor uns als aus Misstrauen gegen die Treue seiner Landsleute. Nach dem Ende des Phraates und der folgenden Könige kamen wegen der blutigen inneren Wirren Gesandte von den parthischen Häuptlingen nach Rom, die Vonones, den ältesten Sohn des Phraates, heimholen sollten. Für eine große persönliche Ehrung hielt dies der Kaiser und stattete ihn reichlich aus; und die Barbaren nahmen ihn voll Freude auf, wie das meist zu Beginn einer neuen Herrschaft ist. Bald aber regte sich ihr Ehrgefühl: Entartet seien die Parther; erbeten habe man aus einem anderen Erdteil einen König, der von der Feinde Gewohnheiten angesteckt sei; schon werde der Thron der Arsakiden wie eine von den römischen Provinzen behandelt und vergeben. Wo bleibe jener Ruhm der Männer, die Crassus niedermachten, Antonius davonjagten, wenn ein Sklave des Kaisers, der so viele Jahre die Knechtschaft erduldet habe, über die Parther gebieten dürfe? [...] Als aber Artabanos drohte und zu wenig Schutz bei den Armeniern zu erwarten oder, wenn man ihn mit unserer Macht stützen wollte, ein Krieg gegen die Parther in Kauf 43 zu nehmen war, beschied ihn [Vonones] der Statthalter Syriens, Creticus Silanus, zu sich und stellt ihn unter Bewachung, wobei ihm Prunk und Titel eines Königs verblieben. Wie Vonones diesem üblen Spiel zu entrinnen bemüht war, werden wir am gegebenen Ort berichten. [...] (58) Inzwischen trafen vom Partherkönig Artabanos Gesandte ein. Er hatte sie geschickt, damit sie an das Freundschaftsbündnis erinnern und ausrichten sollten, er wünsche den Vertrag zu erneuern und werde dem Germanicus zu Ehren an das Ufer des Euphrat kommen; einstweilen bitte er, Vonones nicht in Syrien zu belassen und die Stammeshäuptlinge nicht aus der Nähe durch Botschaften zur Aufsässigkeit zu verleiten. Darauf antwortete Germanicus hinsichtlich des Bündnisses zwischen Römern und Parthern hoheitsvoll, bezüglich der Anreise des Königs und der ihm persönlich zugedachten Ehrung mit Würde und Zurückhaltung. Vonones wurde nach Pompeiopolis, einer Seestadt Kilikiens, verbracht. XV (14) Daraufhin wurden von Paetus Boten geschickt und eine Unterredung mit dem König erbeten, der Vasakes, den Befehlshaber der Reiterei, hingehen ließ. Da erinnerte nun Paetus an Männer wie Lucullus und Pompeius und all die Mühe, die die Kaiser etwa drauf verwendet hatten, sich in Armenien festzusetzen oder es zu vergeben; Vasakes entgegnet, nur zum Schein liege die Möglichkeit, das Land zu behalten oder herzuschenken, bei uns, die tatsächliche Macht hielten die Parther in den Händen. Und nachdem man lange hin und her verhandelt hatte, wurde der Adiabener Monobarzos für den folgenden Tag als Zeuge für die Vereinbarungen bestellt. Man beschloss, dass die Belagerung der Legionen aufgehoben wird, alle Soldaten das Gebiet der Armenier verlassen und die Kastelle und Vorräte den Parthern übergeben werden sollten; nach dem Vollzug dieser Vereinbarungen solle Vologaeses die Möglichkeit erhalten, an Nero Gesandte zu schicken.“ [Tacitus, Cornelius P.: Annalen, Düsseldorf 2005] Erwartungshorizont II (16): Bei Tacitus ist die Entsendung der Geiseln eine Freundschaftsbezeugung des Phraates an Augustus. Klar herausgestellt wird erneut, dass die Motivation dieser Handlung nicht durch Furcht gegenüber den Römern, sondern durch Misstrauen gegenüber den eigenen Landsleuten motiviert war. Von der Rolle der Thesmusa liest man allerdings nichts. Die Bitte der Parther nach einem König wiederum wird als große Ehre für Augustus interpretiert. Die Herausstellung der Unabhängigkeit von Rom, die schlussendliche Weigerung der Parther, einen römischen Höfling als ihren König zu akzeptieren, sowie der erneute Verweis auf die Siege über Crassus und Antonius machten die Autonomie der Parther einmal mehr deutlich. II (58): Die Erinnerung an das Freundschaftsbündnis, welches geschlossen worden war, und auch das Gefühl der Ehrung, das Germanicus laut Quelle offensichtlich 44 empfand, zeugen von einer Wertschätzung und Respektierung des Partherkönigs. Gleichzeitig wird der parthischen Forderung ohne wirkliche Gegenleistung – das Verhindern eines bewaffneten Konfliktes scheint eher im Interesse der Römer gelegen zu haben – entsprochen: Vonones wird aus Syrien entfernt. XV (14): Im hier indirekt wiedergegebenen Dialog wird die fehlende römische Herrschaftsausübung in Armenien offen angesprochen. Als Ergebnis ziehen sich die römischen Truppen zurück, was als Eingeständnis der militärischen Unterlegenheit gewertet werden kann. Hiermit wird ein Gebiet geräumt, auf welches das Römische Kaiserreich einen Anspruch formuliert hatte: ein erneutes unfreiwilliges Stoppen der Expansion des Imperiums. Q4 Tacitus – Historien IV (51) „Um auf etwas anderes zu kommen: Nach der Schlacht von Cremona und dem Eintreffen mancher Freudenbotschaft aus aller Welt erhielt Vespasian durch viele, allen möglichen Ständen angehörige Personen, die sich mit ebensoviel Mut wie Glück auf das winterliche Meer gewagt hatten, die Nachricht, dass Vitellius tot sei. Es waren auch Gesandte des Königs Vologäsus gekommen, die 40.000 parthische Reiter anboten. Herrlich und erfreulich war es, sich von so vielen bundesgenössischen Hilfsvölkern umworben zu sehen, ohne ihrer eigentlich zu bedürfen. Man sagte dem Vologäsus Dank und hieß ihn, Gesandte an den Senat zu schicken, wo er zu wissen bekomme, dass kein Krieg mehr sei.“ [Tacitus, Cornelius P.: Historien, Zürich/München 1984] Erwartungshorizont In dieser Quelle ist ausnahmsweise nicht von Konflikten zwischen Römern und Parthern, sondern dem Entschluss der Parther, die Römer zu unterstützen, die Rede. Die Bezeichnung als Bundesgenossen oder gar Hilfsvolk sollte kritisch betrachtet werden, aber auch hier ist die schiere Größe des Unterstützungsangebots, immerhin 40.000 Soldaten, ein weiteres Indiz für die militärische Macht der Parther. Aufschlussreich erscheint in diesem Zusammenhang auch der Umgang mit dem Gesandten: Er erhält die Antwort nicht vom eigentlichen Adressaten, Vespasian, sondern wird an den Senat verwiesen. Aus dieser Quelle könnte man ein bundesgenössisches bzw. sogar klientelstaatliches Verhältnis zwischen Römern und Parthern ableiten. Tacitus lebte zu Zeiten der Herrschaft des Kaisers Hadrian, welcher die Provinzen, die sein Vorgänger Trajan erobert hatte (Armenien, Mesopotamien und Dalmatien), sofort wieder abtrat. Dieser passiven Haltung Hadrians stand Tacitus kritisch gegenüber. Aufgrund diverser Konflikte im Laufe der gut 200 Jahre war diesem Schreiber die Macht der Parther wohlbekannt. Seine Unterstützung des Anliegens Trajans, das 45 Großreich der Parther in seine Schranken zu weisen oder besser völlig zu unterwerfen, hebt einmal mehr die Sonderrolle des Königreiches in der Wahrnehmung der Römer hervor. Q5 Cicero (106 v. Chr.–43 v. Chr.): De domo sua (57 v. Chr.) (213/23) „Doch genug von Cato, dessen innerer Wert und ehrenhafte Gesinnung, dessen – bei dem Auftrag, den er auszuführen hatte – Pflichttreue und Uneigennützigkeit die Heimtücke deines Gesetzes und deiner Handlungsweise gewissermaßen ausgeglichen. Doch wie? Wer hat dem schändlichsten, skrupellosesten und verworfensten Menschen, seit es Menschen gibt [gemeint ist der Prokonsul Syriens, Gabinius], das reiche und fruchtbare Syrien und einen Krieg gegen die friedlichsten Völker, wer hat ihm Geld, das für den Ankauf von Land bestimmt war und den Eingeweiden der Staatskasse entrissen wurde, wer hat ihm eine unbegrenzte Befehlsgewalt zugestanden? [...] (233/60) Ich glaube auch nicht, dass der kampanische Konsul und sein tanzkundiger Kollege, nachdem du dem einen ganz Achaia, Thessalien, Böotien, Griechenland und Makedonien mitsamt allen unzivilisierten Gegenden sowie den Besitz der römischen Bürger geschenkt und dem anderen Syrien, Babylonien und Persien, ebenso blühende wie friedliche Gebiete, zum Plündern überlassen hattest, derart erpicht auf meine Türschwellen, Säulen und Portale gewesen sind.“ [Cicero, Marcus Tullius: Sämtliche Reden, Bd. V, Zürich/München 1978] Erwartungshorizont Relevant ist im Rahmen dieser Rede, welche natürlich keine außenpolitischen Intentionen verfolgt, sondern nur Argumente für die Diskreditierung der politischen Gegner Ciceros darlegen will, lediglich, dass Syrien und die angrenzenden Gebiete, also auch Persien, wiederholt als blühende Länder mit friedfertigen – und daher ungefährlichen – Völkern bezeichnet werden. Das Großkönigtum der Arsakiden und dessen Macht ist dementsprechend im Bewusstsein der Römer überhaupt nicht vorhanden, was drei Jahre vor dem Feldzug des Crassus, welcher für die Römer verheerend endete, durchaus überrascht. Schließlich bedeutet dies, dass sich der Feldherr auf den Kampf mit einem für ihn völlig unbekannten Feind einließ, ein Übermut, der nur mit dem nicht unbedingt laster- bzw. fehlerfreien Charakter des Feldherren Crassus erklärt werden kann. Als Gegenargument kann angeführt werden, dass Cicero als Politiker und Redner die Tatsachen gerne in seinem Sinne zurechtbog, allerdings darf bezweifelt werden, dass selbst er als Staatsmann Fakten, die wider das Allgemeinwissen des Römischen Volkes und des Senats waren, in öffentlichen Reden verwendet hatte. 46 Q6 Cassius Dio (155–235): IV. Buch 40 (25/3–26/4) „Denn entmutigt, wie er war, glaubt Crassus, nicht einmal in der Stadt mehr mit einer sicheren Bleibe rechnen zu dürfen, sondern dachte sogleich an Flucht. Und da er, ohne entdeckt zu werden, die Stadt bei Tage unmöglich verlassen konnte, so versuchte er, bei Nacht zu entweichen; indessen der Mond, der gerade in seinem vollen Glanze strahlte, verriet ihn, so dass seine Absicht bemerkt wurde. Daraufhin warteten die Römer die mondlosen Nächte ab und machten sich dann endlich auf den Weg. Doch, wie es bei Dunkelheit und in fremdem, dazu auch noch feindlichem Lande sowie unter dem Eindruck großer Angst zu geschehen pflegt, gerieten die Leute auseinander, und die einen wurden bei Tagesbeginn gefangen und getötet, während sich die anderen zusammen mit dem Quaestor Cassius Longinus nach Syrien retten konnten. Eine andere Gruppe, bei der Crassus selbst weilte, erreicht das Bergland und machte sich nun daran, durch dieses Gebiet nach Armenien zu entkommen. Davon hörte der Surenas und fürchtete nun, die Römer möchten irgendwohin ausbrechen und sie (die Parther) von neuem bekriegen. Doch da sie schwer bewaffnet waren, von höheren Punkten aus kämpfen konnten und in ihrer Verzweiflung selbst einen Anflug von Wahnsinn erwarten ließen, war es für den Parther nicht leicht, mit ihnen anzubinden. Darum wollte der parthische Feldherr sie auch nicht auf dem gebirgigen, für Pferde ungangbaren Gelände angreifen und schickte Unterhändler zu ihnen, um sie angeblich zu einem Abkommen zu gewinnen, wonach sie das Land östliche des Euphrats räumen sollten. Und Crassus schenkte ihm unbedenklich Glauben. Denn in höchster Angst, wie er war, und von Entsetzen über das eigene Unglück wie das des Staates gepackt, musste er auch noch sehen, dass die Soldaten vor dem ihrer Ansicht nach langen und rauhen Weg zurückschreckten und Orodes fürchteten, und fühlte sich außerstande, irgendwelche notwendige Vorkehrung zu treffen.“ [Dio, Cassius: Römische Geschichte, Bd. II, Bücher 36–43, Düsseldorf 2007] Erwartungshorizont Die Quelle dieses Schreibers geht so genau wie sonst keine andere auf die Schwere der Niederlage der römischen Legionen unter Crassus ein. Nicht nur, dass der Feldherr selbst sich in einer befestigten Stadt nicht mehr sicher fühlt und seine Soldaten ebenfalls den Feind fürchten; Crassus versucht vielmehr, im Schutze der Nacht vor dem Feind zu fliehen. Die weitere Beschreibung, dass die Parther ungern mit den Römern gekämpft hätten, da sie unter anderem dem Wahnsinn nahe schienen, lässt vom ursprünglich gepflegten Bild der siegreichen und nahezu unbesiegbaren römischen Legionen recht wenig übrig. Vor allem die Darstellung des Crassus als Feldherr, der in der größten Not und als ihn seine Soldaten eigentlich am meisten benöti47 gen, völlig versagt, sticht im Vergleich zu anderen Quellen stark heraus. Cassius Dio dürfte den Feldzug des Crassus als „bellum iniustum“ wahrgenommen haben, so ist die sehr negative Beschreibung von dessen Person zu erklären. Im 1./2. Jahrhundert n. Chr. lebend, war auch diesem Schreiber die Macht des östlichen Nachbarreiches wohlbekannt, was hier eher indirekt deutlich wird. Q7 Fronto (100–170): Historiae principiae (6/7) [Inhalt aufgrund unklarer Rechteverhältnisse entfernt. Referenz: Fronto, M. Cornelius: Epistulae. Schedis tam editis quam ineditis Edmundi Hauleri, usus iterum edidit, Leipzig 1988] Erwartungshorizont Die Aussage des Fronto stellt den Abschluss der hier aufgeführten Quellen dar und liefert auch die letzte und klarste Aussage bezüglich der Parther innerhalb der Gruppenarbeit. Neben den bereits bekannten Niederlagen von Crassus und Antonius weist Fronto nun darauf hin, dass auch der eigentlich sehr erfolgreiche Feldzug Kaiser Trajans gegen Ende keinesfalls gesicherte Eroberungen oder Ergebnisse aufweisen konnte. Nach mehr als 200 Jahren mit immer wieder aufflackernden Konflikten verbleiben nur noch die Parther als ernst zu nehmende Gegner, die den Römern weiterhin entgegentreten. Die Einzigartigkeit dieser Leistung scheint demnach diesem Autor noch stärker, wohl aufgrund der langen Zeitspanne, bewusst zu sein. Als langjähriger Briefpartner und vor allem Lehrer Marc Aurels darf Fronto als hochgebildeter Mann gelten, dem sicherlich zugetraut werden kann, ein umfangreiches Allgemeinwissen seiner Zeit zu besitzen. Demnach ist im römischen Bewusstsein die Existenz einer starken, unabhängigen Macht, welche sich auch nach 200 Jahren der römischen Intervention nicht beugt, präsent. 4.3 Hinweise zur Bearbeitung der Aufgaben drei bis fünf Die Charakterisierung und die Vergleiche der Beziehungen zwischen dem Römischen Imperium und dem Großkönigtum der Arsakiden in den Aufgaben drei und vier setzen voraus, dass gewisse Grundkenntnisse bezüglich der sonstigen Umgangsweise der Römer mit anderen Stämmen, Reichen etc. vorhanden sind. Sollte dies der Fall sein, so wird Schülern mit Sicherheit auffallen, dass es in den Jahren der Nachbarschaft beider Reiche gewisse einzigartige Vorfälle gab. Gute Beispiele dafür sind z. B. das mehrfache Eingreifen der Parther in interne römische Angelegenheiten, man denke an die Unterstützung von Brutus im Kampf gegen Antonius, oder an die – zugegebenermaßen – zu spät eingetroffenen Hilfstruppen für Vespasian. Andererseits sind Fälle, in denen die komplette königliche Familie in die Obhut eines potentiellen Gegners gegeben wurde, auch eher selten. Das Bewahren einer anschließenden Unabhängigkeit trotz der Notwendigkeit, von eben jenem Gegner wieder ei48 nen König zurückzuerbitten, scheint durchaus singulär zu sein. Die Anerkennung einer gewissen militärischen Parität – oder sogar einer römischen Unterlegenheit im Partherreich selbst – bestimmt nach den beidseitigen Niederlagen im Konflikt mit Crassus und auch danach in den späteren Verhandlungen bzw. Entscheidungen oftmals das Handeln. Römer ziehen nach Verhandlungen kampflos ab, parthischen Forderungen wird entsprochen, alleine um den Frieden zu wahren. Vergleicht man diese römischen Entscheidungen mit der früheren, aggressiven Politik, welche hauptsächlich auf dem Vertrauen in die eigene militärische Stärke fußte, wird man nicht umhin kommen, einen signifikanten Unterschied, bedingt durch die Anerkennung der Kampfkraft des Gegners, zu erkennen. Der Erhalt eines so langen Status quo, von einigen temporären territorialen Veränderungen abgesehen, ist an sich schon eine Besonderheit in dieser Zeit. Die fünfte Aufgabe wiederum ist die anspruchsvollste. Die Intentionen der Schreiber werden erst ersichtlich, nachdem die Hintergrundinformationen zu diesen mit dem historischen Kontext, in welchem sie wirkten, kombiniert werden. Relevant werden in diesem Zusammenhang vor allem die tatsächliche zeitliche Nähe zu den beschriebenen Ereignissen sein und natürlich auch die persönliche oder auch historische Färbung. Ein sehr gutes Beispiel ist die Darstellung des Crassus bzw. seiner Niederlage. Bei Trogus/Iustin werden lediglich Fakten aufgeführt, recht nüchtern erfährt der Leser von der Niederlage und dem Tod des Feldherrn, die Parther schlagen ihn also zurück und gehen in den Gegenangriff über. Man kann davon ausgehen, dass Trogus/Iustin mehr an dem Entstehen eines Geschichtswerkes interessiert waren als an der Darstellung persönlicher Intentionen. Anders bei Cassius Dio, welcher diesen Feldzug aufgrund seiner persönlichen politischen Orientierung als ungerecht und ungerechtfertigt ansah. Um seine Ansichten zu untermauern, wird Crassus mit einigen sehr unvorteilhaften Charakterzügen ausgestattet, die Römer sind halb wahnsinnig vor Angst und versuchen, in der Nacht feige zu fliehen. Indirekt werden die Parther so zum Schrecken der Römer aufgewertet. Im Vergleich dazu steht wiederum die sehr objektive Wahrnehmung des Josephus, welcher die Machtgleichheit beider Reiche betont, indes jedoch die Charakterschwäche des Königs bzw. der Parther an sich hervorhebt. In neutralem Ton hingegen erzählt Fronto, dessen unterweisender Duktus eindeutig an einen lernwilligen Adressaten gerichtet ist. Nüchtern wird erläutert, dass die Parther eine außenpolitische Herausforderung seien – keine Inszenierungen, vielmehr einfaches Feststellen historischer Tatsachen. 4.4 Abschluss In dem hier vorgeschlagenen Teil der Gruppenarbeit sind die Schüler unter anderem aufgefordert, sich selbständig Wissen zu den Schreibern anzueignen und dieses für die kritische Quellenlektüre zu nutzen. Ihre Fähigkeiten zur eigenständigen Recherche werden geschult. Das Herauslesen der relevanten Informationen trainiert ebenso wie das Erkennen möglicher Diskrepanzen in den Quellenaussagen das Hinterfragen historischer Texte und ihrer Darstellungsabsichten an sich. Die recht große Anzahl 49 der Materialien erfordert außerdem, dass die Schüler sich gegenseitig über die gelesenen bzw. nichtgelesenen Texte informieren, so dass nicht nur das Exzerpieren des Textinhalts, sondern auch seine verständliche Präsentation innerhalb der Gruppe nötig ist und dadurch für die abschließende Vorstellung der Gruppenarbeitsergebnisse geübt wird. Weiterhin erkennen die Schüler, dass sie sich mit der Gruppe auf eine sinnvolle Arbeitsteilung verständigen müssen. Mit Hilfe der dann gewonnenen Fakten wird es den Schülern ermöglicht, die Quellen argumentativ zu vergleichen und einzuordnen. Die ersten Aufgaben hingegen fordern den Bearbeitenden die Anwendung bereits vorhandenen Wissens in neuem Zusammenhang ab und geben ihnen einen gewissen Freiraum bei der Bewertung der Beziehungen zwischen dem Römischen Reich und seinen diversen Nachbarvölkern. 50 Buchtipp Drijvers, Jan Willem: „Strabo on Parthia and the Parthians“, in: Wiesehöfer, Josef (Hrsg.), Das Partherreich und seine Zeugnisse. Beiträge des internationalen Colloquiums, Eutin (27.–30. Juni 1996), Stuttgart 1998, S. 279–293. Landskron, Alice: Parther und Sasaniden. Das Bild der Orientalen in der römischen Kaiserzeit, Wien 2005. Schneider, Rolf Michael: „Die Faszination des Feindes: Bilder der Parther und des Orients in Rom“, in: Wiesehöfer (Hrsg.), Das Partherreich, S. 95–146. Schottky, Martin: Parther, Meder und Hyrkanier. Eine Untersuchung der dynastischen und geografischen Verflechtungen im Iran des 1. Jh. nach Christus, hrsg. vom Deutschen Archäologischen Institut Abteilung Teheran, Berlin 1991. Sommer, Michael: Der Römische Orient. Zwischen Mittelmeer und Tigris, Darmstadt 2006. Sonnabend, Holger: Fremdenbild in der Politik. Vorstellungen der Römer von Ägypten und dem Partherreich in der späten Republik und frühen Kaiserzeit, Frankfurt/M. 1986. Strabo‘s Erdbeschreibung. Übersetzt und durch Anmerkungen erläutert von Albert Forbiger (= Langenscheidtsche Bibliothek sämtlicher griechischen und römischen Klassiker in neueren deutschen Musterübersetzungen), Berlin und Stuttgart 1855– 1911. Wiesehöfer, Josef: Das antike Persien, München 1994. Ziegler, Karl-Heinz: Die Beziehungen zwischen Rom und dem Partherreich. Ein Beitrag zur Geschichte des Völkerrechts, Wiesbaden 1964. 51 KAPITEL II DAS ANTIKE GRIECHENLAND AM BEISPIEL DER OLYMPISCHEN SPIELE Matthias Göritz Stefan Küpper Sven Moritz Sebastian Schwind Ulf Seeger [http://commons.wikimedia.org/wiki/wiki/File:Panathenaic_amphora_Kleophrades_Louvre_F277.jpg (23.11.2009)] Baustein I Hinleitung zum Thema „Olympische Spiele“ (Ulf Seeger) Baustein II Grundriss Olympia (Sven Moritz) Baustein III Geschichte der Poleis Sparta und Athen (Seb. Schwind) Baustein IV Sportwettkämpfe (Matthias Göritz) Baustein V Nacktheit und Starkult (Stefan Küpper) 1 DIDAKTISCH-METHODISCHE ÜBERLEGUNGEN Die antiken Olympischen Spiele, Schmelztiegel des alten Griechenland, bieten sich als Projekt für Fremdverstehen besonders gut an. Vor allem im Vergleich mit den Olympischen Spielen in Peking 2008 eröffnen sich interessante Möglichkeiten für den Geschichtsunterricht. So können beide Dimensionen des Fremdverstehens, sowohl auf temporaler als auch intrakulturell-griechischer Ebene, betrachtet werden. Im Hinblick auf die erste Ebene lassen sich problemlos Gemeinsamkeiten bzw. Unterschiede in Bezug auf die Antike und die Moderne herleiten. Als Beispiele seien hier nur kurz der Starkult und die einzelnen Wettkämpfe genannt. Beide Ebenen umfassend, lässt sich der Bogen vom Mikrokosmos der griechischen Poleis, wie beispielsweise dem Dualismus zwischen Sparta und Athen, bis hin zum heutigen globalen Massenereignis spannen. Das Unterrichtskonzept basiert auf dem Bausteinprinzip, bei dem Lehrer entsprechend ihres Bedarfs einzelne Elemente auswählen können. Die inhaltliche Breite der Bausteine erstreckt sich von der Archäologie bis hin zu antiken Reisebeschreibungen des Pausanias. Diese Konzeption könnte fächerübergreifend eingesetzt werden. Dabei scheinen vor allem Verbindungen mit den Fächern Sport, Musik, Kunst als auch Biologie sinnvoll, um eventuell als Höhepunkt eine Imitation der antiken Olympischen Spiele zu initiieren. Dies würde in Form eines Sportfestes seinen Abschluss finden. Das vorliegende Konzept bietet zahlreiche Ansätze für die Entwicklung historischen Denkens im Geschichtsunterricht. Denkbare Möglichkeiten wären: Bildanalysen (z. B. Interpretationen archäologischer Funde), Arbeit an Verfassungsmodellen, Quellenarbeit, Arbeit an historischen Längs- und Querschnitten oder einfach Zusammenfassungen komplexer Texte. Im Folgenden werden die einzelnen Bausteine detailliert erläutert. 55 2 BAUSTEIN I – HINLEITEN ZUM THEMA „OLYMPISCHE SPIELE IN DER ANTIKE“ 2.1 Einführung und didaktische Idee Vom 8. bis zum 24. August 2008 fanden die XXIX. Olympischen Sommerspiele in Peking statt. In den 28 verschiedenen Sportarten traten bei 302 Wettbewerben die Rekordzahl von 11.128 Athleten im Kampf um die begehrten Goldmedaillen gegeneinander an.35 Begleitet wurden die Wettkämpfe von tausenden begeisterten Zuschauern an den jeweiligen Sportplätzen. Natürlich hatte jeder Olympia-Interessierte, der nicht live vor Ort sein konnte, die Möglichkeit, die Spiele über die vielfältigen Medien zu verfolgen. Die zahlreichen Berichterstatter sorgten dafür, dass jedes Ereignis der über zwei Wochen andauernden Veranstaltung seine gebührende Beachtung fand. Tagtäglich wurden die neuesten Nachrichten aus Peking über Fernsehen, Radio, Zeitung oder Internet verbreitet. Mit der Schlussfeier am 24. August endeten die Olympischen Spiele 2008 und schufen sicherlich eine enorme Vorfreude auf die nächsten Spiele in vier Jahren in London. Nun stellt sich die Frage, inwiefern diese einführenden Sätze zu den XXIX. Olympischen Spielen in Peking eine Bedeutung für die Thematik „Die Olympischen Spiele in der Antike“ als Unterrichtsgegenstand haben. Die Antwort darauf ist relativ einfach und nachvollziehbar: Es handelt sich um ein sportliches Großereignis, das viele Millionen Menschen in ihren Bann zieht und einen historischen Ursprung besitzt. Die Wettkämpfe wecken bei den Schülerinnen und Schülern Interesse. Sei es, weil sie selbst aktiv in Vereinen die eine oder andere Sportart betreiben oder einfach nur fasziniert sind von den Leistungen der Athleten. Sie schauen sich die vielfältigen Berichte im Fernsehen an, lesen die Nachrichten aus Peking in der Zeitung oder diskutieren über die neuesten Videos, die sie im Internet zum Thema „Olympia“ gesehen haben. An dieses Interesse der Schülerinnen und Schüler soll angeknüpft werden, um zur Thematik „Die Olympischen Spiele in der Antike“ mit der Fokussierung auf das Fremdverstehen hinzuleiten. Der erste Baustein soll dabei als Einstieg dienen, indem anhand eines Vergleiches zwischen den modernen und antiken Olympischen Spielen ein historischer Zusammenhang zwischen Gegenwart und Vergangenheit hergestellt wird. Bezogen auf die einführenden Sätze könnten so z. B. folgende Fragen gestellt werden: Woher stammt der Name „Olympische Spiele“ eigentlich? Fanden in der Antike die Sportwettbewerbe auch alle vier Jahre in einer anderen Stadt statt? Wie viele Athleten nahmen an den Wettkämpfen teil und was erhielten sie als Preis für einen Sieg? Haben in der Antike ebenfalls tausende internationale Zuschauer die Wettkämpfe verfolgt? 35 www.faz.net. Stand 03.09.2008. 56 Nach der sich anschließenden Bereitstellung von Sachinformationen zum „Einstieg“ als didaktischem Verfahren folgen ein Beitrag zur möglichen Kompetenzentwicklung sowie Ausführungen zum Lernarrangement und zu einem beispielhaften Einstieg als Arbeitsteil. 2.2 Fachwissenschaftliche Grundlegung Der Einstieg in eine Unterrichtstunde oder der Beginn einer Unterrichtseinheit, wie die vorliegende zu den „Olympischen Spielen in der Antike“, entscheidet wesentlich über den Verlauf der gesamten Stunde und somit über den Erfolg oder auch Misserfolg der Stundenkonzeption.36 Der Schwerpunkt liegt auf dem Vorstellen des neuen Themas oder der zu behandelnden Thematik. Den Schülerinnen und Schülern soll natürlich nicht nur gesagt werden, dass sie sich in den folgenden Stunden mit den „Olympischen Spielen in der Antike“ beschäftigen werden. Ebenso ist das Anschreiben der neuen Thematik an die Tafel mit anschließendem Austeilen der ersten Arbeitsblätter kein optimal gestalteter Einstieg, um die Schülerinnen und Schüler zu problemorientiertem Lernen anzuregen. Das Ziel der Lehrerinnen und Lehrer sollte sein, mit dem Beginn eines neuen Themas bei den Schülerinnen und Schülern Interesse für den Unterrichtsgegenstand zu wecken, aus der dann die Motivation erwächst, sich selbständig und dauerhaft damit zu beschäftigen. In den meisten Fällen kann dies mit der Erzeugung von Neugier, Spannung, Staunen oder auch Widerspruch bewerkstelligt werden. Demzufolge sollte man bei jedem Einstieg bemüht sein, den Schülerinnen und Schülern, der Thematik entsprechend, anregende und fesselnde Materialien oder Methoden bereitzustellen, durch die sie vom Unterrichtsgegenstand gepackt sowie zur Mit- und Weiterarbeit animiert werden.37 Ein weiterer wichtiger Aspekt beim Einstieg ist die Überleitung zur Arbeitsphase. Gelingt ein gleitender Übergang zum Aufgabenteil und wird dadurch ein Bruch vermieden, ist eine erfolgreiche Umsetzung der Stundenkonzeption wahrscheinlich. Dabei ist wiederum eine geeignete Auswahl an Materialien von enormer Bedeutung. Wird den Schülerinnen und Schülern nach einer interessanten Einführung sofort eine Quelle mit dazugehörigen Fragestellungen zur Bearbeitung vorgelegt, kann es sein, dass sie ihre Motivation am Unterrichtsgegenstand schneller verlieren, als diese durch den Einstieg geschaffen wurde. Solche Brüche während der Stundenkonzeption sollten demnach vermieden werden, da sie einen erfolgreichen Verlauf des Unterrichts gefährden. Eine generelle Methode für einen gleitenden Übergang gibt es na- 36 Vgl. Behrndt/Wittwer: „Einstiege. Problemorientierte Beispiele“, in: Praxis Geschichte. Olympia – Die Welt der Griechen, 03/2008, S. I (29). 37 Vgl. Schneider, G.: a.a.O., S. 595 f. 57 türlich nicht.38 Passend zu jedem neuen Thema und entsprechend der Klassensituation müssen immer wieder neue Überlegungen für den Einstieg und den Übergang zur Arbeitsphase angestellt werden. Mit der Zeit und aus der Erfahrung heraus ergeben sich dann sinnvolle Ideen zu Materialien und Methoden für die unterschiedlichen Anwendungsgebiete. Die folgende Typologie für Einstiege im Geschichtsunterricht wurde von Schneider entwickelt: animative Einstiege Neugier wecken Aktivierung von Vorkenntnissen repetitive Einstiege problematisierende Einstiege sedative, disziplinierende Einstiege Obwohl in der Literatur von diesen vier Einstiegstypen gesprochen wird, sollte man diese nicht als komplett voneinander abgrenzt betrachten, da Überschneidungen untereinander auftreten können.39 Die animativen Einstiege dienen vor allem der Weckung von Interesse für die neue Thematik. Dabei bieten sich als Materialien zum Beispiel Passagen aus einer Erzählung, einer Autobiographie, eines Zeitungsartikels oder auch aus einem Hörbuch an. Ist der höchste Punkt des Spannungsbogens der jeweiligen Textstelle erreicht, kann das Vorlesen oder Vorspielen unterbrochen werden. Da die Schülerinnen und Schüler nicht wissen, wie es weitergeht, wird ihre Neugier angeregt. Nun können sie im Klassenverbund oder in kleinen Gruppen über den Fortgang der Geschichte diskutieren. Im Anschluss kann ihnen dann der Ausgang der Geschichte präsentiert werden. Unterscheiden sich die Spekulationen vom wirklichen Geschehen, entsteht bei den Schülerinnen und Schülern vermutlich der Wunsch, herauszufinden, warum die Ereignisse in der Vergangenheit so verlaufen sind.40 Diese Neugierde und Spannung eignet sich sehr gut, um in die Arbeitsphase überzuleiten, da die Schülerinnen und Schüler motiviert sein werden, den Ursachen für den unerwarteten Verlauf des Geschehens auf den Grund zu gehen. 38 Vgl. ebd., S. 596. Vgl. Behrndt/Wittwer: a.a.O., S. I (29). 40 Vgl. Schneider, G.: a.a.O., S. 605. 39 58 Das Brainstorming kann ebenfalls den animativen Einstiegen zugeordnet werden. Diese Variante bietet sich an, um einen Überblick über die Vorkenntnisse der Schülerinnen und Schüler zu gewinnen. Dabei kann sowohl das neue Thema an sich im Mittelpunkt stehen oder ein einzelner Aspekt, wie zum Beispiel ein Begriff oder Bild herausgegriffen werden. Die Ideen und genannten Einwürfe zur Thematik werden beispielsweise an der Tafel gesammelt und zeitgleich oder im Anschluss in Form einer Mind Map sortiert. So bietet sich für Lehrer und Schüler die Möglichkeit, ausgehend von dieser Übersicht einzelne Punkte herauszugreifen und diese in der Arbeitsphase näher zu hinterfragen sowie zu untersuchen. Repetitive Einstiege haben die Festigung von Gelerntem zum Ziel. Das kann sowohl durch die bewährte Form der Lehrerfragen als auch mit Hilfe einer Grafik, einer Karte oder eines Lückentextes geschehen.41 Dadurch wird das behandelte Thema wiederholt, abgeschlossen und die Konzentration für den neuen Unterrichtsgegenstand geschärft. Dem Konzept des problemorientierten Geschichtsunterrichts wird in der fachdidaktischen Ausbildung wesentliche Beachtung beigemessen. Die selbständige Bearbeitung und Lösung einer zentralen Fragestellung durch die Schülerinnen und Schüler steht im Mittelpunkt des Unterrichts. Dadurch gewinnen sie eigene Erkenntnisse zu den Geschehnissen der Vergangenheit und verknüpfen diese mit ihren Vorerfahrungen. Sie rekonstruieren die Geschichte in gewisser Weise selbst, anstatt diese als starre, unveränderliche Tatsache anzusehen.42 Als Einstiege dienen dazu Kontroversen, synchrone oder diachrone Vergleiche sowie Provokationen. Das Ziel bei Kontroversen ist, mittels Quellen, Zeitungsberichten oder Filmdokumenten gegensätzliche Meinungen darzustellen, aus denen Fragen und Vermutungen zu den unterschiedlichen Sichtweisen erwachsen. Dadurch sollen die Schülerinnen und Schüler motiviert werden, sich intensiv mit der Thematik zu beschäftigen und sich die Fragen zur Problematik zu eigen zu machen. Die Provokation als Einstieg wird nicht grundsätzlich als positiv angesehen. Es wirkt sich sicherlich förderlich für den Unterrichtsverlauf aus, wenn ein Streitgespräch zu einem historischen Geschehen entsteht, was wiederum zu einer gründlichen, selbständigen Beschäftigung mit der Thematik führen kann. Allerdings muss darauf hingewiesen werden, dass eine bewusste Täuschung bei den Schülerinnen und Schülern möglicherweise negative Gefühle und Empfindungen auslöst, die sowohl das Klassenklima, als auch die Beziehung zur Lehrkraft aufgrund eines Vertrauensverlustes beeinträchtigen könnten. Bei diachronen Vergleichen werden mindestens zwei Grafiken oder Karten nebeneinandergestellt, die die historischen Zustände zu unterschiedlichen Zeitpunkten darstellen. 41 42 Vgl. Behrndt/Wittwer: a.a.O., S. II (30). Schneider, G.: a.a.O., S. 598. Vgl. Behrndt/Wittwer: a.a.O., S. II (30). 59 Aus diesem Vergleich sollen Mutmaßungen und Hypothesen zu den Ursachen der Veränderungen angestellt werden, um diese im weiteren Verlauf der Unterrichtseinheit zu untersuchen. Beim synchronen Vergleich wird ein ähnliches Ziel verfolgt. Allerdings werden hierbei wenigstens zwei Bilder oder Texte gegenübergestellt, die Ereignisse in der Vergangenheit darstellen, welche zur selben Zeit geschehen sind. Bietet sich eine Verknüpfung einer aktuellen Diskussion zu historischen Themen an, sollte dies als Chance für den Geschichtsunterricht genutzt werden. Die Schülerinnen und Schüler können ihr Wissen zu aktuellen Fragen als Grundlage zur Untersuchung ähnlicher Ereignisse aus der Vergangenheit nutzen. Motivierend kann zusätzlich eine persönliche Beziehung der Schülerinnen und Schüler zur aktuellen Debatte wirken.43 Neben der Einführung eines neuen Themas steht beim sedativen Einstieg die Beruhigung der Schülerinnen und Schüler im Blickpunkt. Im Schulalltag treten vielfältige Situationen auf, bei denen es wichtig ist, die Klasse erst einmal zur Ruhe kommen zu lassen, bevor in die Arbeitsphase eingestiegen wird. Dazu zählt beispielsweise die Stunde nach dem Sportunterricht, der großen Pause oder nach einer anstrengenden Klassenarbeit, wenn die Schülerinnen und Schüler aufgewühlt sind. Als Einstiegsvariante bietet sich die Methode der Phantasiereise an. Bei der Phantasiereise könnte die Klasse aufgefordert werden, sich bequem hinzusetzen, die Augen zu schließen und der Lehrerin oder dem Lehrer zu zuhören, der eine kurze Geschichte vorliest oder einen Teil eines Hörbuches vorspielt. Die Schüler konzentrieren sich auf das Gehörte, werden dadurch ruhiger, versetzen sich in die Geschichte und zeitgleich werden sie mit dem neuen Thema bekanntgemacht.44 2.3 Beitrag zur Kompetenzentwicklung Die Förderung eines reflektierten Geschichtsbewusstseins steht im Zentrum des Geschichtsunterrichts. Die Schülerinnen und Schüler sollen dabei erkennen, dass die Darstellung der Geschichte abhängig ist von den Fragen, Erkenntnissen und der gesellschaftlichen Situation der Gegenwart. Als Folge davon sind historische Geschehnisse keine starren Gebilde, sondern werden durch neue Quellen und veränderte Fragenstellungen der Forschung immer wieder aus neuen Blickwinkeln untersucht. So entstehen zahlreiche Deutungen, die von den Schülerinnen und Schülern kritisch beurteilt werden sollten. Daher gelten die Förderung des multiperspektiven Denkens sowie der Urteilsfähigkeit als weitere wichtige Aufgaben des Geschichtsunterrichts.45 Das Unterrichtskonzept zum Thema „Olympische Spiele in der Antike“ zielt auf die Verwendung in der 11. Klasse ab. Demzufolge sind die Eingangsvoraussetzungen zu 43 Vgl. Schneider, G.: a.a.O., S. 600 ff. Vgl. Behrndt/Wittwer: a.a.O., S. II (30). Schneider, G.: a.a.O., S. 613 f. 45 Vgl. Rahmenlehrplan für den Unterricht in der gymnasialen Oberstufe im Land Brandenburg. Geschichte, 2006, S. 9. 44 60 Beginn der Qualifikationsphase, wie sie im Rahmenlehrplan des Landes Brandenburg für das Fach Geschichte genannt werden, ausschlaggebend. 2.4 Lernarrangement und Arbeitsteil mit Aufgaben Das Ziel des ersten Bausteins ist es, durch die Herstellung eines historischen Zusammenhangs zwischen Moderne und Antike zur Thematik „Olympische Spiele in der Antike“ hinzuleiten. Dabei soll vor allem der aktuelle Bezug zu den XXIX. Olympischen Sommerspielen 2008 in Peking genutzt werden. Bei der Einführung des neuen Unterrichtsgegenstandes kann sowohl zeitgleich mit der gesamten Klasse, als auch in kleinen Gruppen gearbeitet werden. Beispiel für einen möglichen Einstieg: Das Bild von den Überresten des antiken Stadions in Olympia wird den Schülerinnen und Schülern als Folie per Overheadprojektor oder mit Hilfe von Powerpoint präsentiert. Die Lehrperson gibt keine weiteren Hinweise dazu, sondern stellt den Schülerinnen und Schülern die Frage, was sie darauf erkennen können und was ihnen zu diesem Bild einfällt? Als mögliche Antworten könnten unter anderem folgende Stichpunkte genannt werden: „Sandplatz“, „alte Straße“, „Überreste eines Gebäudes“, „alter Tempel“, „Schlachtfeld“, „Antike“, „Griechenland“, „Ausgrabungen“, „Rennbahn“. Die Lehrkraft notiert die einzelnen Beiträge untereinander an der linken Seite der Tafel, ohne diese jedoch zu kommentieren. Fällt der Klasse nichts mehr zu dem Bild ein, wird das nächste mit dem Olympiastadion von Peking gezeigt. Auch hier sollen die Schülerinnen und Schüler beschreiben, was sie erkennen können und was ihnen dazu einfällt. Vermutlich werden die Beiträge bei diesem Bild zahlreicher ausfallen. Erwähnt werden beispielsweise „Olympische Spiele 2008“, „Vogelnest“, „Peking“, „China“, „Fackellauf“, „Michael Phelps“, „Olympischer Gedanke“, „Fußballturnier“, „Weltrekorde“, „Goldmedaillen“, „Marathonlauf“, „Wettkämpfe“, „Siegerehrungen“, „Proteste“, „Olympischer Friede“, „Olympische Ringe“, „finden alle vier Jahre statt“, „Leichtathletik“. Während die Schülerinnen und Schüler ihre Ideen und Vermutungen äußern, schreibt die Lehrkraft diese auf der rechten Seite der Tafel untereinander an. Inzwischen ist der Klasse sicherlich bewusst geworden, dass es sich bei der neuen Thematik um die „Olympischen Spiele“ handelt und das erste Bild ein antikes Stadion abbildet. Im Anschluss an das Brainstorming soll in der Mitte der Tafel, ausgehend vom Stichpunkt „Olympische Spiele“ in Zusammenarbeit der Schülerinnen und Schüler mit der Lehrkraft eine Mind Map anhand der gesammelten Begriffe und Beiträge entstehen. Diese wird wahrscheinlich in jeder Klasse unterschiedlich aussehen, da sie von den Schülern gestaltet werden soll und nicht vom Lehrer vorgegeben wird. Nach Beendigung der Mind Map ist an der Tafel eine Übersicht entstanden, die die Vorkenntnisse der Klasse zu den „Olympischen Spielen“ verdeutlicht. Daran anschließend kann die Lehrperson darauf hinweisen, dass sich das Themenfeld mit den Ursprüngen der Spiele von 2008 in Peking, also den „Olympischen Spiele in der Antike“, befasst. 61 B1 Überreste des antiken Stadions in Olympia [http://www.lsg.musin.de/geschichte/material/rundgaenge/amphi/Olympiastadion.jpg (8.1.2011)] B2 Blick auf das Olympiastadion in Peking (Sommer 2008, Computergrafik) [http://ais.badische-zeitung.de/piece/00/36/66/e5/3565285.jpg (22.11.2009)] 62 Durch die Betrachtung der Bilder, die Beschreibung der beiden Stadien sowie das Brainstorming haben sich die Schülerinnen und Schüler bereits dem Unterrichtsgegenstand genähert. Ihr Denken und ihre Konzentration sind bereits darauf ausgerichtet und sie haben ihr Vorwissen reaktiviert. Außerdem wurde ihre Phantasie angeregt, als sie sich Gedanken über das Aussehen des antiken Stadions gemacht haben. Im besten Fall sind ihr Interesse und ihre Neugier für das Thema geweckt. Da es sich um den Einstieg in eine neue Unterrichtseinheit handelt, sollte diese Phase von 20 Minuten auf bis zu einer Unterrichtsstunde ausgedehnt werden. Weiterführend können einzelne Aspekte der Mind Map herausgegriffen werden, um einen Vergleich der modernen „Olympischen Spiele“ mit denen während der Antike anzustellen. Dabei bieten sich Gegenüberstellungen zu den Siegesprämien, den verschiedenen Sportarten oder den Unterschieden zwischen den teilnehmenden Athleten an. Bei diesen Vergleichen sollen die Schülerinnen und Schüler lediglich ihre Vorkenntnisse aktivieren und, aus dem aktuellen Bezug der Olympischen Spiele 2008 in Peking heraus, Vermutungen zu den Rahmenbedingungen der antiken Wettkämpfe anstellen. Als Ergebnissicherung bietet sich die Ausgestaltung und Präsentation von Plakaten an, die in kleinen Gruppen angefertigt werden. Während der im Anschluss an den Einstieg stattfindenden Arbeitsphase könnten diese Annahmen und Vorstellungen zu den antiken Spielen anhand von Quellen und Darstellungen hinterfragt und untersucht werden. Dadurch besteht die Möglichkeit, die Spekulationen mit dem tatsächlichen Ablauf beziehungsweise den historischen Ereignissen zu vergleichen. Die Einführung über die Verknüpfung von Gegenwart und Vergangenheit erleichtert den Schülerinnen und Schülern den Einstieg in den neuen Unterrichtsgegenstand. Sie können sowohl auf ihre Vorkenntnisse als auch auf einen aktuellen Bezug zurückgreifen. Bereits beim Hinleiten zum Thema werden Kompetenzen geschult und gefördert. Die Schülerinnen und Schüler ordnen die Abbildungen in den betreffenden Raum und die Zeit ein und erkennen sowie beschreiben in Ansätzen den Zusammenhang des historischen Ereignisses mit dem der Gegenwart. Dabei werden die Bilder ausgewertet, Vermutungen in einer adäquaten, nachvollziehbaren Ausdrucksweise dargelegt und eigenes Vorwissen genutzt sowie mit Informationen der Mitschüler verknüpft. Das methodische Arbeiten des Vergleichs wird geschult und beeinflusst die Wertung und Gewichtung der gewonnenen Informationen. In Folge dessen sind die Schülerinnen und Schüler in der Lage, sich ein eigenes Urteil zum Thema beziehungsweise zur Problemstellung zu bilden und dadurch ihr Fremdverstehen zu fördern. 63 3 BAUSTEIN II – GRUNDRISS OLYMPIA 3.1 Aufbau der Anlage „Olympia liegt im Tal des Alpheios, dort wo der Fluss die Landschaften Pisatis und Triphylien durchströmt. Die ganze Gegend ist angefüllt mit Kultstätten der Artemis, der Aphrodite und der Nymphen. Zumeist liegen die Schreine inmitten prächtiger Blütenteppiche, denn diese Region kennt keinen Wassermangel.“ 46 [Strabon VIII 3,12] Das Heiligtum befindet sich im Westen der Peloponnes, genauer gesagt, im Norden des fruchtbaren Alpheiostales. Östlich wird das Heiligtum von dem Fluss Kladeos, der in den Alpheios mündet, eingegrenzt. Der Alpheios bildete gleichfalls eine Abgrenzung, hier aber in südlicher Richtung. Im Norden wird das Gebiet durch den Kronos-Hügel umrissen. Entlang dem Gymnasium (25), das der Palaistra (24) vorgelagert ist, gelangt man über das Prytaneion (2) in die Altis. Gegenüber der Tholos Philipps von Makedonien, Philippeion (3), steht der Heratempel (4), der 600 v. Chr. gebaut wurde. Das Grab des Pelops, das Pelopeion (5), zeugt noch von dem alten Kult in Olympia. Unmittelbar am Fuße des Kronos-Hügels liegen neben dem Brunnen (Nymphaion) des Herodes Atticus (6) die Schatzhäuser (8). Diesen Bauten vorgelagert ist das Metroon (7), das im 4. Jh. v. Chr. entstanden ist. Auf dem Platz hinter der Echohalle (8) befindet sich das Stadion (9). Ursprünglich, bevor die Echohalle 330 v. Chr. errichtet wurde, reichte das Stadion bis zum Zeus-Altar (zw. Metroon und Pelopeion). Um 457 v. Chr. entstand ein eigener monumentaler Zeustempel (13). In der Cella befand sich wahrscheinlich das Kultbild des thronenden Zeus von Pheidias. Viele Statuen standen vor diesem Bau, darunter der Stier der Eretrier und die Nike des Paionios. 46 Zit. nach Sinn, U.: Olympia. Kult, Sport und Fest in der Antike, München 1996, S. 14. 64 B1 Aufbau der Anlage in Olympia [http://www.gottwein.de/imag01/a76a.jpg (8.1.2011)] 1. Kronoshügel 11. Südostbau 22. Schwimmbad 2. Prytaneion (Altar der Hestia) 12. Haus des Nero 23. Griech. Bad 13. Zeustempel 24. Palaistra 3. Philippeion 14. Buleuterion 25. Gymnasion 4. Heratempel 15. Südhalle 5. Pelopeion 16. Südthermen 26. Griech. Altismauer (300 v. Chr.) 6. Nymphaion (Exedra d. Herodes Attikos) 17. Leonidaion 7. Metroon 19. Phidias-Werkstatt 28. Heroon (450 v. Chr.) 8. Schatzhausterrasse 20. Theokoleon 29. Römisches Tor 9. Stadion mit Ziel 21. Kladeos-Thermen 30. Kladeos 18. Röm. Gästehäuser 27. Röm. Altismauer (2. Jh. n. Chr.) 10. Echohalle [http://www.gottwein.de/Hell2000/ol001.php (23.11.2009)] 65 3.2 Die Archäologischen Befunde Aufgrund von Funden am Fuße des Kronos-Hügels lassen sich erste Siedlungen zwischen ca. 2500 und 1900 v. Chr. nachweisen, dabei handelt es sich um Apsidenhäuser und Gräber.47 An dessen Ausläufer im Südwesten (Gaion) lagen die ältesten Heiligtümer von Olympia, die der Gaia und der Thermis. Erst in mykenischer Zeit hat man wieder Beweise für Besiedlungen bzw. die Anwesenheit von Menschen, diesmal aber im Osten, gefunden.48 Mitte des 7. Jh. v. Chr. lassen sich Lehmziegel- und Holzbauten feststellen, die scheinbar mit Tondächern und Bronzereliefs verkleidet waren.49 Weiterhin sind Terrassen- und Planierungsarbeiten belegt, die darauf hinweisen, dass die ältesten Gebäude im östlichen Teil Olympias lagen. Für die Zeit um 700 v. Chr. wird das Gebiet scheinbar erweitert, eventuell wurden auch die Voraussetzungen für ein erstes kleines Stadion geschaffen. Man nimmt an, dass vermutlich das Hippodromos zur gleichen Zeit entstanden sein muss.50 Der Heratempel, der als der erste Großbau gilt und von dem vermutet wird, dass er ursprünglich Zeus gewidmet war, entstand nach 600 v. Chr. Zum gleichen Zeitpunkt entstanden Schatzhäuser, die kleinere Bauten entlang des Hügels auf einer Terrasse darstellten.51 Nach dem Ende der Perserkriege52 wurde das Zentrum der Anlage komplett umgestaltet – der Zeustempel53 wurde errichtet. Der größte Tempel des Peloponnes (27,68x64,12 m) ist ein dorischer Bau, der auf einem 1,5 m hohen, dreistufigen Unterbau erschaffen wurde. Laut Pausanias54 wurde selbiger ca. 457 v. Chr. beendet.55 Ca. 430 v. Chr. erhält Phidias den Auftrag durch die Eleer, eine 12 m hohe Zeusstatue aus Gold und Elfenbein anzufertigen. Sie galt als eines der 7 Weltwunder der Antike, allerdings ist sie außer auf Münzen von Elis und in Erzählungen Pausanias’56 nicht nachweisbar, worauf im nächsten Abschnitt eingegangen wird. 47 Vgl. Kyrieleis, H.: „Neue Ausgrabungen in Olympia“, in: Antike Welt 21, 1999, S. 177–188. Vgl. Cancik, H./Schneider, H. (Hrsg.), Der Neue Pauly, Bd. 8, Stuttgart/Weimar, 1999, S. 1173– 1177. 49 Ebenda. 50 Ebenda. 51 Vgl. Knell, Heiner: Grundzüge der griechischen Architektur, (= Grundzüge, Bd. 38), Darmstadt 1980, S. 174–190. 52 500–479 v. Chr. 53 Ausführlich: Paulys Realencyklopädie der class. Altertumswissenschaft, München 1979. 54 Pausanias (115–180 n. Chr.), Verfasser einer griechischen Kulturgeschichte. 55 Bei Sinn, U.: Olympia. Kult, Sport und Fest in der Antike, München 1996, S. 109 wird von einer Fertigstellung im Jahre 456 v. Chr. gesprochen. 56 Maranti, A.: Olympia und die olympischen Spiele, Athen 1999, S. 40–46. 48 66 B2 Zeustempel – 6x13 Säulen/10,51 m hoch – dorische Säulenanordnung [Gruben, Gottfried: Griechische Tempel und Heiligtümer, 2001] 3.3 Die Zeusstatue Wie bereits erwähnt, gehört die sagenumwobene Goldelfenbeinstatue des Zeus zu den 7 Weltwundern der Antike. Sie soll sich auf einem Sockel am Ende der Cella befunden haben. Wie Pausanias berichtet, bestand die Basis aus schwarzem Marmor. Davor lag eine flache, rechteckige Vertiefung, die mit grünen Marmorplatten ausgelegt und am Rande mit andersartigem Marmor eingefasst war. Hier soll auch das Öl aufbewahrt worden sein, mit dem die Priester die Statue einsalbten. Sie wurde möglicherweise nach 438 v. Chr. erbaut und umfasste die siebenfache Lebensgröße eines Menschen, sodass der Gott, laut Strabon57, das Dach gesprengt hätte, falls er sich von seinem Thron erhoben hätte.58 57 58 Strabon (ca. 64 v. Chr.–19 n. Chr.), griechischer Geograph und Historiker. Maranti, A.: Olympia und die olympischen Spiele, Athen 1999, S. 42 f. 67 B3 Die Zeusstatue [http://www.antike-weltwunder.de/wp-content/uploads/2009/07/zeus-1.jpg (8.1.2011)] Selbiger war mit einem vergoldeten Olivenkranz gekrönt, und in seiner linken Hand hielt er ein Zepter, auf dessen Spitze ein Adler als Symbol seiner Macht saß. In seiner rechten Hand befand sich eine Nike aus Goldelfenbein. Der mit Reliefs mythischer Szenen und Malereien geschmückte Thron war aus Elfenbein, Edelsteinen, Gold, Ebenholz und Bronze gearbeitet. Die unbekleideten Körperteile waren aus Elfenbein; das Haar, der Mantel, der Bart und die Sandalen aus Gold. Der Mantel, der bis zu den Knöcheln reichte, war mit Edelsteinen besetzt und mit Sternbildern und Lilien verziert. Eine Legende59 besagt, dass der Erbauer Phidias Zeus um ein Urteil bat und dieser ihm einen Blitz schickte, der keinen Schaden anrichtete. Dies soll der Beweis für die Vollkommenheit der Statue sein. Da bis auf die genannten Quellen (Münzen und Pausanias) nichts von dieser Statue für die heutige Welt erhalten ist und man sich nicht einmal sicher ist, ob sie genau dort, wie beschrieben, stand, bleibt es bis heute ein historisch nicht verbürgtes Wunder.60 59 60 Vgl. Maranti, A.: Olympia und die olympischen Spiele, Athen 1999, S. 44. Vgl. http://www.gottwein.de/imag01/ol151.jpg (8.1.2011). 68 Es zeigt sich, dass es eine differenzierte Bezugnahme zum Heiligtum gab. Von der anfänglichen Orakelfunktion (Gaia) über Zeus bis hin zur Verehrung großer Persönlichkeiten unterlag diese Anlage immer wieder neuen Veränderungen bzw. Erweiterungen. Es wird ebenfalls offensichtlich, dass diese Stätte sowohl Kultort für Orakelverheißungen in Kriegszeiten und -angelegenheiten war als auch zum Propagandainstrument und zum wirtschaftlichen Vorteil Einzelner genutzt und auch gewandelt wurde. Aufgrund unterschiedlicher Funde aus verschieden Bereichen des Gebietes lässt sich ein stetiger Um- und Ausbau zeigen, das Hinzufügen von Schatzkammern verweist z. B. auf den zunehmenden Reichtum des Bezirkes. Besonders beeindruckend ist allerdings die Architektur dieser Anlage. Allein, dass viele Gebäude bzw. deren Reste uns heute noch erhalten sind, ist ein Indiz für den hohen Entwicklungsstandard der damaligen Baukunst. Da einige Bauten, wie z. B. die berühmte Zeusstatue, nur durch Münzen oder Überlieferungen belegt sind, stellt sich natürliche die Frage nach ihrer Existenz. Aber bereits das Vorhandensein dieser zwei unterschiedlichen Quellen ist, wenn auch kein Beweis, doch zumindest ein Hinweis darauf, dass etwas Ähnliches existiert haben könnte, wenn auch vielleicht nicht in dieser Größenordnung, obwohl wir von genügend Tempelanlagen wissen, die unglaubliche Ausmaße haben. Beweisen lässt sich das leider nicht mehr. 69 3.4 B4 Anhang Grundriss der Altis [http://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/c/c3/Olympia-2.jpg (8.1.2011)] B5 Rekonstruktion der Altis; Modell im Museum von Olympia [http://www.gottwein.de/imag02/ol_pl03a.jpg (8.1.2011)] 70 4 BAUSTEIN III – GESCHICHTE DER POLEIS, POLITISCHE ORDNUNGEN UND GESELLSCHAFTEN IN SPARTA UND ATHEN Um die Rolle der Olympischen Spiele im alten Griechenland zu verstehen, ist es notwendig, die damalige Staatenwelt Griechenlands zu verstehen. Mit den Poleis gab es eine nahezu einzigartige Gesellschafts- und Staatsform, welche mit heutigen Begriffen schwer zu beschreiben ist. Die einfachste Übersetzung ist wohl die eines Stadtstaates, doch erfasst diese Definition keinesfalls die gesamte Komplexität der Sache. Zum einen bestand eine Polis grundsätzlich aus mehr als nur einer Stadt. Ebenso gehörte das umliegende Land mit seinen landwirtschaftlichen Flächen dazu, welche der Versorgung der gesamten Polis dienten. Zum anderen definierten sich die Poleis weniger über ihre territoriale Fläche, als mehr über ihre Bürgerschaft. Die meisten der alten Griechen werden sich weniger als „Griechen“, sondern vielmehr als „Athener“, „Spartiaten“, „Korinther“ oder „Thebaner“ bezeichnet haben. Die Vollbürger waren häufig das bestimmende Element der Politik. Für Schüler heute ist aber der Fakt schwer vorstellbar, wie man kein Bürgerrecht innehaben kann. Im alten Griechenland war dies jedoch sogar der vorherrschende Fall. Einen großen Teil der Bevölkerung einer Polis stellten geduldete Fremde und Sklaven. Das Sklaventum im antiken Griechenland unterlag einem breiten Spektrum. Es unterschied sich durch die Umstände, durch die man in diesen Status rutschte, noch mehr aber durch die vielen möglichen Lebensumstände, in die Sklaven geraten konnten. Sklave konnte man unter anderem durch Geburt als Sklavenkind werden. Andere Möglichkeiten waren Schuldsklaverei, welche auch in Athen lange Zeit üblich war und erst spät durch die Reformen Solons verboten wurde, oder Gefangennahme nach militärischen Konflikten. So galt es in der griechischen Welt als vollkommen normal, Kriegsgegner nach dem Sieg als Sklaven mit in die Heimat zu nehmen. Die Einsatzmöglichkeiten für Sklaven waren vielfältig. Vom landwirtschaftlichen Arbeiter, dem verhältnismäßig guten Leben als Privatlehrer, bis zur mit früher Sterblichkeit verbundenen Kinderarbeit in den Bergwerken war nahezu das gesamte Feld der Wirtschaft vertreten. Eine besondere Rolle spielte das Sklaventum in Sparta. Dort hatten die Spartiaten die ursprüngliche Bevölkerung der Umgebung komplett in einer Staatssklaverei unterdrückt. Diese „Heloten“ mussten quasi sämtliche Arbeiten für die Spartiaten übernehmen, welchen damit erst ihre Lebensführung, die komplette Ausrichtung auf das Kriegswesen und das ganztägige körperliche Training ermöglicht wurde. Die Vollbürgerschaft hatte nur ein sehr geringer Teil der Bevölkerung einer Polis inne. Voraussetzungen waren dabei meist die Geburt als Kind zweier Vollbürger sowie das männliche Geschlecht und das Erreichen des Erwachsenenalters (dieses scheint sich in den einzelnen Poleis zu unterscheiden, zu finden sind Zahlen zwischen 18 und 21 Jahren). Der Status eines Vollbürgers brachte politische Rechte wie aktives und passives Wahlrecht, Teilnahme an der Volksversammlung und damit die Möglichkeit zur Beeinflussung von Gesetzesbeschlüssen. Mit diesen Rechten gingen 71 aber auch Pflichten einher, wie nach Reichtum gestaffelte Steuern und Abgaben für das Gemeinwohl, sowie persönliche Beteiligung am militärischen Geschick der Stadt. Jeder Vollbürger war verpflichtet, bei Konflikten mit anderen Poleis selbst zu Waffe und Schild zu greifen und mit seinem Leben für die Heimatstadt einzustehen. Dies war nicht selten der Fall. Krieg zwischen einzelnen Poleis war durchaus die Regel und jeder alte Mann hatte in seinem Leben meist mehrfach auf dem Schlachtfeld gestanden. Einer der größten militärischen Konflikte der damaligen Zeit war der Peloponnesische Krieg (431–404 v. Chr.). In ihm standen sich die beiden vorherrschenden Mächte Griechenlands jeweils auf dem Höhepunkt ihrer Kräfte gegenüber: Athen mit dem Delisch-Attischen Seebund auf der einen Seite, Sparta und der Peloponnesische Bund auf der anderen. Entflammt war dieser Konflikt an der immer aggressiver werdenden Politik Athens. Wurde der Seebund zur Verteidigung gegen die Persische Invasion gegründet, nutzte Athen ihn in der Zeit der Pentekontaetie als Druckmittel zum Ausbau der eigenen Vorherrschaft. Mit dem Bau einer Mauer um den Hafen von Piräus wurde man von der Festlandsseite nahezu unverwundbar. Beides erweckte das Misstrauen Spartas. Durch Konflikte Athens mit Megara und Korinth, beide Verbündete Spartas im Peloponnesischen Bund, sowie einen Überfall Thebens auf das mit Athen verbündete Plataiai kam es letztlich zum offenen Krieg zwischen beiden Seiten. Dabei sahen die Streitkräfte beider Seiten sehr verschieden aus: Während Athen vor allem auf seine übermächtige Flotte setzte, war Sparta eine typische Landmacht mit einem großen Aufgebot an Fußtruppen. Diese fielen im Kriegsverlauf fast jeden Sommer in Attika ein und verwüsteten das Land, konnten allerdings aufgrund der attischen Befestigungsanlagen der Stadt selbst nichts anhaben. Die Flotte des Seebundes verheerte derweil die Küsten des Peloponnes. Eine Seuche in Athen forderte im Jahr 430 v. Chr. ca. ein Viertel der Bevölkerung, darunter den Anführer Perikles. Im weiteren Verlauf des Krieges ist quasi die gesamte griechischsprachige Welt involviert. Der Sizilienfeldzug (415–413 v. Chr.) des Atheners Alkibiades endete im Fiasko: Die entsandte Flotte von 100 Trieren wurde zerstört und die 1500 attischen Hopliten gerieten nahezu gänzlich in Gefangenschaft, in der ein Großteil verstarb. Während sich Sparta mit dem Verzicht auf die kleinasiatischen Poleis mit dem Perserreich verbündete und so auch im Osten einen starken Fürsprecher erhielt, sorgte der andauernde Kriegsdruck und die damit einhergehende Unzufriedenheit der Athener Bevölkerung zu einem Umsturz der Verfassung. Erst 410 v. Chr. wurde die Demokratie wieder eingerichtet. Mit voller Unterstützung Persiens und unter der Führung Lysanders setzte sich Sparta schließlich durch. Athens Flotte war vernichtet, die Stadt selbst belagert. Im Jahr 404 v. Chr. kam es letztlich zur Kapitulation. Sparta stand als offizieller Kriegssieger fest, doch um welchen Preis? Der Verlust vieler Spartiaten im Kampf sollte den Niedergang Spartas einleiten. Beide Seiten hatten ihre Kräfte aneinander aufgerieben, wirkliche Gewinner dieser Schwächungen waren andere Poleis und das Perserreich, dass nun keinen Gegner mehr in Kleinasien zu fürchten hatte. 72 Kenntnisse der griechischen Staatenwelt und die ständigen militärischen Konflikte sind grundlegend für das Verständnis, welche Rolle die Olympischen Spiele und Notwendigkeiten, wie z. B. die Ekecheiria, hatten. Auch der Konkurrenzgedanke und die Wettkampfdisziplinen selbst stehen in einem ganz anderen Licht, wenn der militärische Hintergrund beachtet wird. 4.1 Q1 Die griechische Polis Aristoteles „Die Polis ist die Menge der Politen, die zur Selbstgenügsamkeit des Lebens hinreichend ist.“ [Baltrusch, Ernst: Sparta. Geschichte Gesellschaft, Kultur, München 1998, S. 20] A Vergleicht diese Beschreibung des griechischen Stadtstaates mit heutigen Definitionen von „Staat“. Recherchiert hierzu verschiedene Definitionen in Lexika und dem Internet. M1 Begriffsbestimmung Polis „Das Polisgebiet umfasste neben den Siedlungszentren auch die landwirtschaftlichen Nutzflächen, die die Einwohner mit dem Lebensnotwendigen versorgten. Jede Polis hatte eine Akropolis (Bergburg), einen Versammlungs- und Marktplatz (agora), Amtsgebäude, Tempel und Heiligtümer und (meistens) eine Mauer zum Schutz vor Feinden.“ [Baltrusch, Ernst: Sparta. Geschichte Gesellschaft, Kultur, München 1998, S. 21] A Zeichnet grob den möglichen Aufbau eines Polisgebietes. AT 1 Im alten Griechenland wurde jeder Bürger nach seinem Wert für die Gemeinschaft bewertet. Daran geknüpft war auch die Vergabe politischer Mitbestimmungsrechte. Als wertvollste Leistung wurde militärische Leistungsfähigkeit angesehen, die auch daran gemessen wurde, welche Ausrüstung in Form von Waffen, Rüstung oder gar Pferden man sich leisten konnte. 73 Q2 Sokrates, zum wohlhabenden Bürger Kritoboulos [Aufgrund unklarer Rechteverhältnisse entfernt. Referenz: Xenophon: Oikonomikos 2,5–8, zit. nach Barceló, Pedro: Kleine griechische Geschichte, Darmstadt 2004] A1 Begründet die Wichtigkeit militärischer Leistungskraft für die Polis. Nach welchen Maßstäben werden politische Rechte heute verteilt? Beurteilt beide Verfahren. A2 Beschreibt die Pflichten, die reichen Athener Bürgern gesellschaftlich auferlegt wurden. Wie beurteilt ihr dieses Verfahren? AT 2 In nahezu allen Poleis gab es drei Grundzüge politischer Institutionen: Eine Volksversammlung, an der alle erwachsenen männlichen Vollbürger teilnehmen durften, einen Adels- oder Ältestenrat sowie personell gebundene (und meist zeitlich beschränkte) Ämter für Krieg, Rechtsspruch und Finanzfragen. A 4.2 A Häufig kam es dazu, dass eine dieser Institutionen eine gewisse Dominanzposition gegenüber den anderen durchsetzte. Ordnet dafür die Begriffe „Demokratie“, „Aristokratie“ und „Monarchie“ zu. Erläutert, unter welchen Umständen sich diese Vormachtstellungen in der Polis herausgebildet haben könnten. Athen und Sparta Erklärt kurz, was ihr heute unter dem Begriff „spartanisch“ versteht. AT 3 Die Erziehung eines Jungen, wie sie in Sparta verlief, war auch für die antike Welt einzigartig. Wurde er als Sohn zweier Vollbürger geboren, so wurde er bereits als Säugling auf gesunden Wuchs und spätere Kampftauglichkeit untersucht. Fiel das Urteil negativ aus, wurde das Kind im Gebirge zum Sterben ausgesetzt, da es für die 74 Gemeinschaft keinen Wert hatte. Bis zum Abschluss ihres 7. Lebensjahres wurden die Kinder im Elternhaus mit den Grundzügen des spartanischen Lebens vertraut gemacht, welches nicht nur Hunger als abhärtende Entbehrung vorsah. Mit dem 8. Lebensjahr verließ der Junge die Eltern; von nun an übernahm der Staat seine Erziehung. In „Herden“ eingeteilt, wurde er nun mit vielen Gleichgesinnten einem jugendlichen Aufseher unterstellt. Sie aßen und schliefen gemeinsam, während sie tagsüber weiter an der körperlichen Ausbildung arbeiteten. Einmal jährlich wurden sie öffentlich ausgepeitscht. Im Alter von 14 Jahren begann das Soldatentraining. Darunter fiel neben der obligatorischen Ausbildung von Kraft, Ausdauer und Kampffertigkeiten auch das Schlafen auf mitgeführten Schilfmatten oder das einjährige Tragen desselben dünnen, roten Mantels. Dieser war am Ende des Jahres meist stark verschlissen und wärmte nur noch sehr mangelhaft. Dennoch wurde er mit Stolz als Zeichen für das Ertragen großer Entbehrungen getragen. Mit 18 war die Ausbildung abgeschlossen, doch bis zum Alter von 30 Jahren blieben die Männer kaserniert. Erst mit 60 Jahren wurden sie aus dem Militärdienst entlassen. A Erläutert, welche Ausrichtungen des spartanischen Staates sich bereits in der Erziehung darstellen. AT 4 Kleisthenes teilte das Gebiet Athens neu auf: Küste, Land und Stadt wurden in je 10 Bereiche (Trittyen) untergliedert. Je eine Trittys aus jeder dieser verschiedenen Regionen bildete mit den anderen eine Phyle. Somit beinhaltete jede Phyle Bürger aus ganz verschiedenen Lebensräumen. Alle erwachsenen männlichen Vollbürger (ca. 30.000 Personen bei ca. 300.000 Einwohnern) durften an der Volksversammlung (Ekklesia) teilnehmen, welche das zentrale Element der attischen Verfassung darstellen sollte. Entsprechend ihres Bevölkerungsanteils wurden aus jeder Region der Polis Mitglieder der Volksversammlung durch Los in den Rat der 500 (Boule) berufen. Dessen vorbereitender Ausschuss wechselte täglich den Vorsitz. Legten die Ratsmitglieder fest, welche Themen der Volksversammlung vorgelegt wurden, war diese doch schließlich für Gesetzgebung sowie Wahl und Amtsüberwachung von Beamten (Archonten) zuständig. Pro Jahr wurden per Los 6000 Bürger zu Laienrichtern ernannt. Der Areopag, dem alle ehemaligen Archonten angehörten, verlor einen Großteil seiner Macht und stellte schließlich nur noch den höchsten Gerichtshof der Polis dar. A1 Fertigt ein Verfassungsmodel Athens nach den Reformen des Kleisthenes an. A2 Bewertet diese Verfassung und begründet euer Urteil. 75 M1 Verfassung Spartas 5 Ephoren (Überwachung der Rechtseinhaltung mit Strafmöglichkeiten von Verbannung bis Hinrichtung, auch der Könige) 2 Könige Gerusia (Agiaden-/Eurypontiden-Dynastie; Heerführer) (28 Männer über 60 Jahre + Könige; Gesetzesvorlagen) für 1 Jahr lebenslang Apella (Versammlung aller Spartiaten; Gesetzesbeschluss) Perioiken (frei, aber ohne politische Rechte) Heloten (Staatssklaven) A1 Skizziert die Verfassung Spartas in einem kurzen Text. A2 Vergleicht die Verfassungen Spartas und Athens. A3 Ordnet eine Staatsordnung (Demokratie, Monarchie etc.) Sparta und Athen zu. Begründet eure Entscheidung. 76 4.3 Q3 Der Peloponnesische Krieg Rede der Korinther an Sparta über den Aufstieg Athens „Und daran seid ihr schuld; denn ihr habt sie nach den Perserkriegen erst ihre Stadt befestigen und dann die langen Mauern bauen lassen und damit nicht nur ihre bisherigen Untertanen, sondern jetzt auch eure Bundesgenossen für immer der Freiheit beraubt. Nicht wer die Ketten schmiedet, sondern wer das hindern kann und nicht hindert, ist der wirklich Schuldige, mag er sich auch noch so viel darauf zugute tun, der Befreier Griechenlands zu heißen.“ [Thukydides, Geschichte des Peloponnesischen Krieges, I, 69, Übersetzung nach Theodor Braun, Leipzig 1917] A Informiert euch anhand verschiedener Quellen über die Perserkriege und gebt eine kurze Zusammenfassung darüber. Beachtet dabei besonders die Rolle Spartas. B1 Sparta und seine Verbündeten [http://www.antikreisen.de/greece/geographie, vom Verfasser überarbeitet (19.6.2013)] 77 A Vergleicht die Einflussgebiete Athens und Spartas im Peloponnesischen Krieg und kennzeichnet die militärische Taktik beider Seiten. Q4 Thukydides zum Konflikt zwischen Sparta und Athen „Wahrscheinlich habt ihr noch nie daran gedacht, mit wem ihr es zu tun habt und wie sehr die Athener euch in vieler Beziehung überlegen sind. Bei ihnen macht man sich jede Erfindung gleich zunutze, hat immer neue Ideen und weiß sie sofort praktisch zu verwerten. Ihr dagegen hängt immer am Alten, habt überhaupt keine Ideen, und selbst das Notwendigste unterbleibt.“ [Thukydides, Geschichte des Peloponnesischen Krieges, I, 70, Übersetzung nach Theodor Braun, Leipzig 1917] A Erstellt anhand von B 1 und Q 3 eine Charakterisierung der beiden Konfliktparteien. Bezieht dabei auch die Verfassungsmodelle (siehe oben) ein. Q5 Thukydides über den Peloponnesischen Krieg „Schon als das feindliche Heer noch in der Ebene stand und noch nicht in die Küstengegend vorgedrungen war, hatte Perikles hundert Schiffe zu einer Fahrt nach dem Peloponnes rüsten lassen und ging damit […] in See. Er hatte viertausend athenische Hopliten und außerdem […] dreihundert Reiter an Bord. […] Als die Athener mit dieser Flotte in See gingen, ließen sie die Peloponnesier im attischen Seelande ihr Wesen ruhig weitertreiben und wandten sich nach Epidaurus im Peloponnes, wo sie das Land weit und breit verheerten und einen Angriff auf die Stadt unternahmen. Von Epidaurus fuhren sie weiter und verheerten das Gebiet […] an der peloponnesischen Küste. Von dort gingen sie wieder in See und kamen nach Prasiai […] und verheerten die Umgegend, nahmen auch die Stadt selbst ein und zerstörten sie. Danach fuhren sie wieder nach Hause, trafen aber die Peloponnesier, die inzwischen abgezogen waren, in Attika nicht mehr an.“ [Thukydides, Geschichte des Peloponnesischen Krieges, II, 56, Übersetzung nach Theodor Braun, Leipzig 1917] A 78 Fasst den typischen Verlauf eines Kriegsjahres im Peloponnesischen Krieg mit einer Bilderfolge auf einem Wandrelief oder in Form eines Comics zusammen. 5 BAUSTEIN IV – SPORTWETTKÄMPFE Bei den folgenden Sachinformationen handelt es sich um eine knappe Vorstellung der einzelnen Sportarten und Wettkämpfe der olympischen Spiele in der Antike. Es könnte deutlich ausführlicher auf bestimmte Wettkampfregeln und Techniken in den einzelnen Disziplinen eingegangen werden, vielmehr geht es aber darum, einen Einblick in die Vielfalt der Disziplinen zu geben, und somit ihr Potential für den Geschichtsunterricht aufzuzeigen. 5.1 Leichtathletik im antiken Olympia (gymnische Agone) Heutzutage wird der Beginn der Olympischen Spiele auf das Jahr 776 v. Chr. datiert. Diese Einordnung folgt einer Arbeit des Sophisten Hippias aus Elias. Er entwickelte diese Datierung auf Grundlage der verschollenen Unterlagen des olympischen Archivs, das unter anderem alle Sieger bei den Olympischen Spielen enthält.61 Das Programm in der Leichtathletik im antiken Olympia enthielt Laufwettbewerbe und den Fünfkampf (Pentathlon). Zu den Laufwettbewerben gehörten der Stadionlauf, der Doppelstadionlauf, der Langlauf und der Waffenlauf. Der Fünfkampf bestand aus Diskuswurf, Weitsprung, Speerwurf, Lauf- und Ringkampf. Doch die ersten dreizehn Olympiaden hatten nur eine Disziplin, nämlich den Kurzstreckenlauf. Laufwettbewerbe Das olympische Stadion (d. h. die Entfernung für den olympischen Kurzstreckenlauf) war 192 m lang. Welcher Athlet zuerst das Ziel eines Laufes erreichte, hatte den Wettkampf gewonnen, da die Griechen keine Stoppuhren besaßen. Die Laufbahn wurde vor dem Wettkampf angefeuchtet und festgewalzt. Der Start erfolgte wahrscheinlich durch ein Kommando oder einen Trompetenstoß und wurde zumindest beim Stadionlauf als Tiefstart durchgeführt. „An Wettkampfregeln lässt sich aus der Überlieferung folgendes erkennen: Untersagt war der Frühstart; Athleten die einen Fehlstart machten, wurden mir körperlicher Züchtigung bestraft. Verboten waren ferner alle Behinderungen der Konkurrenten, also Bahnkreuzen, Festhalten, Wegdrängen usw. Nach literarischen Quellen entwickelte sich am Startplatz dasselbe von Spannung und Nervosität bestimmte Treiben wie heute. Die Läufer lockerten ihre Muskeln durch Schütteln und Massieren, legten kleine Probestarts mit kurzen Spurts ein, sie machten sich warm und suchten ihre Nerven zu beruhigen, kurz: Sie taten das, was wir auch heute vor dem Start bei Sportveranstaltungen auf höchster Ebene beobachten können.“62 61 Rudolph, Werner: Olympischer Kampfsport in der Antike. Faustkampf, Ringkampf und Pankration in den griechischen Nationalfestspielen, Berlin 1965, S. 9. 62 Ebd., S. 66. 79 Die erste Laufdisziplin bei den Olympischen Spielen in der Antike war der Kurzstreckenlauf (Stadionlauf). Die Distanz, die die Läufer bei diesem Wettkampf zurücklegen mussten betrug 192 m. Da sich für die Stadienläufe meist sehr viele Menschen angemeldet hatten, wurden Vorläufe durchgeführt. Wahrscheinlich wurde durch ein Losverfahren bestimmt, dass vier Mann pro Gruppe an den Start gingen. Am Zieldurchlauf stand ein Wettkampfrichter, welcher über Sieg und Niederlage entschied. Der Doppelstadionlauf, auch Diaulos genannt, war eine weitere Disziplin. Die Distanz, die die Läufer zurücklegen mussten, betrug zweimal 192 m. Etwas unklar ist, wie die Athleten in der Antike bei diesem Stadionlauf gewendet haben. Es gibt drei verschiedene Möglichkeiten, wie die Sportler den Wendevorgang durchgeführt haben können: „Erstens könnte nach Passieren der am anderen Ende liegenden Schwelle eine Kehrtwende gemacht und in derselben Bahn zurückgelaufen worden sein. […] Zweitens konnte man um einen Posten herum […] in die benachbarte Laufbahn eingebogen sein. […] Eine dritte Möglichkeit kann darin bestanden haben, dass man die Läufer in einem Pulk um eine Wendesäule herumlaufen ließ.“63 Die Distanz im Langlauf (Diaulos) betrug nach unterschiedlichen Überlieferungen zwischen 1345 m und 4610 m. Nach Überprüfungen wurde festgestellt, dass die Distanz wahrscheinlich etwa 3850 m betrug. Die Läufer mussten beim Wettkampf neunmal wenden und taten dies um einen Pfahl herum. In der 65. Olympiade wurde die Disziplin des Waffenlaufs eingeführt. Die Athleten trugen bei diesem Lauf ursprünglich alle Schutzwaffen, Panzer, Beinschienen, Schild und Helm. Danach reduzierte sich die Anzahl der Rüstungsteile immer mehr, bis die Athleten nur noch mit einem Schild liefen. Wichtig in diesem Wettkampf waren zum Beispiel die Form des Schildes und die Lauftechnik der Athleten. „Wie bei anderen Sportarten traten auch beim Waffenlauf gelegentlich besonders vielseitig begabte Athleten an, die unter Umständen den Trainingsfleiß ihrer Konkurrenten durch bessere Laufleistungen übertrafen. So gelang als erstem Phanas aus Pellene (67. Olympiade; 512 v. Chr.) der Sieg im Stadionlauf, im Doppelstadionlauf und im Waffenlauf. Von Leonidas aus Rhodos (154. Olympiade; 164 v. Chr.) und anderen wird die gleiche Leistung überliefert. Solche Läufer wurden mit der ehrenvollen Bezeichnung Triastes (Dreifachsieger) ausgezeichnet.“64 Außerdem gab es auch Wettkämpfe für Frauen, zu Ehren der Göttin Hera, die außerhalb des normalen olympischen Programms stattfanden. Die Frauen traten in drei unterschiedlichen Altersklassen bei diesem Laufwettbewerb an. Die Laufstrecke der Mädchen betrug 160,22 m, also fünf Sechstel der normalen Stadionstrecke. „Die Läuferinnen liefen 63 64 Rudolph, S. 68. Ebd., S. 75. 80 mit offenem Haar in einem hemdartigen Gewand von Minilänge, die rechte Schulter und die rechte Brust blieben unbedeckt.“65 Diskuswerfen Der Diskus ist ein modernes Sportgerät, das uns aus der Antike überliefert worden ist. Die meisten der antiken und modernen Geräte kamen aus dem Waffenbereich, wie zum Beispiel Speer, Hammer, Pfeil und Bogen, nicht aber der Diskus. Es gibt unterschiedliche Funde von Disken, die in ihrer Größe, ihrer Form, ihrem Gewicht und ihrem Material variierten. Das Diskusmaterial veränderte sich von Zeit zu Zeit. Anfangs wurden die Disken im antiken Griechenland aus Stein angefertigt, dann aus Holz und später aus Bronze. Der Durchmesser der gefundenen Disken variiert zwischen 17 und 23 cm. Das Gewicht des Wurfgerätes lag wahrscheinlich bei 5 kg. In verschiedenen literarischen Quellen wird berichtet, dass das Gewicht der Sportgeräte bei den Olympischen Spielen vorgeschrieben war. Der Diskus wurde wahrscheinlich mit einer Körperdrehung geworfen. Mehrere Drehungen hätten mehr Schwung und eine höhere Geschwindigkeit erzeugt und vielleicht Zuschauer getroffen, da das Stadion ja nur 30 m lang war. Nach Überlieferungen erreichte Phyallos von Kroton eine Wurfweite von 28,10 m. Weitsprung Der Weitsprung war auch schon eine olympische Disziplin in der Antike. Es gibt jedoch unterschiedliche Meinungen über die Technik beim Sprung und die Art des Weitsprungs: „[…] Phyallos aus Kroton soll 55 Fuß (solonisch-attischer Fußlänge), also 16,28 m, der mehrfache Olympiasieger auf der Kurz- und Mittelstrecke Chionis aus Sparta (28.–31. Olympiade, 668–656 v. Chr.) soll 52 Fuß olympischen Maßes (16,66 m) und ein unbekannter Athlet aus Delos soll 50 Fuß äginäisch-attischen Maßes (16,40 m) weit gesprungen sein.“66 Es wurden verschiedene Vermutungen aufgestellt, wie die Athleten die Weite letztendlich erreicht haben (z. B. Tiefenweitsprung, Dreisprung, Stabsprung usw.). Literarische Quellen und Bildquellen berichten davon, dass beim Weitsprung Sprunggewichte benutzt worden sind. Der Weitsprung wurde aus dem Stand durchgeführt. Archäologische Funde zeigen die Gewichte in unterschiedlicher Form, Größe und Material. Sie waren entweder aus Blei oder Stein hergestellt und ihr durchschnittliches Gewicht betrug etwa 2,5 kg. Die Form der Gewichte ähnelte der einer Hantel. Die Hanteln halfen den Sportlern, sicher im Sand zu landen und nicht umzufallen, denn ein sicherer Stand gehörte zu den Regularien der Olympischen Spiele. Wenn ein Athlet nicht sicher landete, wurde der Sprung nicht gewertet. Die Sportler sprangen 65 66 Rudolph, S. 76. Ebd., S. 85. 81 in eine Sandgrube (Skamma), die etwa 50 Fuß lang war. Sie wurde genauso wie heute durch Auflockern und Harken des Sandes für den nächsten Springer präpariert. Speerwurf Der Speerwurf war eine Disziplin im Fünfkampf. Der Speer gehörte zu den ältesten Waffen im alten Griechenland und wurde auch zur Jagd benutzt. Der Speer in der Antike bestand wie in der heutigen Zeit aus Holz und war etwa 2 m lang. Die heutigen Speere haben eine Länge von 2,6 m. Das Wurfgerät hatte eine metallene Spitze. Die Speere in der Antike hatte im Gegensatz zur Moderne eine Schlaufe oder Wurfschnur. Durch diesen Riemen wurde der Speer gestrafft und dann geschleudert. „Zum Wurf wurde der Speer zwischen Daumen und Zeigefinger gelegt, die Spitzen von Zeigefinger und Mittelfinger erfassten die Schlaufe, und die Schnur wurde durch das Drehen des Speeres gestrafft. Beim Abwurf vermittelte die ablaufende Schnur dem Speer einen Drall, die Fingerspitzen glitten aus der Schlinge, und der Speer flog mit der Schnur davon. Die Verwendung der Schnur brachte zwei Vorteile. Einmal ließ sie den Armzug länger wirken, erteilte damit dem Speer eine größere Geschwindigkeit und verbesserte so die Wurfleistung. Zweitens ermöglichte der Drall dem Speer einen ruhigen Flug und sichere Landung.“67 Ermittlung der Sieger des Fünfkampfes Der Fünfkampf war zweifelsohne eine der schwierigsten Disziplinen bei den Olympischen Spielen in der Antike. Er vereinigte drei Leichtathletik-Disziplinen (Stadionlauf, Doppelstadionlauf, Weitsprung) mit schwerathletischen Disziplinen. Die Vielseitigkeit des Fünfkampfes machte die Athleten in dieser Disziplin zu den Stars unter den Sportlern in Olympia. Aus alten Überlieferungen lässt sich die Siegerermittlung im Fünfkampf nicht ganz genau rekonstruieren, denn sie unterschieden sich in manchen Punkten. Sieger wurde jedoch derjenige, welcher drei der fünf Wettkämpfe für sich entscheiden konnte. Der Fünfkampf konnte demnach wahrscheinlich schon nach drei Disziplinen beendet sein. Natürlich könnte der Wettbewerb auch nach vier Disziplinen beendet sein, wenn einer der Athleten drei für sich entscheiden konnte. War jedoch nach fünf Disziplinen noch kein Sieger ermittelt, so musste der Ringkampf über Sieg und Niederlage entscheiden. 67 Rudolph, S. 89. 82 5.2 Schwerathletik bei den Olympischen Spielen Die Schwerathletik bei den antiken Olympischen Spielen bestand aus drei verschieden Disziplinen: Faustkampf, Ringkampf und Pankration. Die Kampfsportarten wurden erst nach der Leichtathletik bei den Olympischen Spielen als Wettkampf eingeführt. Faustkampf Wichtig für den Faustkampf bei den Olympischen Spielen waren die Regeln und die Faustbekleidung, die die Sportler trugen. Schon bevor der Faustkampf eine Olympische Disziplin wurde, kämpften die Athleten nicht mehr mit der bloßen Faust. Die Sportler benutzten Riemen mit denen sie ihre Knöchel vor Verletzungen schützten und auch den Gegner durch die Lederriemenpolsterung nicht zu stark verletzten. Einen Boxring wie heutzutage gab es in der Antike wahrscheinlich noch nicht und auch das zeitliche Rundenlimit wird es vermutlich noch nicht gegeben haben. „Der antike Faustkampf beanspruchte ebenso wie das moderne Boxen den ganzen Körper und brachte dem Faustkämpfer einen kraftvoll-elastischen, voll durchgebildeten Körper.“68 Das Umklammern oder Festhalten des Gegners war so wie heute auch schon in der Antike untersagt. Wahrscheinlich war es im antiken Boxen anders als im modernen Boxen, dass alle Angriffe nur in Richtung des Kopfes des Gegners gemacht wurden. Die Schläge, die die Boxer in einem Faustkampf schlugen, waren, ähnlich wie heute, Haken, Schwinger und Geraden. Wichtig war aber nicht nur der Angriff, sondern vielmehr die Verteidigung. Diese Verteidigung musste vom Sportler aktiv durchgeführt werden, um Treffer des Gegners zu verhindern. Dazu war auch eine gute und schnelle Fußarbeit von Bedeutung. Den Kampf gewinnen konnte nur der Athlet, der entweder einen technischen KO oder einen KO am Gegner setzen konnte. Der Wettbewerb im Faustkampf war nicht wie im heutigen Boxen in Gewichtsklassen unterteilt. Somit wurden leichte und benachteiligte Sportler nicht zu den Wettkämpfen zugelassen. Ringkampf Der Ringkampf der antiken Olympischen Spiele unterschied sich wesentlich von dem heute praktizierten Ringen. Beim heutigen Ringkampf wird in griechisch-römisch und in Freistil unterschieden. In der Antike lag die Unterscheidung im Ringen in einer Einzeldisziplin, dem Ringkampf als Teil des Mehrkampfes und dem Ringen der jugendlichen Athleten. Um die Regeln des antiken Ringkampfes rekonstruieren zu können, bietet sich die Ilias von Homer an. Homer beschreibt in seinem Werk sehr 68 Rudolph, S. 102. 83 genau einen Ringkampf zwischen Aias und Odysseus. Die Regeln des antiken Ringkampfes lassen sich aus der Quelle folgendermaßen herleiten: 1. Der antike olympische Ringkampf war ein Standkampf. Als Sieger aus dem Kampf ging derjenige hervor, dem es gelang seinen Gegner dreimal auf den Boden zu zwingen. 2. Am ganzen Körper dürfen Griffe angesetzt werden. 3. Gegen das Bein zu schlagen war beim antiken Ringkampf erlaubt. 4. Wenn beide Kämpfer gleichzeitig fallen, entscheidet der Ringrichter, wer den anderen zu Fall gebracht hat. 5. Es ist nicht erlaubt, den Gegner durch Würgen oder Schlagen zur Aufgabe zu zwingen. Die Ausbildung eines Ringers in der Antike bestand aus Theorie und Praxis. Der Ausbilder versuchte, den Ringern Paraden und die technisch richtige Ausführung von Griffen zu vermitteln. Außerdem mussten die Ringer gewisse Anforderungsprofile erfüllen. Sie mussten beim Kampf geistesgegenwärtig und auch reaktionsschnell sein. Der antike Ringer musste ebenfalls körperliche Voraussetzungen erfüllen. Das bedeutete, er musste geschickt, gelenkig und wendig sein. Entscheidend waren ebenfalls Größe, Gewicht und Kraft. Der wesentliche Unterschied zwischen dem Ringkampf in der Antike und dem heutigen Ringen besteht also darin, dass es in der Antike keinen Bodenkampf gab. Es gab nur die Kopf-, Hüft- und Schulterwürfe und griffe. Einen Bodenkampf gab es aber beim Pankration. Pankration Der Pankration wurde als dritte Sportart bei den 33. Olympischen Spielen eingeführt (ca. 664 v. Chr.). Der Pankration setzt sich aus Elementen des Ringkampfes und des Faustkampfes zusammen. Ziel war es, den Gegner kampfunfähig zu machen und zur Aufgabe zu zwingen. Die Unterschiede zum Faustkampf und Ringkampf waren, dass die Hände unbewaffnet blieben und auch am Boden weitergekämpft wurde. Es durften Fäuste, Arme, Beine und Füße zum Angriff und auch zur Abwehr benutzt werden. Außerdem durfte mit Fuß und Knie getreten werden, Gelenke verdreht und gewürgt werden. Faustschläge hatten im Pankration einen eher defensiven Charakter. Der Kampf wurde meistens am Boden entschieden. Zum größten Teil waren es Würgegriffe und Verdrehungstechniken, die einen der Athleten zur Aufgabe zwangen. Größtenteils war beim Pankration alles erlaubt, außer Kratzen und Beißen. Wenn der Ringrichter Regelwidrigkeiten im Verlauf eines Kampfes beobachten konnte, wurden diese durch Rutenschläge bestraft. Der besiegte Kämpfer gab den Kampf entweder mündlich auf oder durch ein Klopfen auf die Schulter des Gegners. 84 5.3 Wagenrennen und Pferderennen (hippische Agone) Wie bei den modernen Olympischen Spielen gab es auch schon in der Antike den Pferdesport. Da der Pferderennsport im antiken Griechenland eine teure Angelegenheit war, blieb er meistens den Menschen der höheren Klassen vorbehalten. So hatten die Reichen Griechenlands die Möglichkeit, Ruhm zu erlangen, ohne sich selbst dafür anzustrengen. Die Besitzer von Pferden oder Viergespannen durften auf der Tribüne den Rennen beiwohnen und konnten sich nach dem Rennen als Sieger krönen lassen. Die Wagen, die bei den Olympischen Spielen benutzt wurden, waren die gleichen Schlachtwagen, die auch in Kriegen gebraucht wurden. „Auf einem einachsigen Fahrgestell mit niedrigen, meist vierspeichigen Rädern befand sich ein nach hinten offener Kasten, vorn mit einer kniehohen Brüstung versehen, die etwa einer halben Ellipse glich. Die Wagen waren ungefedert, die Fahrer, die im Stehen die Pferde lenkten, mussten mit ihren Kniegelenken die Stöße der Fahrt auffangen und ausgleichen.“69 Die antike Pferderennbahn, das Hippodrom, kann nicht mehr genau rekonstruiert werden. Wissenschaftler gehen jedoch davon aus, dass die Bahn ca. zwei Stadien, also ungefähr 770 m lang war. „Die Rennbahn selbst entwickelte sich aus ganz einfachen Verhältnissen, wie sie die Patroklosspiele kennzeichnen, wo auf freier Ebene ein Rennen um ein Wendemal […] und zurück zur Ausgangslinie führte, […].“70 Die Renndistanzen, die die Sportler zurücklegen mussten, variierten. Die Rundenzahl, die die Wagen zu absolvieren hatten unterschied sich darin, ob die Wagen mit ausgewachsenen Pferden oder Jungtieren starteten. Außerdem hatten Viergespanne mehr Runden zu absolvieren als die später ins olympische Programm aufgenommen Zweigespanne. Laut Pausanias soll es eine besondere Ablaufvorrichtung für die Pferdegespanne im Hippodrom gegeben haben. „Der Ablauf hat die Form eines Schiffbuges, die Spitze zur Rennbahn gerichtet; jede Seite des Ablaufs hat mehr als 400 Fuß Länge (128 m), und in ihnen sind Gelasse eingebaut. Um diese Gelasse wird gelost. An der Spitze des Buges ist ein Delphin auf einer Stange befestigt, weiter hinten befindet sich auf einem Altar ein Adler. Der Rennleiter kann nun mit einer Einrichtung Adler und Delphin bewegen. Dann sinkt der Delphin zu Boden, und der Adler steigt hoch und wird den Zuschauern sichtbar. Daraufhin senken sich die Startseile an den beiden äußersten und letzten Startboxen (rechts und links), und die Pferde aus diesen laufen zuerst ab. Wenn sie auf die Höhe derer kommen, die den zweiten Platz (von hinten) erlost haben, laufen auch diese los (nachdem die Seile sich gesenkt haben), und so geht es weiter, bis sie an der Spitze mit allen Pferden eine Reihe bilden, und nun beginnt die Schaustellung der Fahrer und der Schnelligkeit.“71 Pausanias’ Schilderung lässt auf ein modernes Startboxensystem schließen. 69 Rudolph, S. 54. Weiler, Ingomar: Der Sport bei den Völkern der Alten Welt, Darmstadt 1981, S. 203. 71 Rudolph, S. 55; Pausanias (6;20;10 ff). 70 85 Diese Startanlage macht ebenfalls deutlich, welcher Aufwand unternommen wurde, um eine Chancengleichheit zu schaffen. Beim Wendemanöver kann es im Hippodrom auch zu Unfällen gekommen sein, aber wahrscheinlich waren die Fahrer größtenteils Meister ihres Faches. Leider wurden sie für ihre fahrerische Leistung nicht gelobt, denn als Olympiasieger gingen aus diesen Disziplinen die Pferde und Gespannbesitzer hervor. „Auf diese Weise kamen sogar Frauen zu olympischen Ehren, als erste Kyniska, die Tochter eines spartanischen Königs. Den Ruhm beanspruchten die reichen Griechen gerne für sich, um sich im öffentlichen Leben darzustellen, Interesse zu wecken und sogar Politik zu machen. 5.4 Die musischen Wettkämpfe (musische Agone) Die ersten musischen Wettbewerbe fanden 396 v. Chr. statt. Wahrscheinlich übernahmen die Sieger dieser Wettbewerbe nach der Siegerehrung ihre neuen Aufgaben, z. B. Startsignale zu geben, die Sieger zu verkünden oder die Athleten aufzurufen. Die ersten Olympiasieger der Herolde und Trompeter waren Krates und der Eleer Timaios. Sieger in diesen Disziplinen wurden wahrscheinlich diejenigen, die am lautesten und wohlklingendsten waren. Außerdem ist anzunehmen, dass die Personen in diesen Wettbewerben von Punktrichtern bewertet worden sind. So wie wir es bei heutigen Olympischen Spielen, z. B. beim Turnen oder bei der Gymnastik, vorfinden. Ein zweifelsohne sehr talentierter Trompeter war wohl Herodorus aus Megara, dem es gelang, in zehn Olympiaden als Sieger aus dieser Disziplin hervorzugehen. 86 5.5 B1 Bildquellen Griechische Vase mit der Darstellung von Läufern (ca. 550 v. Chr.) [http://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/a/a9/Greek_vase_with_runners_ at_the_panathenaic_games_530_bC.jpg (8.1.2011)] B2 Pankration [http://www.greektheatre.gr/Pankration.jpg (8.1.2011)] 87 5.6 Aufgaben A1 Sammelt in einem Tafelbild euch bekannte Olympiadisziplinen. A2 Vergleicht diese mit den klassischen Disziplinen. Was fällt euch allgemein auf? Welche Unterschiede zu heute fallen ins Auge? A3 Erarbeitet euch in kleinen Gruppen die Regelgrundlagen der antiken Olympiadisziplinen und stellt sie in der Klasse vor. A4 Erläutert die militärische Bedeutung der Olympischen Spiele in der Antike. Beachtet dabei vor allem die Art der Disziplinen. A5 Recherchiert, welche Rolle die Musik heute bei den Olympischen Spielen spielt. Gibt es ähnliche musische Wettkämpfe wie damals noch heute? Begründet eure Aussagen. 88 6 BAUSTEIN V – NACKTHEIT UND STARKULT 6.1 Nacktheit bei den Olympischen Spielen 6.1.1 Entstehungsgeschichte Laut der häufigsten in der Fachliteratur vertretenen Meinung war die Nacktheit bei den Wettkämpfen der Olympischen Spiele nicht von Anfang an ein selbstverständliches Phänomen. Mit dem Ursprung im 2. Jahrtausend v. Chr. liegend, fanden die ersten regelmäßigen Spiele laut Rekonstruktionen der Siegerlisten wohl im Jahr 776 v. Chr. statt. Doch erst ein Ereignis aus dem Jahre 720 v. Chr. während der 15. Olympiade erwähnt Nacktheit bei den Spielen explizit. Beim damaligen Stadionlauf soll Orsippos von Megara völlig unverhofft seinen Lendenschurz verloren haben, trotz allem aber ungetrübt nackt weitergelaufen sein, was ihm letztendlich den Sieg bescherte. Pausanias fügt hinzu, dass Orsippos dies vorsätzlich tat, da er genau wusste, dass man ohne Lendenschurz einfacher bzw. schneller laufen kann.72 Höchstwahrscheinlich ist dieses Ereignis jedoch der Auftakt zur allgemeinen Nacktheit während der Wettkämpfe der Olympischen Spiele. Die durchtrainierten Körper der Athleten offenbarten den Zuschauern den Inbegriff eines harmonischen Gleichklangs zwischen Körper und Geist. Als Voraussetzung galt, dass nur derjenige seinen Geist entwickeln kann, der auch seinen Körper trainiert.73 Jedoch wurde vor dem Training und den Wettkämpfen der Körper der Athleten auf die bevorstehende Belastung vorbereitet: Der Leib wurde mit Olivenöl eingerieben und anschließend mit feinem Sand bestreut, um ein Grundmaß an Sonnenschutz und eine bessere Regulation der Körpertemperatur zu ermöglichen. Nach dem Wettkampf wurde die inzwischen verkrustete Schicht aus Öl, Sand und Schweiß mit dem Strigilis (Schabeisen) entfernt und die Haut mit einem Schwamm und Wasser gereinigt. Auf der anderen Seite berichtet Thukydides, dass es schon davor in der Tradition der Spartiaten lag, zumindest bei Trainingseinheiten nackt zu üben.74 Diese Theorie unterstützt auch Dionysios von Halikarnassos, welcher den Spartiaten Akanthos als ersten unbekleideten Läufer in Olympia erwähnt.75 Ob allen Sportlern nun vorgeschrieben wurde, nackt bei den Wettkämpfen anzutreten, oder ob es in der Entscheidung jedes Einzelnen lag, kann aufgrund der spärlichen Quellenlage nicht eindeutig nachgewiesen werden. Betrachtet man jedoch das Austragen der Spiele in nacktem Zustand als sich entwickelnden bzw. fortlaufenden Prozess, so kann dessen Abschluss im Jahre 388 v. Chr. gesehen werden, als selbst die Trainer der Ath72 Vgl. Paus. I, 44,1. Diese Einstellung lässt sich auch in der römischen Antike mit dem dort geprägten Ausspruch „mens sana in corpore sano“ wiederfinden. 74 Vgl. Thuk., I, 6. 75 Vgl. Dion. Hal. VII, 72. 73 89 leten unbekleidet sein mussten. Dieser Vorschrift war jedoch ein anderes Ereignis hervorgegangen: Die Mutter (Pherenike oder Kallipateira) des Faustkämpfers Peisirhodos verkleidete sich als Trainer, um den Wettkampf ihres Sohnes mitzuerleben.76 Sie wurde allerdings enttarnt, was die Anordnung der Nacktheit für den Trainerstab mit sich brachte, um solche Vorfälle von vornherein auszuschließen – Frauen waren von der Teilnahme bzw. der Anwesenheit im Publikum während der Spiele offiziell ausgeschlossen. Eine weitere interessante Hypothese bringt L. Drees hervor. Er argumentiert, dass die Änderung zum nackten Ausführen der Wettkämpfe ein tief einschneidendes gesellschaftliches Ereignis gewesen sein muss, da es ursprünglich als beschämend für einen Mann galt, sich in der Öffentlichkeit zu entblößen. Drees bezieht sich konkret auf den Stadionlauf, der direkt aus dem kultischen Hochzeitslauf zu Ehren der Göttin Demeter, lange vor dem Aufkommen der ersten Olympischen Spiele, entstanden sein soll. Dabei wurde Nacktheit als legitim vorausgesetzt – schließlich war kultische Nacktheit weder anstößig noch schändlich für die ausführenden Personen des Kults. Als dieser Hochzeitslauf dann jedoch als Olympische Disziplin zu Ehren des Zeus (Stadionlauf) aufgenommen wurde, verschwand die Nacktheit vorerst als Charakteristik der Fruchtbarkeitsreligion der Demeter, blieb jedoch ständig in den Hinterköpfen präsent. Diese äußerst starke Tradition soll sich somit nach einiger Zeit wiederum durchgesetzt haben, spätestens bis zur 15. Olympiade (720 v. Chr.). Nach und nach wurden auch andere Disziplinen, wie der Ring- und der Faustkampf, nackt ausgeführt, jedoch bleibt unklar, ob sich die Nacktheit auf alle Wettkämpfe ausbreitete. Gerade bei den Pferdewettkämpfen ist dies zweifelhaft, da die wenigen überlieferten Quellen, wie beispielsweise das Bronzestandbild des Wagenlenkers in Delphi, diese Athleten bekleidet darstellen.77 Die Nacktheit während der Olympischen Wettkämpfe wurde erst über 1000 Jahre später nach dem ersten Auftreten wieder abgeschafft. Mit zunehmender Entwicklung, Verbreitung und Bedeutung des Christentums und den damit verbundenen Dogmen, wie Scham, Keuschheit und Unzucht, wurde 393 n. Chr. Nacktheit bei den Olympischen Wettkämpfen verboten. 76 77 Vgl. Paus. V, 6–8. Vgl. Drees, L.: Der Ursprung der Olympischen Spiele, (= Beiträge zur Lehre und Forschung der Leibeserziehung, Bd. 13), 2. Aufl., Stuttgart 1974, S. 126–129. 90 6.1.2 Unterrichtsbezüge Auf den ersten Blick erscheint es beim Thema „Nacktheit bei den Olympischen Spielen“ etwas schwierig, dies angemessen in den Geschichtsunterricht einzubauen. Aus dem sozialkulturellen Blickwinkel ergeben sich jedoch einige Möglichkeiten, den Unterricht unter diesem Thema interessant zu gestalten. Als Auftakt würde sich anbieten, bestimmte Körperpflegerituale der Antike mit den heutzutage gängigen Reinigungsmethoden zu vergleichen. Die auf den ersten Anschein seltsam anmutenden griechischen Praktiken – das Einreiben mit Öl und das anschließende Bestreuen mit feinkörnigem Sand – können getrost relativiert und deren Nutzen in Anbetracht der anstehenden körperlichen Anstrengung und klimatischen Gegebenheiten herausgearbeitet werden. Im Grunde genommen ist die Öl-Sand-Kombination auf der Haut u. a. als Sonnenschutzmittel zu verstehen. Die abschließende Reinigung, verbunden mit dem Abschaben des Sandes von der Haut und dem Waschen mit Wasser, würde heutzutage einem Peeling entsprechen. Dabei werden die oberen abgestorbenen Hautschichten abgelöst, sodass sich neue Hautschichten einfacher herausbilden können bzw. der Haut die Selbstregeneration ermöglicht wird. Besonders Anbieter von WellnessKurzurlauben auf sogenannten „Beautyfarmen“ scheinen diese Methode für sich nutzbar gemacht zu haben und vermarkten diese in nahezu jedem Magazin mit Spezialangeboten. Ein kurzer Exkurs in die Sprachwissenschaft kann ebenfalls am Rande erfolgen, indem auf das Werkzeug zum Abschaben des Sandes eingegangen wird: Der Strigilis hat sich in seiner Wortbedeutung bis heute erhalten und lässt sich in Wörtern wie Striegel oder striegeln wiederfinden. Nur hat sich dessen Verwendung mehr oder weniger vom ursprünglichen Gebrauch durch den Menschen entfernt und ist heutzutage vermehrt in der Tierpflege (zur Fellreinigung/Muskelmassage bei Pferden, Hunden etc.) verbreitet. Im Anschluss kann direkt auf die Frage eingegangen werden, weshalb die Athleten die Wettkämpfe nackt durchgeführt haben. Nach dem Lesen der Quelle über Orsippos, der als erster aufgrund eines Missgeschicks seinen Lendenschurz verlor, aber dennoch den Laufwettbewerb gewann, kann auf die relativ schwache Argumentation der Quelle aufmerksam gemacht werden. Die Anekdote über Orsippos kann einfach nicht hinreichend dafür verantwortlich gemacht werden, dass danach plötzlich alle Athleten ebenfalls nackt zu den Wettkämpfen antraten. Die These vom Vorgänger des Stadionlaufes, des nackt ausgetragenen traditionellen Hochzeitslaufes im Demeterkult, sollte auf jeden Fall erwähnt werden. Inwiefern auf den Wechsel der Göttertraditionen von der mykenischen Zeit (Demeter- bzw. Fruchtbarkeitsverehrung) zur archaisch-griechischen Zeit (olympischer Zeuskult) eingegangen wird, um deren Bedeutung für die (Wieder-)Einführung der Nacktheit bei den Olympischen Spielen herauszufiltern, ist der jeweiligen Lehrkraft vorbehalten, da dieses Thema eventuell zu ausführlich bzw. zu speziell sein könnte. 91 Ein alternativer Ansatz wäre eine Diskussion zum Thema der Vor- bzw. Nachteile, welche durch die nackte Austragung der einzelnen olympischen Wettkämpfe entstehen könnten. Aus rationalen Gesichtspunkten (und der Gegenwartsperspektive) sollten bei der Diskussion die Nachteile der Nacktausübung der Wettkämpfe überwiegen – besonders die Kontaktdisziplinen wie Ringen, Faustkampf oder das Pankration sind im entblößten Zustand durchaus schwerer zu bestreiten und unter Umständen mit einer erhöhten Verletzungsgefahr verbunden. Daneben ist es fraglich, ob die Pferdewettkämpfe bzw. das Wagenrennen ebenfalls nackt ausgeführt worden sind. Schamgefühle konnten zumindest aus geschlechterspezifischer Perspektive kaum entstehen – allen Frauen war die Teilnahme bzw. das Zuschauen an den Olympischen Spielen verboten.78 Betrachtet man das Thema „Nacktheit bei den Olympischen Spielen“ als Aufhänger bzw. Einstieg für weitere Problemstellungen, so bieten sich zahlreiche Möglichkeiten. Ausgehend vom Betrachtungspunkt der Präsentation eines Körperideals, das Körper und Geist als eine Einheit sieht, könnte ein Exkurs in das Thema „antike Philosophie“ unternommen werden. Die Gruppe der Pythagoreer79, welche sich mit naturwissenschaftlichen, sozialen, religiösen und auch musikalischen Thematiken beschäftigte, könnte als Ausgangspunkt für die klassische griechische Philosophie des 5. bzw. 4. Jh. v. Chr. verwendet werden. In dieser sind beinahe unendlich viele thematische Schwerpunkte setzbar – von den Tragödiendichtern Aischylos und Sophokles über die Sophisten Antiphon und Protagoras bis hin zu den Klassikern Sokrates, Platon und Aristoteles. Mit der Frage, weshalb die Nacktheit bei den Olympischen Spielen im 4. Jh. n. Chr. verboten wurde, kann auf den Wechsel der Religionen bzw. die Einführung des Christentums eingegangen werden. Erst zu dieser Zeit entstanden neue Wert- und Normvorstellungen, die unsere Gesellschaft bis heute hin prägen, und Begriffe wie Scham oder Keuschheit erlangten größere Bedeutung. Die Apostelreisen (Paulus) und die langsame Verbreitung des Christentums könnten ebenso reges Interesse wecken, wie Theodosius, der das Christentum zur Staatsreligion machte, und als letzter Herrscher des Gesamtkaiserreiches galt. Die neue christliche Religion ist sogar für die Abschaffung der Olympischen Spiele, welche als heidnischer Ritus betrachtet wurden, durch Theodosius im Jahre 393 n. Chr. mitverantwortlich. Spätestens nach der vollständigen Zerstörung des Zeustempels durch einen Brand im Jahre 426 n. Chr. wurden keine Olympischen Wettkämpfe mehr ausgetragen. 78 79 Das Quellenmaterial 2 (Kallipateira) schildert die drakonische Bestrafung bei Missachtung dieses Gesetzes. Die Pythagoreer sind in diesem Sinne überaus passend, da auch der Ausnahmeathlet Milon von Kroton ihnen angehörte. 92 6.2 Starkult bei den Olympischen Spielen – Milon von Kroton 6.2.1 Entstehungsgeschichte In der Anfangszeit der Olympischen Spiele gab es noch keine, wie heutzutage übliche, klassische Unterscheidung zwischen Amateur- und Profisportlern. Dennoch handelte es sich bei den meisten Sportlern um begüterte Personen, denn nur solche konnten sich die langen Trainings- bzw. Vorbereitungszeiten erlauben, wohingegen durchschnittliche Bürger mit der Ernte oder ähnlichen Aufgaben beschäftigt waren. Bereits im Vorhinein kann man deshalb den Kreis der olympischen Athleten als eine Art bürgerliche Elite bezeichnen. Nach einer monatelangen individuellen Trainingsphase wurden die potentiellen Teilnehmer vier Wochen vor Beginn der Olympischen Spiele nach Elis gerufen, wo nach einer weiteren Selektionsphase (Qualifikation) die endgültigen Teilnehmer bestimmt wurden. Wer von den Athleten dann bei den Olympischen Wettkämpfen einen Sieg in einer oder mehreren Disziplinen erringen konnte, wurde dementsprechend auf der Siegerehrung gewürdigt – Zweit- und Drittplatzierte wurden nicht einmal erwähnt und gingen daher buchstäblich leer aus. Der Sieger erhielt das Kranzreis vom wilden Ölbaum als Ehrensymbol.80 Auch diese Tradition beruht laut L. Drees auf wesentlich älteren Bräuchen aus der Fruchtbarkeitsreligion des Demeterkults aus mykenischer Zeit. Dabei wurden die jeweiligen Sieger der Wettbewerbe im übertragenen Sinne eine Einheit mit der jeweiligen Gottheit.81 Dies traf jedoch nicht auf die Religion zur Zeit der Olympischen Spiele zu – Menschen waren sterbliche Wesen und konnten daher die Unvergänglichkeit der Götter nicht verkörpern. Genau deshalb wurde auch das Kranzreis vom wilden Ölbaum, welcher selbst als göttlich betrachtet wurde, vorerst nicht mehr als Siegestrophäe verwendet. Der Sieger im Stadionlauf der ersten Olympiade (Koroibos) erhielt statt des Kranzes einen Apfel. Doch auch in diesem Fall zeigte sich die bestehende Tradition stärker als die geschaffene Neuerung. Nach fünf Olympiaden wurde schließlich das Orakel von Delphi von König Iphitos um Rat befragt, welches für die Wiedereinführung des wilden Ölbaumkranzes plädierte. Somit wurde Daïkles, Sieger im Stadionlauf der siebenten Olympiade, als Erster wieder mit dem Kranz des wilden Ölbaums gekrönt. Damit einher ging aber die Transformation der anfänglichen Bedeutung (Verkörperung des Gottes auf Erden) zu ei- 80 81 Bei den Pythischen Spielen erhielt der Sieger einen Kranz aus Lorbeeren, bei den Isthmischen aus Kiefernzweigen und bei den Nemeischen aus Sellerieblättern. Jeder Gewinner erhielt zusätzlich ein rotes Wollband. Der Sieger des Hochzeitslaufs, mit dem Kranzreis des wilden Ölbaums geschmückt, wurde zur Personifikation des Gottes Jasios-Herakles auf Erden. Derjenige, welcher das hochzeitliche Wagenrennen gewann, wurde mit Wollfaden dekoriert und verkörperte damit den Widdergott ZeusPelops. Die Siegerinnen beim Wettlauf der Jungfrauen (Herahochfest) wurden durch Teilnahme am kultischen Mahl, bei dem man die Herakuh verspeiste, eine Einheit mit der Göttin. Vgl. Drees, a.a.O., S. 129. 93 nem neuen Format – die Würdigung des Kranzträgers durch Zeus, in dessen Gemeinschaft sich der Sieger im übertragenen Sinne begab.82 Dennoch machte der durch Zeus gewährte Ruhm den Sieger eines Olympischen Wettkampfs nahezu unsterblich – bis heute sind die Namen der Gewinner in zahlreichen Inschriften erhalten. Wer damals als Sieger einer oder mehrerer Disziplinen in seine Heimatstadt zurückkehrte, konnte mit vielseitigen Belohnungen bzw. Huldigungen rechnen. Die geläufigsten Benefizien beliefen sich auf Steuerbefreiungen, Geldschenkungen, freie Speisung, besondere Rechte, bis hin zu außergewöhnlichen Statuen und Beerdigungen/Grabstätten. Wenn es nun noch einem Athleten gelang, mehrere Wettkämpfe zu gewinnen, kann man sich die besondere Behandlung durch die Heimatstadt kaum vorstellen. Den Höhepunkt an Bekanntheit und Ehrungen konnte nur derjenige erreichen, welcher Periodonike wurde. Um diesen Titel zu bekommen, musste ein Sportler an allen vier Austragungsorten der Panhellenischen Spiele (Pythische Spiele in Delphi, Isthmische Spiele in Korinth, Nemeische Spiele in Nemea, Olympische Spiele in Olympia) antreten und gewinnen. Als ein Paradebeispiel dafür ist der Ringkampfathlet Milon von Kroton zu betrachten, welcher sechsmal den Titel des Periodoniken beanspruchen durfte. Insgesamt gewann er, bestätigt durch die Siegerlisten, einmal als Knabe bzw. fünfmal als Erwachsener die Olympischen Spiele, siebenmal die Pythischen Spiele, zehnmal die Isthmischen Spiele und neunmal die Nemeischen Spiele. Die riesigen Erfolge dieses Ausnahmetalents werden auf der einen Seite seinem harten Training zugeschrieben. Auf der anderen Seite muss eine auf den Wettkampf ausgerichtete spezielle Ernährung auch ihren Teil dazu beigetragen haben, dem bis ins Alter von über 40 Jahren kämpfenden Athleten herausragende Siege zu bescheren. Milons besondere sportliche Erfolge hatten selbstverständlich auch weitreichende Konsequenzen für seinen Ruf bzw. seine Stellung im Polisleben. Als seine Heimatstadt Kroton im Konflikt mit der Nachbarpolis Sybaris lag, wurde Milon kurzerhand als Feldherr zum bevorstehenden Krieg berufen. Mit einem Löwenfell bekleidet, einer Keule ausgerüstet und mit dem olympischen Siegerkranz bedeckt, soll er der Gestalt des Herakles sehr nahe gekommen und seinen Mitbürgern voran in die Schlacht gezogen sein. Die Auseinandersetzung endete mit der Niederlage von Sybaris, welches geplündert und dem Erdboden gleichgemacht wurde.83 Aufgrund seiner herausragenden Stellung sowie seiner sportlichen und auch politischen Leistungen, genoss Milon bereits zu Lebzeiten einen sagenhaften Ruf. Nach seinem Tod wurden jedoch viele weitere Legenden um ihn gesponnen. So soll er beispielsweise während eines gemeinsamen Mahls mit den Pythagoreern die Dachbalken des Gebäudes gehalten haben, nachdem eine tragende Säule gebrochen war, bis sich alle aus dem Haus gerettet hatten. Seine Trainingsmethode bestand 82 83 Vgl. Drees, a.a.O., S. 129–132. Vgl. Bengtson, H.: Die Olympischen Spiele in der Antike, 3. Aufl., Zürich 1983, S. 62. 94 darin, dass er regelmäßig ein Kalb auf den Schultern trug. Dies führte wohl dazu, dass er, selbst als das Kalb bereits zum Stier herangewachsen war, es trotzdem noch hochheben konnte. Seine Ernährungsgewohnheiten wurden ebenfalls maßlos übertrieben dargestellt – ca. 9 kg Brot, dieselbe Menge an Fleisch und 10 l Wein soll Milon täglich verzehrt haben. Sogar über sein Ableben entstanden düstere Legenden. In einem Anfall von Selbstüberschätzung wollte er die Keile, die in einem gespaltenen Baumstamm steckten, wieder herausziehen, was ihm auch gelang. Jedoch wurde er dabei von den sich zusammenziehenden Teilen des Baumes eingeklemmt, konnte sich nicht aus eigener Hilfe befreien und wurde letztendlich von umherstreunenden wilden Tieren gefressen. Allerdings ist die Legende über seinen Tod als literarisch-dramatischer Abschluss seines fabelhaften Lebens zu sehen.84 Aber dennoch stellen ein Teil der anderen Legenden Milon von Kroton als durchaus zweifelhafte Figur dar. Besonders die Darstellungen seiner Essgewohnheiten lassen ihn als auf brachiale Kraft und Masse hin trainierenden Schwerathleten erscheinen, der zugleich auch noch, aufgrund seiner Erfolge, zur Selbstüberschätzung tendiert. Kurz und knapp gesagt: ein muskulöser Kraftprotz ohne die Gabe geistiger bzw. intellektueller Fähigkeiten. Im absoluten Kontrast dazu stehen beispielsweise die grazilen und „gesund“ austrainierten Körper der Laufathleten. Doch der oben genannten These sprechen entgegen, dass Milon Mitglied der Pythagoreer, einer Philosophengruppe, war und dass seine Mitbürger ihm das Kommando für den Feldzug gegen Sybaris anvertrauten. Auch spricht dafür, dass (wie bereits am Anfang erwähnt) zu diesem Zeitpunkt der Olympischen Spiele nur Bürger aus der aristokratischen Schicht an den Wettkämpfen teilnehmen konnten. Ein gewisser Grundtenor an bürgerlicher Bildung des Milon von Kroton kann daher als gesichert gelten. 6.2.2 Unterrichtsbezüge Als Einstieg für das Thema „Starkult in der Antike“ wäre ein Lobgesang Pindars auf einen Athleten85 sinnvoll. Die sich daraus ergebende Bedeutung ist immens – allein der Fakt, dass ein olympischer Sieg ausgewählter Athleten mit einer Ode durch Pindar gekrönt wird, spricht für den hohen gesellschaftlichen Stellenwert eines Olympiasiegers. Schließlich führten die Oden Pindars neben den olympischen Siegerlisten dazu, dass wir heutzutage noch die Namen der Olympiasieger vor ca. 2500 Jahren erfahren können. Ein Exkurs in weitere besondere Ehrungen/Belohnungen der Olympiasieger durch ihre Heimatstädte sollte deutlich machen, dass materielle Anerkennungen eher die Ausnahme waren. Im Vordergrund stand vielmehr die gesellschaftspolitische Tragweite eines Olympiasiegers – viele siegreiche Athleten wurden später Politiker in ihren Heimatpoleis. 84 85 Vgl. Bengtson, H.: Die Olympischen Spiele in der Antike, 3. Aufl., Zürich 1983, S. 63. Vgl. Quellenmaterial 6. 95 Des Weiteren spielte die religiöse Komponente eine bedeutende Rolle, denn mit der Ehrung des Siegers durch den Kranz vom wilden Ölbaum wurde dessen Würdigung bzw. Anerkennung durch die Götter (Zeus in Olympia) symbolisiert. Auf der anderen Seite war der Ruf der Athleten nicht gänzlich unumstritten, da besonders Philosophen wie Platon oder Euripides deren zu einseitiges Training (und den damit verbundenen Lebensstil) kritisierten. Diese Beanstandung trifft auf jeden Fall auf die Spiele unter römischem Einfluss zu. Hier hatte sich das ursprünglich an den Wettkämpfen teilnehmende Bürgertum vollständig zurückgezogen, und spezialisierte Berufsathleten nahmen nun ausschließlich an den Spielen teil. Dieser Trend wurde u. a. auch durch den römischen Einfluss begünstigt, welcher mehr materielle Belohnungen für die Athleten vorsah. So konnten Berufsathleten ohne Probleme ihren Lebensunterhalt mit der Teilnahme an den Wettkämpfen finanzieren. Damit war auch eine der ursprünglichen Bedeutungen der Olympischen Spiele – die Vorbereitung auf Kriege und das Messen mit potentiellen Gegnern86 – verloren gegangen. Ebenso verhält es sich mit der Idee des koine eirene (der Gesamtfrieden aller griechischen Poleis während der Olympischen Spiele), welche sich schon allein durch den späteren starken römischen Einfluss verflüchtigt hatte. Die Bedeutung von Olympia als identitätsstiftendes Merkmal der diversen griechischen Städte mit jeweils eigenen Kulturen und variierenden Götteranbetungen als auch der älteste Grundgedanke – der Leistungsvergleich durch einen fairen sportlichen Wettkampf – gingen ebenfalls verloren. Um die Ähnlichkeiten bzw. Unterschiede der Athleten damals und heute zu verdeutlichen, würde sich ein direkter Vergleich zwischen zwei Sportlern anbieten. Man könnte beispielsweise Milon von Kroton, den antiken Ausnahmeathleten schlechthin, mit Carl Lewis, welcher neun Goldmedaillen und eine Silbermedaille im Zeitraum von 1984–1996 in olympischen Wettkämpfen der Leichtathletik gewann, vergleichen. Ob Carl Lewis eine ähnlich lange Beständigkeit erreichen wird, bleibt vorerst unklar. Selbstverständlich muss man eingestehen, dass die zahlreichen Legenden, die sich um Milon ragen, sehr viel für die Überlieferung seiner Siege und Taten getan haben, da sie ihn quasi zu einem olympischen Mythos avancieren ließen. Aber auch allein durch seine politischen Taten (Konflikt mit Sybaris) erreicht Milon eine komplexere Dimension als Carl Lewis. Um das kontroverse Ergebnis des Vergleichs zu ergründen (Lewis war sportlich gesehen nicht minder erfolgreich als Milon), würde sich ein anschließender weiterer Vergleich zwischen den antiken Olympischen Spielen und den Olympischen Spielen der Moderne anbieten. Mit der Einführung des Medaillensystems hat sich die ehemalige ausschließliche Anerkennung des Ersten abgeschwächt – die Würdigung des Zweit- bzw. Drittplatzierten spielt nun durch Vergabe der Silber- bzw. Bronzemedaille ebenfalls eine Rolle. Des Weiteren nehmen die materiellen Belohnungen viel größere Ausmaße an. Durch die jeweiligen Herkunftslän86 Vgl. Bengtson, a.a.O., S. 94. 96 der der Athleten werden unterschiedlich hohe Prämien87 für die Athleten ausgeschüttet – die dahinter stehende politische Dimension der Medaillenspiegel lässt sich deutlich erkennen. So werden die erfolgreiche Teilnahme und die vorherige stramme Trainingszeit noch lukrativer. Außerdem erhalten die Sportler Aufwandsentschädigungen durch Sponsoren und können beispielsweise mit dem erworbenen Ruf als medienwirksame Figuren in der Werbung ohne Probleme ihren Lebensunterhalt verdienen. Bezüglich der sportlichen Fairness sind bei den modernen Olympischen Spielen einige positive Innovationen vollzogen worden. So haben nun auch Frauen die Möglichkeit, an den Wettkämpfen teilzunehmen und sich sportlich mit anderen zu messen. Bestimmte Sportarten (u. a. Boxen und Ringen) wurden durch die Einführung von Gewichtsklassen fairer gestaltet. In der Antike hingegen gab es diese nicht und so verwundert es nicht, dass besonders bei diesen Sportarten die massigen und übermuskulösen Athleten oftmals gewannen, wohingegen die „drahtigen“ Athleten meist chancenlos blieben. Auf der anderen Seite wird heutzutage der Gedanke der sportlichen Fairness durch zahlreiche Dopingversuche buchstäblich mit Füßen getreten. Selbst Carl Lewis wurden Dopingvorwürfe gemacht, die aber unter kuriosen Umständen wieder abgetan wurden. Gezieltes Doping im heutigen Sinne trat in der Antike nicht auf. Manche Sportler setzten auf eine besondere Ernährung während der Vorbereitungsphase und verschafften sich so möglicherweise Vorteile gegenüber anderen. Auch ist der Einsatz von pflanzlichen Stimulanzien denkbar, der aber in keinem Vergleich zum heutigen Hormon- bzw. Steroiddoping steht. Mit der Erweiterung der Wettkampfarten und der Zulassung von Sportlern aus allen Weltteilen hat sich die Dimension der Olympischen Spiele vollends verändert. Das ehemalige bürgerlich-elitäre Sportereignis ist trotz vorheriger Selektion durch Qualifizierungsmaßnahmen zu einem Massenphänomen geworden. Auf der anderen Seite hat aber die Bedeutung der Olympischen Spiele abgenommen, da andere Sportereignisse wie Europa- oder Weltmeisterschaften große Konkurrenz ausüben. Außerdem sind die dabei ausgeschütteten Prämien noch vielmals lukrativer, sodass viele Sportler sich auf diese Ereignisse konzentrieren und sich von den Olympischen Spielen abwenden. Die ehemals exklusive Stellung der Spiele verblasst. Die ehemalige Rolle der antiken Olympiagewinner als gesamtgesellschaftliche Status- bzw. Identifikationsfiguren ist heutzutage nicht mehr gegeben. Nur noch wenige Menschen sehen heute diese Funktion in Olympischen Siegern, da ja auch eine Vielzahl von alternativen Identifikationsfiguren, von Film- bis hin zu Popstars, geboten werden, die besonders von den jüngeren Generationen verehrt werden. Die Di- 87 Belohnungen (in Euro umgerechnet) für jede gewonnene Goldmedaille in Peking 2008: BRD: 15.000, Malaysia: 196.000, Vietnam: 1900, Griechenland: 190.000. 97 mension des sportlichen Prestiges und deren Anerkennung in der Gesellschaft sind zu Gunsten der Unterhaltungsindustrie verschoben worden. 6.3 Q1 Arbeitsmaterialien Orsippos (Pausanias I, 43,5–44,1) „In Megara ist auch ein Grab des Koroibos. Das Grab des Koroibos ist in Megara auf dem Markt, und es steht ein Epigramm daran, das sich auf Psamathe und Koroibos selbst bezieht, und als Figur auf dem Grab Koroibos’, Poine tötend. Das sind die ältesten Steinbildwerke, die ich in Griechenland sah. In der Nähe von Koroibos ist Orsippos bestattet, der in Olympia, als die Wettkämpfer nach alter Sitte in den Kämpfen noch gegürtet waren, zuerst nackt im Wettlauf siegte. Orsippos soll auch später als Stratege den Nachbarn Land abgenommen haben. Ich glaube auch, dass er in Olympia die Gürtung absichtlich verlor, da er erkannte, dass ein nackter Mann leichter laufe als ein gegürteter. Geht man von der Agora den sogenannten ‚Geraden Weg‘ hinab, liegt rechts ein Heiligtum des Apollon Prostaterios, das man findet, wenn man etwas vom Weg abbiegt. Darin steht ein sehenswerter Apollon und eine Artemis und Leto und auch andere Statuen, wobei Leto und ihre Kinder Werke des Praxiteles sind. In dem alten Gymnasion bei dem so genannten Nymphentor befindet sich ein Stein in Gestalt einer nicht großen Pyramide; diese nennen sie Apollon Karinos, und es ist hier auch ein Heiligtum der Eileithyien. So viel bot ihre Stadt an Sehenswürdigkeiten.“ [Pausanias: Beschreibung Griechenlands, übers. v. E. Meyer, Zürich 1954] Q2 Training der Spartaner (Thukydides I, 6) [Inhalt aufgrund unklarer Rechteverhältnisse entfernt. Referenz: Berve, Helmut: Thukydides, Frankfurt/Main 1938] A1 Erläutert, was die beiden Quellen über das Thema Nacktheit aussagen. A2 Welche Vor- bzw. Nachteile könnte die Nacktausübung von sportlichen Aktivitäten haben? 98 Q3 Kallipateira (Pausanias V, 6–7) „Skillus bietet auch Jagdgelegenheit auf wilde Tiere, Wildschweine und Hirsche. Und durch das Gebiet von Skillus fließt der Fluss Selinus. Die elischen Erklärer erzählten, die Eleer hätten Skillus dann wieder bekommen und Xenophon sei dafür, dass er das Land von den Spartanern erhalten hatte, zwar im olympischen Rat vor Gericht gestellt worden, habe aber von den Eleern Verzeihung erhalten und unbehelligt in Skillus wohnen können. Etwas weiter vom Heiligtum wurde auch ein Grabmal gezeigt, und auf dem Grab ist eine Figur aus pentelischen Marmor; die Anwohner behaupten, es sei das Grab Xenophons. Am Weg nach Olympia von Skillus her befindet sich, bevor man den Alpheios überschreitet, ein Berg mit hohen schroffen Felsen, den man Typaion nennt. Die Eleer haben ein Gesetz, von diesem Berg die Frauen hinabzustoßen, wenn sie dabei ertappt sind, dass sie zu dem olympischen Fest gekommen sind oder auch nur an den für sie verbotenen Tagen den Alpheios überschritten haben. Es soll aber noch keine ertappt worden sein außer allein Kallipateira. Andere nennen diese selbe Pherenike und nicht Kallipateira. Sie richtete sich, als ihr Mann gestorben war, ganz wie ein Sportlehrer her und brachte ihren Sohn zum Mitkämpfen nach Olympia. Als Peisirodos siegte, übersprang Kallipateira die Umfriedung, in der man die Sportlehrer abgetrennt hielt, und entblößte sich dabei. Obwohl sie nun als Frau ertappt war, ließen sie sie straffrei aus Rücksicht auf ihren Vater und ihre Brüder und ihren Sohn. Sie alle hatten olympische Siege erfochten, und daraufhin machte man ein Gesetz in Bezug auf die Sportlehrer, dass sie künftig nackt zum Kampf antreten müssten.“ [Pausanias: Beschreibung Griechenlands, übers. v. E. Meyer, Zürich 1954] A1 Was berichtet die Quelle über die Behandlung von Frauen, welche bei den Olympischen Spielen zuschauten? Welcher Personenkreis ist berechtigt am Olympischen Gesamtereignis teilzunehmen? A2 Beurteilt die milde Behandlung Kallipateiras. Leitet daraus die gesellschaftliche Bedeutung von sportlichem Erfolg bei den Olympischen Spielen ab. Q4 Akanthos (Dionysius von Halikarnassos, VII, 72) „Vor dem Beginn der Spiele dirigierten die obersten Beamten eine Prozession zu Ehren der Götter vom Capitol aus durch das Forum Romanum zum Circus Maximus. Jene, welche die Prozession anführten, waren zunächst diejenigen Söhne der Römer, die fast erwachsen waren und das Alter hatten, eine Rolle in dieser Zeremonie zu spielen; welche auf Pferden ritten, wenn ihre Väter den gottgegebenen Anspruch darauf hatten, Ritter zu sein, während die Anderen, welche dazu bestimmt waren in der Infanterie zu dienen, zu Fuß gingen – die Erstgenannten in Schwadronen und 99 Trupps und die Letztgenannten in Divisionen und Kompanien, als wenn sie zur Kriegsschule gehen würden. Dies alles wurde getan, damit Ortsfremde die Anzahl und Schönheit der Jugendlichen des Gemeinwesens, die sich dem Mannesalter näherten, sehen konnten. Diese wurden von den Wagenlenkern gefolgt, von denen einige vier, andere zwei Pferde davor gespannt hatten und andere ritten ungesattelte Pferde. Nach ihnen kamen die Wettkämpfer der leichten und schweren Disziplinen, ihren gesamten Körper entblößt, außer den Lenden. Diese Sitte bestand sogar bis zu meiner Zeit in Rom, da sie ursprünglich von den Griechen praktiziert wurde. Aber gegenwärtig ist sie in Griechenland abgeschafft worden – die Spartaner haben dem ein Ende gesetzt. Der erste Mann, der sich entblößte und nackt in Olympia während der 15. Olympiade rannte, war Akanthos der Lakedaimonier. Es scheint, dass vor dieser Zeit alle Griechen sich geschämt hatten, völlig entblößt während der Spiele zu erscheinen, wie Homer, der glaubhafteste und älteste aller Zeugen, offenbart, wenn er die Helden mit bedeckten Lenden darstellt. Auf jeden Fall, als er den Ringkampf von Aias und Odysseus während des Begräbnisses von Patroklos beschreibt, sagt er: ‚Als sich beide gegürtet hatten, da traten sie vor in den Kampfkreis.ʻ Und er macht es noch deutlicher in den folgenden Versen der Odyssee beim Ereignis des Faustkampfes zwischen Irus und Odysseus: ‚Sie redeten und Irus’ Herz war bitter erregt als die Diener ihm die Lenden unter Zwang gürteten und ihn vortreten ließen.ʻ Folglich ist es klar, dass die Römer, welche den alten griechischen Brauch bis heute bewahren, diesen weder von uns im Nachhinein erlernt, noch im Laufe der Zeit verändert haben, wie wir es getan haben.“ [Eigene Übersetzung aus dem Englischen nach Vorlage: Dion. Hal. Ant., E. Cary (Übers.), Vol. IV, Cambridge, 1986] A1 Beschreibt die traditionelle Einstellung der Griechen zur Nacktheit bei den Olympischen Spielen. Weshalb könnte ein Wandlungsprozess eingetreten sein? A2 Mit der Einführung des Christentums als Staatsreligion unter Theodosius wird die nackte Ausübung der Olympischen Wettkämpfe wieder verboten. Untersucht, inwiefern mit dem Wandel der Religionen neue Wertvorstellungen bzw. Normen entstehen. Q5 Kroton/Milon von Kroton (Strabon, Geographie 6.1.12) „Die erste Stadt ist Kroton, welche innerhalb einhundertfünfzig Stadien vom Lacinium gelegen ist; und dann kommen der Fluss Aesarus, und ein Hafen, und ein weiterer Fluss, der Neaethus. Es wird gesagt, dass der Neaethus seinen Namen aufgrund von dem Ereignis bekam, das dort stattfand: Einige der Achäer, welche sich von der trojanischen Flotte verirrt hatten, gelangten dorthin und gingen von Bord, um die Re100 gion zu untersuchen, und als die trojanischen Frauen, die mit ihnen gesegelt waren, feststellten, dass sich keine Männer mehr an Bord befanden, setzten sie die Boote in Brand, weil sie der Reise überdrüssig waren, sodass die Männer gezwungener Maßen dort bleiben mussten, wenngleich sie zur gleichen Zeit feststellten, dass der Boden sehr fruchtbar war. Umgehend kamen verschiedene andere Gruppen, aufgrund ihrer völkischen Verwandtschaft, und taten es ihnen gleich, und folglich entstanden viele Siedlungen, von denen die meisten ihre Namen von den Trojanern hatten; und auch ein Fluss, der Neaethus, bekam seine Bezeichnung von der vorher genannten Begebenheit. Als der Gott den Achäern sagte, Kroton zu gründen, reiste Myscellus, gemäß Antiochus, ab, um den Ort zu inspizieren. Aber als er sah, dass Sybaris bereits gegründet war – den gleichen Namen wie der benachbarte Fluss tragend – entschied er, dass Sybaris besser war. Zu allen Vorfällen fragte er den Gott erneut, ob es besser wäre, dieses anstatt von Kroton zu gründen und der Gott antwortete ihm, der zu dieser Zeit ein Buckliger war: ‚Myscellus, knapp an Rücken, beim Suchen von etwas außerhalb deines Weges, jagst du lediglich kleine Stückchen; es ist richtig, wenn du akzeptierst, was man dir gegeben hat.ʻ Und Myscellus kam zurück und gründete Kroton mit seinem Gefährten Archias, dem Gründer von Kroton, der vorbeisegelte, als er auf seinem Weg war, Syrakus zu gründen. Die Iapygier lebten früher auf dem Gebiet Krotons, wie Ephorus berichtet. Und die Stadt ist bekannt für ihre kultivierte Kriegskunst und Athletik; auf jeden Fall waren die sieben Männer, welche die Führung vor allen anderen während einem Olympischen Festspiel im Stadionlauf übernahmen, allesamt Krotoniaten. Die daraus entstandene Redensart – ‚Der Letzte der Krotoniaten war der Erste unter allen anderen Griechenʻ – erscheint angemessen. Und es wird gesagt, dass dieses den Ursprung für eine weitere Redensart – ‚gesünder als Krotonʻ – bildete, mit dem Glauben, dass dieser Ort etwas enthält, was gesundheitliche und körperliche Vitalität fördert, um es mal an der Vielzahl seiner Athleten zu beurteilen. Dementsprechend hatte es eine sehr große Anzahl von Olympischen Siegern, obwohl es aufgrund seines verheerenden Verlusts seiner Bürger, die zahlreich am Fluss Sagra fielen, nicht lange bewohnt blieb. Sein Ruhm wurde vermehrt von der riesigen Anzahl seiner pythagoreischen Philosophen und Milon, welcher der berühmteste aller Athleten und gleichzeitig ein Weggenosse Pythagoras’ war und lange Zeit in der Stadt verbrachte. Es wird behauptet, dass Milon während einer gemeinsamen Messe der Philosophen die Decke hielt, als eine Säule zusammenbrach und er alle rettete und sich danach selbst befreite und entkam. Das kam wahrscheinlich daher, dass er sich auf die gleiche Stärke verließ, welche ihm, laut einigen Autoren, das Ende seines Lebens bereitete. Jedenfalls besagt die Geschichte, dass er, während der Reise durch einen tiefen Wald, ziemlich weit von der Straße abkam und einen großen von Keilen auseinandergetriebenen Baumstamm fand. Er schob seine Hände und Füße zu gleicher Zeit in die Spalte und versuchte, den Baumstamm komplett auseinander zu reißen; aber er war nur so stark, dass die Keile heraus fielen, woraufhin die zwei Teile des 101 Baumes sofort zusammenschnappten. In dieser Falle gefangen, wurde aus ihm Futter für die wilden Tiere.“ [Eigene Übersetzung aus dem Englischen. Originalversion vgl. Strab. Geogr., H. L. Jones (Übers.), Vol. III, Cambridge, 1983] A1 Auf welche traditionelle Wurzeln beruft sich die Polis Kroton? Leitet daraus deren Selbstbild ab. A2 Beschreibt den Ausnahmeathleten Milon von Kroton. Arbeitet seine durch die Quelle angedeuteten Körper- und Charaktereigenschaften und sein geistiges Umfeld heraus. A3 Carl Lewis gilt als einer der erfolgreichsten Athleten der Olympischen Spiele der Neuzeit. Trotzdem ist er im Vergleich zu Milon relativ unbekannt. Erläutert, welche Bedeutung Mythen und Legenden für die Nachhaltigkeit des Ansehens einer Person innerhalb einer Gesellschaft haben. A4 Wie haben sich die Prämien für olympische Siege von der Antike bis zur heutigen Zeit verändert? Vergleicht die Bedeutung der Olympischen Spiele in der Antike und heutzutage. A5 In der Antike wurden erfolgreiche Sportler als Identifikationsfiguren betrachtet. Trifft das auch noch für die Gegenwart zu? Analysiert, inwiefern antike bzw. heutige Identifikationsfiguren politische Einflussnahme ausüben. 102 Q6 Ode für Hagesidamos, dem Sieger im Faustkampf der Knaben (Pindar O. XI) „Zuweilen haben die Menschen an Winden den meisten Bedarf; zuweilen an Wassern des Himmels, den Regenkindern der Wolke; wenn aber mit Bemühen einer es recht macht, steigen ihm honigstimmige Hymnen auf als Ursprung späterer Ruhmesreden und als zuverlässiges Eidespfand für große Leistungen; neidlos ist dieser Lobpreis den Olympiasiegern geweiht. Das ist unsere Zunge zu hüten bereit, aus Gott aber blüht ein Mann mit weisen Gedanken gleichermaßen. Wisse nun, Archestratos’ Sohn, um deines, Hagesidamos, Faustkampfes willen werd’ ich einen Schmuck zu dem Kranz des goldenen Ölbaums sanftlautend ertönen lassen, den Stamm der zephyrischen Lokrer bedenkend. Dort zieht mit im Festgesang! Ich will euch Bürge sein, ihr Musen: zu einem Volk, das gastscheu nicht oder unerfahren im Schönen ist, hochweise und kämpferisch, werdet ihr kommen. Das angeborene nämlich dürften weder der feuerrote Fuchs Noch die lautbrüllenden Löwen je ändern, das Verhalten.“ [Pindar: Siegeslieder, hrsg. u. übers. v. Dieter Bremer, München 1992] A Versetze dich in die Lage eines jungen Kämpfers. Welche Erwartungen hast du an den bevorstehenden Kampf? 103 6.4 B1 Bildmaterialien Faustkampf [http://homepage.univie.ac.at/elisabeth. trinkl/forum/forum0307/42boxen.htm (8.1.2011)] B3 B2 Ringkampf [http://www.kfunigraz.ac.at/ communication/unizeit/archiv/vor1999/198/1-98-02.html (8.1.2011)] Körperpflege und Hygiene [Das Olympische Museum (Hrsg.): Die Olympischen Spiele des Altertums; http://multimedia.olympic.org/pdf/en_report_659.pdf (8.1.2011)] 104 B4 Karte des Peloponnes [http://commons.wikimedia.org/wiki/Image:Historic_peloponnes_de.png (8.1.2011)] A1 Beschreibt die Bilder B 1 bis B 3. A2 Beschreibt die dargestellten Gegenstände und stellt Vermutungen über ihren Verwendungszweck an. A3 Um was für eine Prozedur scheint es sich hier zu handeln? Beurteilt, inwiefern diese der Person nützlich sein könnte. 105 Buchtipp Altenberger, Helmut/Haag, Herbert/Holzweg, Martin (Hrsg.): Olympische Idee – Bewegung – Spiele, 2. überarbeitete Auflage, Schorndorf 2006. Bengtson, Hermann: Die Olympischen Spiele in der Antike, 3. Aufl., Zürich 1983. Knell, Heiner: Grundzüge der griechischen Architektur (= Griechische Heiligtümer, Bd. 38), Darmstadt 1980. Maranti, Anna: Olympia und die olympischen Spiele, Athen 1999. Sinn, Ulrich: Olympia. Kult, Sport und Fest in der Antike, München 1996. Wange, Willy B.: Der Sport im Griff der Politik. Von den olympischen Spielen der Antike bis heute, Köln 1988. Weiler, Ingomar: Der Sport bei den Völkern der Alten Welt, Darmstadt 1981. Wimmert, Jörg: Die antiken Olympien in deutschen Schulbüchern, Sankt Augustin 1994. 106 KAPITEL III EXPEDITION IN DIE NEUE WELT Marc Benning Harald Bruch Jenny Brunnert Patrick Hödl [http://www.manataka.org/pages1265.html (23.11.2009)] Baustein I Gewalt als Reaktion auf das Fremde (Marc Benning) Baustein II Wirtschaft und Geographie (Harald Bruch) Baustein III Christliche Mission der Neuen Welt (Jenny Brunnert) Baustein IV Das Schiff (Patrick Hödl) 1 BAUSTEIN I – GEWALT ALS REAKTION AUF DAS FREMDE 1.1 Sachinformation 1.1.1 Das Bild von den Kriegern Amerikas In einem Brief von Christoph Kolumbus an Luis de Santangel, den Verwalter der königlichen Privatschatulle, schildert der Entdecker Amerikas seine Eindrücke von den dort ansässigen Ureinwohnern folgendermaßen: „Sie kennen weder Eisen noch Stahl, besitzen keine Waffen, mit denen sie umzugehen wüssten, nicht etwa deshalb, weil es ihnen an körperlicher Kraft gebrechen würde, sondern weil sie von Natur aus äußerst furchtsam sind. Als Waffe benützen sie nur jene Rohre, denen sie an ihrer Spitze ein kurzes, scharf zugespitztes Stück Holz anfügen. In Wirklichkeit aber setzen sie sich nicht einmal mit diesen Speeren zur Wehr […].“88 Während hier die Ureinwohner wegen ihrer vermeintlichen Feigheit für Kolumbus nicht die geringste Gefahr darzustellen scheinen, heißt es bei Diego de Landa in seinem Bericht aus Yucatán: „Als sie dort angekommen waren, erfuhren sie, dass sein Häuptling den Namen Mochcouoh hatte, dies war ein kampflustiger Mann, der seine Leute gegen die Spanier anrücken ließ, was Francisco Hernández bekümmerte, denn er sah voraus, welches Ende das nehmen würde; und damit er sich nicht mutlos zeigte, ließ er seine Männer auch in Schlachtordnung aufstellen und die Schiffsgeschütze abfeuern; und obwohl der Klang, der Rauch und das Feuer der Schüsse den Indios neu waren, griffen sie doch weiter unter großem Geschrei an; [...]“89 Es gibt zahlreiche Schilderungen, wonach die „kriegslustigen“ Wilden in Scharen von den Spaniern – scheinbar völlig legitim – niedergemacht und teilweise sogar aus bloßem Vergnügen gefoltert und getötet wurden, aber es gibt auch Berichte, in denen der Mut und die kulturellen Leistungen der Indios – auch den militärischen Bereich betreffend90 – in hohen Tönen gelobt werden und diese den europäischen Errungenschaften in nichts nachstehen. Tatsächlich unterscheiden sich die Berichte über die Neue Welt deutlich voneinander, gerade wenn es um die Kampfkraft und die Moral der Indios geht, doch warum ist das so? Dafür gibt es mehrere Gründe. 88 89 90 Monegal, Emir Rodríguez (Hrsg.): Die Neue Welt. Chroniken Lateinamerikas von Kolumbus bis zu den Unabhängigkeitskriegen, Frankfurt/M. 1982, S. 69 f. Landa, Diego de: Bericht aus Yucatán, hrsg. v. Carlos Rincón, übers. v. Ulrich Kunzmann, Leipzig 1990, S. 13. Vgl. Bericht von Hernán Cortés an Kaiser Karl V. über das mexikanische Unternehmen vom 30.10.1520, in: Behringer, Wolfgang (Hrsg.): Lust an der Geschichte. Amerika (= Serie Piper 472), München 1992, S. 88: „Auf einem hohen Hügel liegt das Herrenhaus mit einer Festung, besser mit Mauern und Graben umgeben, als man sie in halb Spanien findet.“ 109 Für die Legitimation von Gewalt wurde überwiegend auf eine allumfassende göttliche Mission verwiesen, was völlig zu Recht an die Motive der Kreuzzüge erinnert. Mit der Entdeckung Amerikas eröffnete sich für Spanien beziehungsweise für Kaiser Karl V. die Möglichkeit der Erfüllung der translatio imperii91, da die Neue Welt – den Römern gänzlich unbekannt – die Schaffung eines neuen, viel größeren Weltreiches ermöglichen konnte. Dabei stand nach Frübis für Spanien noch die Idee der Einheit von Heils- und Weltgeschichte im Vordergrund, weshalb die Inbesitznahme der Neuen Welt als die Durchführung des göttlichen Heilsplanes verstanden werden müsste92, der von Christus persönlich an das „weltliche Oberhaupt“ übergeben wurde.93 Die Indios, die sich diesem erwehrten, taten in den Augen der Spanier ein völlig unverständliches Unrecht, wofür sie bestraft werden mussten. Im Zuge dessen wurden die Ureinwohner mit den unchristlichsten Eigenschaften und Verhaltensweisen gebrandmarkt, weshalb sie eher als eine Art Halbmenschen kategorisiert wurden – selbst über die Bulle von Papst Paul III. vom Jahre 1537 hinaus.94 Grausamkeiten, die den Indios von den Spaniern zugefügt wurden, konnten demnach nicht als ein Verbrechen zwischen gleichgestellten Individuen verstanden werden. Gewalttaten wurden als notwendig toleriert, um den „aufgeschlossenen“ Indios den Weg zu Gott zu ermöglichen. Jenen Ureinwohnern, die sich widerstandslos den Eroberern ergaben, brachte man teilweise sogar Mitleid entgegen, weil sie für ihre Ungläubigkeit und die damit verbundenen Eigenschaften wie Sodomie und Kannibalismus nichts konnten.95 Für die sehr unterschiedlichen Schilderungen des kulturellen und militärischen Potenzials der Ureinwohner waren nicht unbedingt die tatsächlichen Beobachtungen der Konquistadoren maßgeblich, sondern auch der Anspruch, die Überlegenheit der gottesfürchtigen Europäer darzustellen. Das konnte entweder durch maßlose Übertreibungen ganz im Stile der antiken Heroisierung – man denke nur an Alexander den Großen, der ein persisches Millionenheer besiegt haben soll – geschehen, insofern eine Schlacht erfolgreich verlaufen war96, oder durch die Betonung der unberechenbaren Tücke und der unüberwindbaren Übermacht der Indianer, welcher sich die tapferen Spanier trotzdem entgegenstellten. Die Heraushebung des Heldenmutes 91 Also der Antritt der Nachfolge des Augustus, Trajan usw. Vgl. Frübis, Hildegard: Die Wirklichkeit des Fremden. Die Darstellung der Neuen Welt im 16. Jahrhundert, Berlin 1995, S. 107 ff. 93 Vgl. ebd., S. 152. 94 Vgl. König, Hans-Joachim: „Verständnislosigkeit und Verstehen, Sicherheit und Zweifel. Das Indiobild spanischer Chronisten im 16. Jahrhundert“, in: Urs Bitterli/Eberhard Schmitt (Hrsg.): Die Kenntnis beider ‚Indienʻ im frühneuzeitlichen Europa, München 1991, S. 50 ff. 95 Vgl. ebd. 96 Vgl. Bericht von Hernán Cortés an Kaiser Karl V. über das mexikanische Unternehmen vom 30.10.1520, in: Behringer (Hrsg.), Lust an der Geschichte, a.a.O., S. 90 f.; hier wird geschildert, wie sich der Heerführer teilweise ohne eigene Verluste gegen mehr als 100.000 Krieger mehrmals durchsetzen konnte. 92 110 im Augenblick der unabwendbaren Niederlage zeigt sich beispielsweise in der Schilderung der Wunden, die der Christ kämpfend ertrug. So heißt es in einem Bericht über eine Konfrontation mit den Maya aus dem Jahre 1517: „Dazu riefen sie in ihrer Sprache immer wieder: ‚Schlagt den Hauptmann tot!ʻ Und wirklich trafen ihn zwölf Pfeilschüsse, mich nur drei, von denen einer sehr gefährlich war, weil der Pfeil bis auf den Knochen drang.“97 Ein weiterer Grund für die gegensätzlichen Schilderungen im militärischen Bereich scheinen gewisse Ängste gewesen zu sein, die, auch wenn sie völlig unbegründet waren, zu einer Verleumdung der Indios als vermeintlich feige und minderwertige Krieger beziehungsweise Strategen führte. Diese Ängste erwuchsen aus einer überraschend aufkommenden Unberechenbarkeit der Indios. „Ohne als Invasoren nach Europa zu kommen, wurden sie zu einer Bedrohung neuer Qualität: Sie erschütterten das Selbstverständnis der Europäer, die sich als einzig mögliche Kulturerscheinung verstanden. Zur Abwehr musste sich Europa ein Bild von ihnen machen, das die Bedrohung umleitete […].“98 Während Kolumbus nur recht wenige und wohl friedliche Ureinwohner zu Gesicht bekam und die militärische Überlegenheit der Konquistadoren außer Frage stand, mussten die prachtvollen Paläste, Heerstraßen und Festungen Tenochtitláns für Cortés Zweifel an der Minderwertigkeit der Indios aufkommen lassen. Kompensiert wurde das anscheinend durch einfache Aussparungen. Zwar findet man reichlich Schilderungen über Taktiken und Manöver der Spanier, kaum aber über die der Indios. Den Häuptlingen der Ureinwohner wurde zumeist nur eine die Kampfmoral steigernde Wirkung zugesprochen, während das niedere Fußvolk vehement stupide gegen die Spanier angerannt sein soll. Ein letzter das Indiobild beeinflussender Faktor waren die Auseinandersetzungen zwischen den Konfessionen in Europa selbst. Um einen die Katholiken verurteilenden Gegensatz zu erhalten, wurden die Eingeborenen kategorisch als wehrlose Opfer dargestellt, was natürlich die Darstellung des gepeinigten Individuums als unbewaffneten, der spanischen Willkür ausgesetzten Menschen voraussetzt. „Die am Körper des Indianers ausgeübten Torturen, seine Leiden werden zum Spiegelbild des Leidens der eigenen Glaubensbrüder, die der Willkür einer tyrannischen Herrschaft auf europäischem Boden ausgesetzt sind.“99 97 Behringer (Hrsg.), Lust an der Geschichte, a.a.O., S. 83. Reese, Armin: „Fremde in der Frühen Neuzeit“, in: Elisabeth Erdmann (Hrsg.): Verständnis wecken für das Fremde, Schwalbach/Ts. 1999, S. 47. 99 Frübis, Wirklichkeit, a.a.O., S. 129. 98 111 1.1.2 Die Gründe für das Gelingen der Expeditionen Auch wenn die Überlieferungen teilweise völlig utopische Szenarien schildern, wonach die Spanier durch ihr glänzendes Kriegshandwerk schier Übermenschliches leisten konnten, ist der unglaubliche militärische Erfolg, der unter Heerführern wie Pizarro oder Cortés usw. herbeigeführt wurde, nicht zu leugnen. In kürzester Zeit wurden die mächtigen Reiche Mittel- und Südamerikas von einer verschwindend geringen Zahl von Kriegern – meist wenige hundert Mann – erobert, obwohl zehntausende Indios zum Kampf gerüstet waren. Doch wie, wenn nicht durch einen Nimbus der Unbesiegbarkeit geschützt, konnten die Spanier die Expeditionen zum Erfolg führen? Ein Grund dafür dürfte wohl tatsächlich die Überlegenheit der europäischen Bewaffnung und der Kriegskunst gewesen sein. Die Spanier waren, versehen mit Helm und Brustpanzer, blendend vor den Hieb- und Stichwaffen der Eingeborenen geschützt, da diese lediglich aus Holz gefertigt waren. Kam es zum Nahkampf, schlugen die Spanier mit ihren Säbeln verheerende Wunden, da die Indios – lediglich von einer Art Baumwollpanzer und -schild geschützt – die Hiebe nicht parieren konnten. Aussichtsreicher waren hingegen Distanzgefechte, da die Ureinwohner Bögen, Wurfspieße und Steinschleudern kannten und diese auch einzusetzen wussten. Vor allem von Pfeilregen, die unter den Spaniern für einige Verluste sorgten, ist in den Quellen oft die Rede. Die Europäer konnten auf Entfernung sowohl mit Armbrüsten als auch mit Musketen wirken, wobei noch zu bemerken ist, dass Letztere – zumindest in Sachen Zielgenauigkeit und Zuverlässigkeit – nicht effektiver als die traditionellen Fernkampfwaffen waren. In größeren Verbänden wie beispielsweise unter Cortés wurden auch Feldgeschütze mitgeführt, die allerdings sehr schwerfällig waren und speziell ausgebildeter Bedienmannschaften bedurften. Auch Kavallerie und Kampfhunde wurden eingesetzt, doch meist nur in geringer Zahl. Neben der Bewaffnung waren auch die Kampffertigkeiten der Spanier zweifellos ausgereifter. Die Eroberer agierten stets vorsichtig und marschierten auch unter gastfreundlichen Indios in geschlossener Formation. Die europäischen Truppen waren zumeist aus ausgebildeten Söldnern zusammengesetzt, die einer straffen Befehlshierarchie folgten. Sie agierten in taktischen Formationen, die fast nie von den Indios zerschlagen werden konnten. Außerdem wurde dabei sehr effektiv auf die verschiedenen Waffengattungen zurückgegriffen, sodass auch geordnete Rückzüge oder Störangriffe durchgeführt werden konnten. Zwar scheinen die Indios keine ausgefeilten Schlachtordnungen und Befehlshierarchien gehabt zu haben100, doch waren sie keineswegs unorganisiert. So erfolgten oft gezielte Angriffe aus dem Hinterhalt, Nachschubwege wurden blockiert, Lager ausspioniert und noch vieles mehr. Abgesehen davon sind gänzlich fehlende Militärkenntnisse schon aufgrund der vielen Fehden unter den 100 Jedenfalls bewährten sich ihre Formationen nicht im Kriegsgetümmel. 112 Stämmen und durch die schiere Größe der Heere äußerst unwahrscheinlich. Auch die Befestigungsanlagen und die Logistik – es gab beispielsweise ungewöhnlich breite Straßen – lassen auf eine ausreichende Kriegserfahrung schließen. Allein durch die militärische Überlegenheit der Spanier im Gefecht konnten die amerikanischen Hochkulturen jedenfalls nicht unterworfen werden. Einen deutlich größeren Einfluss auf den Sieg als die höhere Kampfkraft der Spanier hatte die leicht zu brechende Kampfmoral der Indios. Diese konnte einerseits dadurch erschüttert werden, dass ihr Vertrauen auf ihre Kriegsgötter enttäuscht wurde und andererseits dadurch, dass die europäischen Feuerwaffen eine Massenpanik verursachten. Obwohl sich die neuartigen Waffen noch nicht völlig durchgesetzt hatten und die Büchsenschützen weit ineffektiver als geübte Bogen- und Armbrustschützen waren, nahmen sie bei der Eroberung der Neuen Welt eine kriegsentscheidende Bedeutung ein. Der Schwefelgeruch, das Mündungsfeuer und der ohrenbetäubende Knall waren den Ureinwohnern völlig fremd, weshalb sie diese Waffen mystifizierten und ihnen einen göttlichen Ursprung zusprachen, wenn sie beispielsweise von Blitze schleudernden Stäben erzählten. Daher wurde auch den Spaniern eine gewisse göttliche Stellung angedichtet, die eine erhebliche Hemmschwelle für eine kriegerische Handlung bot und eine umfangreiche Bündnispolitik begünstigte. Jene war der eigentliche Grund für die militärischen Erfolge der Spanier. Konnten die Indios einmal für die spanische Sache gewonnen werden, waren sie laut der Quellen sehr loyale und tapfere Krieger. Dafür waren sich die Spanier, ja selbst der als äußerst grausam bekannte Vasco N. Balboa, nicht zu schade, Töchter oder Schwestern von Häuptlingen zur Frau zu nehmen, damit die Bündnisse gefestigt wurden. Oft schlossen sich die einzelnen Stämme sogar freiwillig den Spaniern an, da sie gewaltsam von den Königen der einzelnen Großreiche teilweise erst kurz vor der Ankunft der Europäer unterworfen worden waren. Cortés traf beispielsweise vor seiner Ankunft in Tenochtitlán auf so heftigen Widerstand, weil die Eingeborenen ihre Freiheit, die sie schon gegen Motecuhzoma in schweren Kämpfen verteidigen mussten, jetzt nicht aufgeben wollten.101 Pizarro wurde 1533 in der Hauptstadt des Inkareiches, Cuzco, sogar wohlwollend aufgenommen, da er den Bürgerkrieg beendet habe, wenngleich er ein riesiges Massaker verantworten musste und ein unmögliches Verbrechen an Atahualpa begangen hatte. Die meisten Stämme wurden letztendlich nicht gewaltsam unterworfen, sondern friedlich assimiliert, wobei sich die Spanier nur geringfügig – jedenfalls zu Beginn – in das alltägliche Leben der Indios einmischten. Die Kontrolle über die Stämme wurde erst allmählich durch Missionare, Statthalter usw. gefestigt. Die europäischen Heerführer bewiesen außerordentliches diplomatisches Geschick im Umgang mit den Stammeshäuptlingen, denen sie Wohl101 Vgl. Behringer (Hrsg.), Lust an der Geschichte, a.a.O., S. 94. 113 wollen vorgaukelten und offensichtliche Intrigen als Wohltat verkauften. In einer Ansprache des Manko Inka an seine Hauptleute über die Belagerung Cuzcos vom Jahre 1536 wird das nur allzu deutlich: „Ich hatte nämlich immer gemeint und war überzeugt, diese bärtigen Leute, die ihr Wiraqochas102 nennt, weil ich es euch – in der Meinung, sie kämen wirklich im Auftrag Wiraqochas – damals so gesagt hatte, würden mir nie mit Tücke begegnen noch irgendein Leid tun. Jetzt aber […] sind sie schon wieder daran, einen Plan auszuhecken, um mich gefangen zu nehmen und zu töten.“103 Zusätzlich wurden die amerikanischen Hochkulturen durch zahlreiche Klimakatastrophen und Epidemien heimgesucht. Hinzu kamen noch Hungersnöte, welche die Einwohner zum Verlassen ihrer Heimat zwangen. „Von hier aus marschierte ich drei Tage durch eine öde Wüste, unbewohnbar durch Unfruchtbarkeit, Wassermangel und große Kälte. Gott aber weiß, welches Ungemach hier das Volk durch Hunger und Durst erduldete, besonders aber durch einen Wirbelsturm mit Hagel und Platzregen, der uns in dieser Wüste packte, sodass ich dachte, es würden viele meiner Leute vor Kälte umkommen. Wirklich starben auch einige Indianer von der Insel Fernandina (Kuba), weil sie zu leicht bekleidet waren.“104 Außerdem wurde gerade während des Bürgerkrieges im Inkareich ein Großteil der Militärmacht gebunden, was den Spaniern den Weg zu Atahualpa erheblich erleichterte. 1.2 Aufgaben, Materialien und didaktische Bemerkungen 1.2.1 Militärische Grundlagen Um später nachvollziehen zu können, dass die Spanier trotz ihrer überlegenen Kriegsfertigkeiten einen Krieg gegen die Hochkulturen nicht allein hätten gewinnen können, ist es nötig, die Kampfkraft der einzelnen Krieger ins Verhältnis zur Mannschaftsstärke zu setzen. Da die Quellen diesbezüglich nicht immer glaubhafte Informationen preisgeben, sollen die Schüler durch logische Schlussfolgerungen auf ein fiktives Verhältnis kommen, das immer hinter dem für einen Vernichtungskrieg notwendigen zurückbleiben muss, da die Schüler wohl kaum angeben werden, dass ein Spanier – sei er auch noch so überlegen – 100 oder gar 500 Aztekenkrieger überwinden könne. Als Einstieg soll eine Bildbeschreibung dienen. Das erste Bild zeigt, wie Balboa seine Kampfhunde auf unbewaffnete Indios hetzt, während die Spanier in entspannter Haltung dabei zusehen. Dabei tragen sie unterschiedliche Waffen und 102 In der Mythologie der Inka der Schöpfergott der Zivilisation. Ebd., S. 289. 104 Bericht von Hernán Cortés an Kaiser Karl V. über das mexikanische Unternehmen vom 30.10.1520, in: ebd., S. 86 f. 103 114 Ausrüstungsgegenstände, die es zu nennen gilt. Die Schüler sollen vor allem die kriegerische Überlegenheit der Spanier erkennen, weshalb ein kurzer Quellentext die Situation erklären muss, damit die Aufmerksamkeit nicht nur auf die Hunde fällt und klar wird, dass dieses Szenario einer gewonnenen Schlacht folgt. B1 Kupferstich aus Theodor de Bry, Americae pars quarta [...]. Frankfurt 1594 [http://www.androphile.org/preview/Museum/New_World/img/de_Balboa.jpg (8.1.2011)] Q 1: Balboa und seine Kampfhunde bei der Durchquerung von Panama 1513 [Inhalt aufgrund unklarer Rechteverhältnisse entfernt. Referenz: Wolfgang Behringer (Hrsg.): Lust an der Geschichte. Amerika (= Serie Piper, 472), München 1992, S. 74] A1 Beschreibe die Situation auf dem Bild und erläutere sie anhand des beigefügten Quellentextes. A2 Versuche, per Recherche in Fachbüchern sowie dem Internet die Waffen und Rüstungsgegenstände zuzuordnen. Welche Vor- und Nachteile ergaben sich daraus für die Eroberer? 115 Das zweite Bild zeigt zwei verfeindete Indiostämme beim Kampf, wobei sie dicht gedrängt und in großer Zahl aufeinander losgehen. Die Waffen und die Ausrüstung der gegnerischen Parteien ähneln sich sehr stark. Ein erläuternder Text ist nicht notwendig, da der Fokus aus der Bildkomposition heraus auf die Schlacht fällt. Die Schüler sollen erkennen, dass auch die Indios geübte Krieger waren, die zwar nur auf ein begrenztes Waffenarsenal zurückgreifen, sich aber dennoch sehr tapfer in Gefechten zeigen konnten. Durch eine Darstellung von Frübis könnte bereits eine Bezugnahme auf den Einfluss des Konfessionsstreites in Sachen Amerikabild mit einfließen. Dieser ist allerdings sehr anspruchsvoll und sollte nur sehr leistungsstarken Schülern beigelegt werden.105 B2 Holzschnitt aus Jean de Léry, Historia navigationis in Brasiliam [...], Genf 1586 [http://www.historycooperative.org/journals/ahr/112.5/images/subrahmanyam_fig 04b.jpg (8.1.2011)] 105 Zukünftig werden besonders anspruchsvolle Aufgaben, die einer Leistungsdifferenzierung unterzogen werden müssen und somit für heterogene Lerngruppen geeignet sind, auch kursiv geschrieben sein. 116 M1 Die Zeichen der Sünde „In summarischer Weise rückt im oberen Teil der Darstellung der indianische Alltag – unter Benutzung der schon bekannten abbreviaturhaften Formeln von Kannibalismus, idyllischem Familienleben, ersten Formen technischer Fertigkeiten (Jagd, Holzsammeln, Hausbau) – ins Bild. Im unteren Teil dieser Darstellung wüten zwei verschiedene Stämme von Indianern – die Tupinamba und die Margajas – gegeneinander. In Replik auf antikisch gewendete Darstellungen zum Kampf unter athletisch gebauten Nackten […] streut Léry hier eine Episode ein, die zum einen von der Unerschrockenheit der Wilden in der Kunst der Kriegsführung berichten soll, zum anderen aber polemisch instrumentalisiert wird im Rahmen der konfessions-politischen Auseinandersetzungen, die hiermit ihren Transfer auf den amerikanischen Boden erfahren. Wie Léry selbst in seinen Schilderungen, auf die er in der Bildunterschrift verweist, ausführt, sind die Margajas sowohl die schlimmsten Feinde der Tupinamba als auch die Verbündeten der Portugiesen, während umgekehrt die Tupinamba mit den Franzosen verbündet sind. Abgesehen von der Anspielung auf das faktisch vorliegende Ereignis ist der Kampf unter den Wilden ein Motiv, welches dem Bildvokabular zur Darstellung der Weltzeitalter entnommen ist, die unter Bezug auf ihre antiken Quellen (Hesiod, Ovid) im Zusammenhang der Reflexionen über die Anfänge des humanum genus zu verstehen sind.“ [Frübis, Hildegard: Die Wirklichkeit des Fremden. Die Darstellung der Neuen Welt im 16. Jahrhundert, Berlin 1995, S. 122 f.] A Beschreibe das Kampfgeschehen auf dem Bild. Analysiere und interpretiere die Kampfszene unter Einbeziehung des Textes und erläutere die vermeintliche Intention des Künstlers. Im nächsten Schritt soll die militärische Überlegenheit der Spanier durch scheinbar periphere Umstände relativiert werden, sodass klar wird, dass die Eroberer nicht nur die Indios, sondern auch Hunger, Durst und Krankheit fürchten mussten – ein wesentlicher Punkt, der später in die Bewertung der Kampfkraft mit einfließen muss. Q2 Der Vormarsch Francisco Pizarros auf Peru 1531 „In diesem Landstrich [der Ecuadorküste] herrschte Mangel an Süßwasser und wir hatten sehr darunter zu leiden; auch fehlte es uns an [indianischen] Führern, die uns hätten sagen können, wohin wir gehen und lagern sollten. […] Wir kamen zu einer trockenen Schlucht ohne Wasser und sahen Rauch; wir blieben in der Schlucht bis kurz vor Morgengrauen und wollten dann die Behausungen überfallen. Es regnete so stark in dieser Nacht, dass ein großer Wasserschwall die Schlucht herunterkam und ein Soldat ertrank und andere nur schwimmend sich retten konnten. Wir fielen über 117 die Ansiedlung her; es waren drei oder vier Indios da; sie hatten ihre Betten oben auf hohen Bäumen wie Storchennester und schrien wie Katzen und Affen; wir ergriffen einen Indio, aber weder konnten wir ihn verstehen noch er uns; dann brachten wir ihn ins Lager, und er gab uns durch Zeichen zu verstehen, dass erst nach fünfzehn Tagesreisen besiedeltes Land komme, wo es zu essen gebe, und etwas anderes wollten wir ja gar nicht. Wir bewegten uns weiter entlang der Küste und trafen schließlich an einem Steilufer auf einen Wasserfall mit Süßwasser, worüber große Freude herrschte, weil wir ja alle so an Wassernot litten. Von dort gingen wir zu Fuß bis zu den Flüssen von Cojemíes, wo Flöße angefertigt wurden, um sie zu überqueren. Dort litten wir wieder unter großem Hunger und Wassermangel, weil die Flüsse erst viel weiter oben Süßwasser führten. […] Dann kam noch ein weiterer Fluss, der noch breiter war als die vorherigen; dort wie schon vorher trieb man eine Stute ins Wasser, band sie an das Floß und ließ die übrigen Pferde frei schwimmen; so brachten wir diejenigen, die nicht schwimmen konnten, und die Pferdesättel auf dem Floß hinüber; Gepäck gab es so wenig, dass es jeder noch in der Hand halten konnte. Nach dieser Überquerung zogen wir weiter die Küste entlang und kamen in ein Sumpfgebiet, wo es viele Krebse gab. Diese hatten sich von Manzanillo [giftige Oliven] ernährt, und jene Nacht war die ganze Mannschaft nahe am Sterben, weil sie von den giftigen Krebsen gegessen hatten.“ [Schmitt, Eberhard (Hrsg.): Dokumente zur Geschichte der europäischen Expansion, Bd. 2, München 1984, S. 389–391, zit. nach: Behringer, Wolfgang (Hrsg.): Lust an der Geschichte. Amerika (= Serie Piper, 472), München 1992, S. 214 f.] A1 Beschreibe die Reise der Spanier und stelle eine Vermutung darüber an, wie die Indios mit den Problemen und Gefahren umgingen. A2 Versetze dich in die Lage der Konquistadoren und ergänze den Reisebericht um weitere zwei Wochen. Schildere die Gefahren, die dabei auftreten könnten. A3 Erstelle eine Liste des mitzuführenden Gepäcks der Soldaten und beachte dabei, dass es gänzlich am Mann zu tragen sein müsste. Abschließend für den Part der militärischen Grundlagen soll die Militärmacht der Konquistadoren und die der Hochkulturen – stellvertretend hierfür das Heer des Atahualpa – in den Stunden vor der tatsächlichen Schlacht bewertet und in einem fiktiven Schlachtverlauf kreativ manifestiert werden. 118 Q3 Das Zusammentreffen Hernando Pizarros mit dem Inka Atahualpa in der Provinzhauptstadt Cajamarca (16.11.1532) „Auf unserem Weg lag ein kahles Gebirge, zu dem der Anstieg über eineinhalb Meilen lang war und über so beschwerliche und gefährliche Pässe führte, dass ein weiterer Vormarsch sinnlos gewesen wäre, wenn Atahualpa dort vorsorglich Krieger postiert hätte. […] Da dieser vielmehr unsere Zahl als sehr gering einschätzte und nicht damit rechnete, dass ihn einhundertfünfzig Mann angreifen könnten, erlaubte er uns, über jenen Pass und über viele andere ebenso schwierige zu ziehen. […] Früh am Freitagmorgen hörten wir die Messe und befahlen uns in den Schutz unseres Gottes. Danach befahl der Gobernador [„Gouverneur“; gemeint ist Pizarro] allen Reitern, sich in ihren rund um den Platz liegenden Quartieren in Bereitschaft zu halten, um mit ihm kämpfen zu können, falls Atahualpa mit seinem Kommen etwas anderes im Schilde führen sollte, als er angekündigt hatte. Das Fußvolk sollte sich in seiner Nähe aufhalten, denn er wollte zu Fuß kämpfen, was er besser beherrschte als den Kampf zu Pferde. Als die Leute so postiert waren, stellte er zwei Wachen auf ein steinernes Gebäude, eine Art Moschee, die mitten auf dem Platz stand, um die Ankommenden zu beobachten. Die Wachen bezogen also ihren Aussichtsposten und spähten von oben aus, was sich im Inkalager tat: Die ganze Zeit von sechs Uhr früh bis vier Uhr nachmittags wurde dort damit verbracht, die Abteilungen von Kriegern zu ordnen und in Reih und Glied aufzustellen und all die Ausstattungen und den Schmuck für Atahualpa, seine Frauen und seine Günstlinge vorzubereiten. Man muss nämlich wissen, dass jeder der mehr als fünftausend Krieger, die er hatte, auf der Stirn eine runde, reichziselierte Scheibe aus Kupfer, Gold oder Silber trug; das blitzte und funkelte so, dass der Feind davor in Angst und Schrecken versetzt werden sollte. Um vier Uhr kamen sie die Straße daher, geradewegs auf unser Quartier zu; um fünf Uhr oder ein wenig später gelangten sie am Stadttor an; das ganze Vorfeld war bedeckt von Menschen; nach und nach füllte sich der Platz mit etwa fünfhundert Menschen – es waren wohl Pagen – mit Bogen und Pfeilen, und sie stimmten einen Gesang an, der ganz und gar nicht angenehm in unseren Ohren klang, schon eher schrecklich, ja er schien uns geradezu höllisch. […] Nach der Runde um den Tempel blieben sie stehen, und es kam eine zweite Schwadron von etwa tausend Männern mit Speeren ohne Eisen, deren Spitzen angekohlt waren, alle in farbigen Livreen: die ersten waren weiß und rot gemustert wie die Felder eines Schachbretts. Nach der zweiten eine dritte in anderer Livree, alle mit Hämmern aus Kupfer und Silber – das ist auch eine ihrer Waffen. Mitten unter ihnen viele Herren von Adel und schließlich Atahualpa selbst in einer prachtvollen offenen Sänfte, deren Tragegriffe mit Silber beschlagen waren und die von achtzig Adelsherren auf den Schultern getragen wurde […].“ 119 [Schmitt, Eberhard (Hrsg.): Dokumente zur Geschichte der europäischen Expansion, Bd. 2, München 1984, S. 397–401, zit. nach: Behringer, Wolfgang (Hrsg.): Lust an der Geschichte. Amerika (= Serie Piper, 472), München 1992, S. 220 ff. A Skizziert den in der Quelle geschilderten Kampfplatz und die Aufstellung der einzelnen Mannschaftsabteilungen in Gruppenarbeit auf einer Folie. Erstellt daraus eine Prognose für eine militärische Auseinandersetzung und schildert diese in Form eines Kriegstagebuchs. Stellt im Anschluss eure Arbeiten der Klasse vor und begründet eure Prognose. 1.2.2 Das Kriterium der Angst vor dem Fremden Da die Schüler vermutlich eine Prognose zugunsten Atahualpas erstellen würden – man beachte die beschwerliche Reise der Europäer, die zahlenmäßige Überlegenheit und die scheinbar feste Formation der Inkas – kann ihre logische Schlussfolgerung durch die Schilderung des tatsächlichen Verlaufs der Schlacht erschüttert werden, was zu einem weiteren Aspekt der Überlegenheit der Europäer führt, nämlich die panische Angst der Indios vor den unbekannten Waffen und „Kreaturen“ der Eroberer. Q4 Die Schilderung einer Auseinandersetzung mit den Indios „Als der Mönch das sah und wie wenig seine Worte verfingen, hob er sein Buch auf und rannte mehr als er ging mit gesenktem Kopf zurück zu Pizarro und rief ihm zu: ‚Seht ihr nicht, was da los ist? Wie könnt ihr euch noch aufhalten mit höflichem Getue und requerimientos […] mit jenem Hund, der vor Hochmut birst und ringsum alles voller Indios? Greift ihn an! Ich gebe euch die Absolution!ʻ 106 Kaum hatte er das gerufen, als die Trompeten schmetterten, und mit dem Ruf ‚Santiago, auf sie los!ʻ stürzte er [Pizarro] mit dem ganzen Fußvolk, das bei ihm war, aus seinem Quartier, und wir übrigen folgten diesem Ruf. Alle stürmten zugleich auf die Plaza, denn die Häuser um die Plaza hatten viele Türen und schienen zu diesem Zweck eingerichtet. Wie ein Mann griffen die Reiter an und fielen über die Indios her. Auf unserer Seite kam niemand ums Leben, nur ein Neger; die Indios aber wurden alle geschlagen und Atahualpa gefangengenommen. Die übrigen versuchten zu fliehen, doch das Tor, durch welches sie hereingekommen waren, war zu klein, und in 106 Atahualpa hatte die Bibel, welche ihm der Mönch gegeben hatte, auf den Boden geworfen und verlangte, dass die Fremden Rechenschaft ablegen und für alles bezahlen sollten, was sie seinem Land angetan hätten. 120 der allgemeinen Panik verstopften sie den Ausgang, so dass nur einzelne durchkamen. Als nun die Zurückgebliebenen sahen, wie wenig an Flucht und Rettung zu denken war, warfen sich zweitausend oder dreitausend von ihnen an einer Stelle, wo keine Häuser standen, gegen ein großes Stück Mauer und stürzten mit ihr zur Erde; so entstand eine breite Bresche, durch die sie in das freie Feld hinaus flüchten konnten. Als die Abteilungen, die außerhalb der Stadt auf dem Feld geblieben waren, sie unter großem Geschrei fliehen sahen, lösten sie sich ebenfalls auf, und fast alle ergriffen die Flucht. Es war beeindruckend: Das ganze Tal, vier bis fünf Meilen lang, war gedrängt voll Menschen! Darüber brach schnell die Nacht herein; unsere Leute sammelten sich und Atahualpa wurde in einem steinernen Haus, dem Sonnentempel, gefangengesetzt.“ [Schmitt, Eberhard (Hrsg.): Dokumente zur Geschichte der europäischen Expansion, Bd. 2, München 1984, S. 397–401, zit. nach: Behringer, Wolfgang (Hrsg.): Lust an der Geschichte. Amerika (= Serie Piper, 472), München 1992, S. 225 f.] A1 Stelle eine Vermutung darüber an, was Atahualpa getan haben könnte und interpretiere anschließend sein tatsächliches Vergehen. A2 Beschreibe den „Kampfverlauf“ und nenne die Gründe für die Niederlage des Inkakönigs. A3 Analysiert den Schlachtverlauf, nehmt eine entsprechende Korrektur in eurer Skizze vor und diskutiert in der Klasse, was der Inkaherrscher hätte tun können, um die Schlacht zu gewinnen. Da sich eine derartige Panik der Inkakrieger nicht allein aus den Informationen der Quelle erklären lässt, ist es Zeit für die Schüler, die Perspektive zu wechseln und die Spanier aus der Sicht der Indios zu betrachten – natürlich auf die militärische Ebene bezogen. Sie sollen dabei erkennen, dass sich die spanischen Siege nicht allein aus rationalen Gründen erklären lassen und die Kampfmoral ein äußerst bedeutsamer Faktor in der Kriegführung darstellte. Jene Moral war vor allem durch Eindrücke und Gerüchte bestimmt, aus denen die Erfolgschancen erwogen wurden. Während die Spanier sich scheinbar Wilden gegenübersahen, kämpften die Indios gegen bärtige Krieger mit „Eisenhaut“ und „Blitzstäben“, die ohrenbetäubende Laute von sich gaben. Kein Wunder, dass die meisten Indiokrieger nicht gewillt waren, gegen solche Gegner anzurennen – gerade als Erste nicht! Man muss dabei bedenken, dass die Zahlenverhältnisse im Zuge dessen relativiert wurden, da die Krieger aufgrund der großen Zahl tief gestaffelt vorgehen mussten und nicht alle Indiokrieger gleichzeitig wirken konnten. 121 Q5 Bericht aztekischer Gesandter über die Fremdlinge an Motecuhzoma [Inhalt aufgrund unklarer Rechteverhältnisse entfernt. Referenz: Behringer, Wolfgang (Hrsg.): Lust an der Geschichte. Amerika (= Serie Piper, 472), München 1992, S. 150 f.] A1 Analysiere die Quelle in Bezug auf die Wahrnehmung der Fremdlinge durch aztekische Gesandte und gehe dabei vor allem auf die Sprachstilistik ein. A2 Bewerte die Quelle hinsichtlich ihrer Aussagekraft, die militärische Ausrüstung der Spanier betreffend. A3 Erkläre, wodurch das Bild der aztekischen Gesandten geprägt wird. Quellenkritik Abgesehen davon, dass es mit der Quelle bezüglich der Gefangennahme Atahualpas und auch durch die eben gestellte Aufgabe schon zu erahnen ist, wird es jetzt Zeit, die Schüler für die Sichtweisen in den Quellen zu sensibilisieren. Dabei sollen sprachliche Bilder und die Position des Verfassers gebunden an die Textanalyse im Vordergrund stehen. Die Schüler sollen erkennen, dass die Quellen stark von der soziokulturellen Perspektive beziehungsweise der Haltung des Autors beeinflusst und daher oft gegensätzlich, gerade wenn es um das Indiobild geht, dargestellt werden. Q6 Bericht von Hernán Cortés an Kaiser Karl V. über das mexikanische Unternehmen vom 30.10.1520 [Inhalt aufgrund unklarer Rechteverhältnisse entfernt. Referenz: Behringer, Wolfgang (Hrsg.): Lust an der Geschichte. Amerika (= Serie Piper, 472), München 1992, S. 90 f.] A1 Analysiere die Quelle in Hinblick auf das Verhältnis, in dem Cortés und Karl V. stehen. A2 Nenne die Gründe, die für den Sieg auf ganzer Linie angeführt werden, belege diese am Text. A3 Bewerte die Quelle hinsichtlich ihrer Glaubwürdigkeit; diskutiert anschließend innerhalb der Klasse darüber, was möglich und was unmöglich erscheint. 122 Q7 Tagebucheintrag des Kolumbus „Sofort sammelten sich an jener Stelle zahlreiche Eingeborene der Insel an. In der Erkenntnis, dass es sich um Leute handle, die man weit besser durch Liebe als mit dem Schwert retten und zu unserem heiligen Glauben bekehren könne, gedachte ich sie mir zu Freunden zu machen und schenkte also einigen unter ihnen rote Kappen und Halsketten aus Glas und noch andere Kleinigkeiten von geringem Wert, worüber sie sich ungemein erfreut zeigten. Sie wurden so gute Freunde, dass es eine helle Freude war. Sie erreichten schwimmend unsere Schiffe und brachten uns Papageien, Knäuel von Baumwollfäden, lange Wurfspieße und viele andere Dinge noch, die sie mit dem eintauschten, was wir ihnen gaben, wie Glasperlen und Glöckchen. Sie gaben und nahmen alles von Herzen gern – allein mir schien es, als litten sie Mangel an allen Dingen.“ [Bitterli, Urs (Hrsg.): Die Entdeckung der Welt. Dokumente und Berichte, Bd. 1, München 1980, S. 34 f.] Q8 Der Mönch Diego de Landa berichtet aus Yucatán „Sie verübten (an den Indios) unerhörte Grausamkeiten, sie schnitten Nasen, Arme und Beine und den Frauen die Brüste ab, banden ihnen Kalebassen an die Füße und warfen sie in tiefe Lagunen; den Kindern versetzte man Degenstöße, weil sie nicht so schnell wie die Mütter liefen, und wenn man sie in Halseisen mitführte und sie krank wurden oder nicht so schnell wie die anderen liefen, schlug man ihnen die Köpfe ab, damit man nicht halten musste, um sie loszumachen. Und mit einer derartigen Behandlung holten sie viele gefangene Frauen und Männer zu ihrem Dienst zusammen. […] Die Spanier rechtfertigten sich damit, dass sie sagten, weil sie wenige wären, könnten sie so viele Menschen nicht unterwerfen, ohne sie mit schrecklichen Strafen einzuschüchtern, und als Beispiel führen sie die alte Geschichte vom Zug der Hebräer ins gelobte Land an, (bei dem) auf Gottes Geheiß große Grausamkeiten (begangen wurden); und andererseits hatten die Indios recht, als sie ihre Freiheit verteidigten und auf die äußerst tapferen Hauptleute vertrauten, die sie führten und von denen sie dachten, dass sie sich deshalb den Spaniern entgegenstellen könnten.“ [Landa, Diego de: Bericht aus Yucatán, hrsg. von Carlos Rincón, übers. von Ulrich Kunzmann, Leipzig 1990, S. 38] AT 1 Diego de Landa Diego de Landa lebte von 1524 bis 1579 und meldete sich freiwillig dazu, als Mönch nach Amerika zu gehen, um den christlichen Glauben als Missionar zu verbreiten. Als er dort im Jahre 1549 angekommen war, wurde er zum stellvertretenden Guardian der Missionssiedlung San Antonio de Yzamal ernannt. Er reiste dann durch Yucatán und verbreitete das Evangelium, woraufhin ihm von den Kolonialherren vor123 geworfen wurde, dass er sich unrechtmäßig der Schätze des Landes bediene. 1561 übte de Landa das Amt des Inquisitors aus und verfolgte all die Indios, die sich dem christlichen Glauben verweigerten. Im Zuge dessen ließ er auch alle Schriften der Indios verbrennen, die er finden konnte, weil sie nicht von Aberglauben und Täuschungen des Teufels frei wären. Später musste er sich vor Gericht davor verantworten, dass er sich bischöfliche Macht bei seinen Ketzerprozessen angemaßt hätte. Er wurde zwar letztendlich freigesprochen, doch musste er gezwungenermaßen während der Untersuchungen in Spanien bleiben, wobei er die Zeit nutzte, um seine Tat „wiedergutzumachen“, indem er sein Werk „Relacion de las cosas de Yucatán“ schrieb. Darin verarbeitete er die mündlichen Überlieferungen der Indios. A1 Analysiert die beiden Quellen in Gruppenarbeit und beschreibt die Empfindungen, die ihr beim Lesen erfahren habt. A2 Beschreibt, wie mit den Indios umgegangen wird und sucht nach Argumenten im Text, die für die jeweilige Behandlung der Ureinwohner sprechen. A3 Erarbeitet ein Persönlichkeitsprofil für die beiden Autoren der Quellen und erläutert anschließend vor der Klasse euren Entwurf. 1.2.3 Diplomatie und Bündnispolitik Nicht die militärische Überlegenheit der Spanier, sondern nur eine ausgefeilte Heirats- und Bündnispolitik konnten den Erfolg der europäischen Expeditionen auf Dauer gewährleisten. Viele Indiostämme glaubten, die Spanier seien als eine Art Befreier gekommen, die sie aus dem Joch der Unterdrückung retten würden; da die Spanier auch nach der Übernahme der Herrschaft der Stämme nur in Form von Statthaltern die „Regierungsgeschäfte“ übernahmen – es waren also nur wenige Spanier permanent vor Ort – blieb der Alltag der Indios mehr oder weniger unberührt. Als sich der europäische Einfluss – gerade aufgrund übereifriger Missionare – allmählich bemerkbar machte, entschieden sich die Stämme für das „geringere Übel“ und verblieben bei den neuen Herren. Die Eroberer wurden im Aztekenreich auch als Teil einer sich jetzt erfüllenden Prophezeiung angesehen, weshalb die Indios „im Zeichen ihrer Götter“ viel über sich ergehen ließen. Gefestigt wurden die Bündnisse durch die Heiratspolitik, sodass auch die europäischen Heerführer sich nicht davor scheuten, hochrangige Häuptlingsschwestern zu heiraten. Q9 Die Azteken über die Erfüllung einer Prophezeiung [Inhalt aufgrund unklarer Rechteverhältnisse entfernt. Referenz: Behringer, Wolfgang (Hrsg.): Lust an der Geschichte. Amerika (= Serie Piper, 472), München 1992, S. 146 f.] 124 A1 Beschreibe die hierarchische Stellung, die den Spaniern beigemessen wird. A2 Erläutere, welche Auswirkungen diese Stellung auf die Eroberung des Aztekenreiches gehabt haben könnte. Q 10 Bericht von Hernán Cortés an Kaiser Karl V. über das mexikanische Unternehmen vom 30.10.1520 [Inhalt aufgrund unklarer Rechteverhältnisse entfernt. Referenz: Behringer, Wolfgang (Hrsg.): Lust an der Geschichte. Amerika (= Serie Piper, 472), München 1992, S. 85] A Nenne die Gründe für das Bündnis der Indios mit dem Eroberer. Errechne dabei das Zahlenverhältnis zwischen Spaniern und den verbündeten Indios und erläutere dessen Einfluss auf die Kriegsstrategie der Europäer. Q 11 Bündnis mit Manko Inka als vorbeugende Maßnahme (15.11.1533) „Zuvor aber ging der Gobernador, um den Friedens- und Freundschaftsbund mit dem besagten Kaziken und seinen Leuten zu bekräftigen, mit zahlreichen Leuten aus seinem Gefolge nach der Weihnachtsmesse auf die Plaza, wo der Kazike und die Würdenträger des Landes mit ihrem Kriegsvolk neben den Spaniern Platz nahmen, der Kazike auf einem erhöhten Sitz und seine Leute im Umkreis auf dem Boden. Der Gobernador hielt ihnen die für einen solchen Anlass übliche Rede, und ich als sein Sekretär und Amtsschreiber des Heeres las auf seine Veranlassung das von S. M. vorgeschriebene Requerimiento [Amtsschrift der Inbesitznahme eines neueroberten Landes und Angebot der christlichen Heilsbotschaft] vor. Der Inhalt wurde ihnen von einem Dolmetscher erklärt. Sie verstanden alles gut, denn sie beantworteten sämtliche Fragen. Man forderte sie auf, sich als Vasallen S. M. zu betrachten, und der Gobernador nahm ihn [Manko] mit der gleichen Feierlichkeit als Freund und Verbündeten an wie damals den Tupac Hualpa. Die königliche Standarte wurde zweimal gehoben und beim Schall der Trompeten umarmte der Gobernador sie [die neuen Vasallen] herzlich zum Zeichen seiner Freundschaft. Die weiteren Zeremonien beschreibe ich nicht, um nicht zu ermüden. Zum Abschluss stand der Kazike auf, nahm einen goldenen Becher und gab eigenhändig dem Gobernador und den Spaniern zu trinken. Schließlich gingen sie essen, da es schon spät war.“ [Schmitt, Eberhard (Hrsg.): Dokumente zur Geschichte der europäischen Expansion, Bd. 2, München 1984, S. 408, 410–417, zit. nach: Behringer, Wolfgang (Hrsg.): Lust an der Geschichte. Amerika (= Serie Piper, 472), München 1992, S. 234] 125 A1 Erläutere die im Text beschriebene Bündnisschließung. Beschreibe mögliche Auswirkungen des Bündnisses auf den weiteren Expeditionsverlauf. A2 Interpretiere den Schreibstil des Autors und bewerte seine Aussage, dass er eine Schilderung unterbricht, um nicht zu ermüden. Abschließend soll eine Rangliste der Gründe erstellt werden, weshalb die Eroberungszüge erfolgreich verliefen. Dabei sollten Papierstreifen angefertigt werden, auf denen die hier behandelten Gründe stehen. Diese sollten dann den einzelnen Gruppen durchgemischt ausgeteilt werden. Nach der Diskussion sollte die fertige Rangfolge ins Heft übernommen werden. A1 Erstellt in Gruppenarbeit mit Hilfe der Papierstreifen eine Rangfolge der Gründe, die für den Erfolg der Expeditionen maßgeblich waren. A2 Stellt eure Rangfolge vor der Klasse vor und begründet eure Entscheidung. A3 Diskutiert innerhalb der Klasse darüber, welche Rangordnung am plausibelsten erscheint. Übernehmt die Endfassung in euer Heft. Rangfolge der Gründe für den Erfolg der Expeditionen 1. ausgefeilte Bündnispolitik 2. politische Zerrissenheit der amerikanischen Hochkulturen, Hungersnöte, Epidemien, Naturkatastrophen 3. anfängliches Wohlwollen der Hochkulturen aufgrund eines vermeintlich göttlichen Ursprungs der Spanier verbunden mit der Hoffnung der Erfüllung einer Prophezeiung 4. Panik durch die Waffen und den Nimbus der Unbesiegbarkeit der Spanier 5. Bewaffnung und Kriegskunst der Spanier 126 M2 Strategiespiel: „Age of Empires, the War Chiefs“ Dieses Strategiespiel eignet sich hervorragend dazu, das eben Erlernte in einer ästhetischen Form anzuwenden. „Zahlreiche Spiele, darunter besonders diejenigen mit einem historischen Hintergrund, vermitteln Sachinformationen und Allgemeinwissen. Dabei wird anders als bei den ‚Lernmaschinenʻ ein forschendes, exploratives Lernen begünstigt.“107 Neben der ausgezeichneten Grafik wird auch auf eine äußerst detailgetreue Nachbildung der einzelnen Kampfeinheiten und der Gebäude geachtet, die größtenteils historisch belegt sind – so z. B. der Jaguarritter der Azteken, welcher mit Schild und Obsidianschwert bewaffnet ist. Die Spielsteuerung folgt denen typischer Strategiespiele und muss – insofern es erfahrene Spieler in der Klasse gibt –nicht extra erlernt werden. Das Spielarrangement: Da durch die Spieleinstellungen große Asynchronität108 und historische Widersprüche109 erzielt werden könnten, muss ein Spielarrangement festgelegt werden, das der Geschichte möglichst nahekommt. Die nötigen Einstellungen können bei der Schaltfläche „Gefecht“ (Mehrspielermodus) vorgenommen werden: 1. Spanier vs. Azteken 2. Startzeitalter = Entdeckungszeitalter 3. Endzeitalter = Festungszeitalter 4. Spieltyp = Deathmatch 5. Spiel aufzeichnen Die beiden Spieler verfügen jetzt über ausreichend Rohstoffe von Anfang an, sodass genügend Einheiten ausgebildet und Gebäude errichtet werden können. Da keine weiteren Spieler an dem Gefecht beteiligt sind, können sich die Parteien absprechen und ein Schlachtszenario darstellen, was sie später mit Hilfe der Aufzeichnung vor der Klasse vorstellen können. Dabei ist noch zu sagen, dass jede Einheit bestimmte Stärken und Schwächen hat, die unbedingt berücksichtigt werden müssen.110 Die Spieler können zudem Bündnisse mit Indiostämmen schließen, was es ihnen ermöglicht, bestimmte Einheiten auszubilden und neue Weiterentwicklungen zu tätigen. 107 Grosch, Waldemar: Computerspiele im Geschichtsunterricht (= Geschichte am Computer 2), Schwalbach/Ts. 2002, S. 60. 108 Man kann bis zum „Imperialzeitalter“ voranschreiten, wonach sich auch die Waffentechnik richtet. 109 Man kann beispielsweise mit den Türken Amerika kolonisieren. 110 Vgl. Benutzerhandbuch, S. 13: „Der Macehualtin ist eine aztekische Infanterieeinheit mit guter Angriffsstärke und passabler Reichweite. Er eignet sich optimal für Fernangriffe und ist sehr effektiv im Kampf gegen schwere Infanterieeinheiten wie z. B. Musketiere und Pikeniere.“ 127 A 111 Baut sowohl das spanische als auch das aztekische Lager zu einer befestigten Stadt mit Wällen, Rekrutierungsgebäuden usw. vollständig aus. Bildet zwei große Heere aus, wobei das der Spanier aus Kampfhunden, Armbrustschützen, Lanzenreitern, Musketieren und Falkonetten, das der Azteken aus Macehualtin, Kojotenläufern und Puma-Speerkämpfern besteht. Dabei sollten die spanischen Einheiten voll aufgerüstet (in Schmiede) und die der Azteken dafür deutlich mehr sein. Simuliert eine Schlacht durch taktische Manöver und bestimmte Truppenaufteilungen so, dass die Spanier trotz ihrer zahlenmäßigen Unterlegenheit siegen. Simuliert eine Seeschlacht zwischen spanischen Kriegsschiffen und indianischen Kriegskanus mit ähnlichem Ausgang. Simuliert einen Hinterhalt der Azteken – unterstützt von Elitetruppen verbündeter Stämme111 –, um die Truppen der Spanier zu besiegen. Führt das Spiel selbständig zu Ende, wobei derjenige verliert, dessen Kundschafter112 zuerst besiegt wird. Kommentiert vor der Klasse das aufgezeichnete Spiel und erläutert eure Strategien und Maßnahmen, durch die die Aufgaben gelöst wurden. Dafür müssen erst Bündnisse mit Indiostämmen mit Hilfe eines Botschaftsgebäudes geschlossen werden. 112 Dieser ist der vielseitigste Krieger jedes Volkes, der zahlreiche Spezialfähigkeiten besitzt, aufwendig gekleidet und nur einmal verfügbar ist. 128 2 BAUSTEIN II – WIRTSCHAFT UND GEOGRAPHIE 2.1 Sachinformation Mit Anbruch des 15. Jahrhunderts beginnt auch das Zeitalter der Entdeckungen, welches durch Heinrich den Seefahrer und seine Eroberung der arabischen Stadt Ceute, nahe der Straße von Gibraltar, eingeleitet wurde. Im Zuge seiner Förderung der Seefahrt wurden Madeira (1419) und die Azoren (1427) entdeckt und zu portugiesischen Kolonien. Die Inselgruppe der Azoren sollte bei der Entdeckung der Neuen Welt und den Reisen in diese noch eine wichtige Rolle spielen, da sich hier die letzten Süßwasserquellen vor dem Erreichen Amerikas befanden. Auch Christoph Kolumbus hoffte auf die Unterstützung der portugiesischen Krone für die Realisierung seiner Pläne einer Entdeckungsfahrt, doch diese wurde ihm versagt. Das Werben um Förderung durch das spanische Königspaar ab 1486 blieb anfangs auch vergebens, doch Kolumbus wurde am Hof gehalten, um seine Ideen der spanischen Krone zu sichern und keiner anderen Macht zugänglich zu machen. Erst 1492 wurden sich Königin Isabella und der genuesische Seefahrer über die Konditionen einer Entdeckungsfahrt, um einen westlichen Seeweg nach Indien zu finden, in der „Kapitulation von Santa Fé“113 einig. Die folgende Seereise gen Westen führte dazu, dass Kolumbus zum Entdecker Amerikas stilisiert wurde, obwohl ihm diese Ehre nicht mehr zu seinen Lebzeiten zuteilwerden sollte. Die neuere Forschung hat jedoch gezeigt, dass bereits ca. 500 Jahre zuvor Isländer unter der Führung von Leif Eriksson in Amerika anlandeten. Doch erst nach den Entdeckungsfahrten unter spanischer Flagge begann die dauerhafte Kolonialisierung der Neuen Welt. Die Motive der Kolonisation sind vielfältig und immer im Kontext zu sehen. Spanien und die anderen künftigen Kolonialmächte waren darauf bedacht, ihre Territorien und ihren Einflussbereich zu vergrößern. Ein größerer Machtbereich bedeutet natürlich auch ein größeres Gebiet, welches wirtschaftlich für die eigenen Interessen genutzt werden kann. Bereits die „Kapitulation von Santa Fe“ zeigt, dass die wirtschaftlichen Aspekte im Vordergrund standen und jeder Beteiligte die für sich besten Konditionen aushandeln wollte. Neben der eigentlichen Phase der Entdeckung Amerikas ist es von Interesse, einzelne wirtschaftliche Aspekte zu beleuchten und die Intentionen der handelnden Personen genauer zu hinterfragen. Die im Folgenden vorgestellten Materialien und Aufgaben sollen dazu dienen, Schülerinnen und Schülern der Sekundarstufe einen Eindruck über die Tragweite des Handelns der Kolonialmächte in der Neuen Welt zu vermitteln. Sie sollen versuchen, 113 Auch als „Kronvertrag von Santa Fé“ bekannt. 129 sich in die Situation hineinzuversetzen und so ein Verständnis für das Agieren im historischen Kontext zu entwickeln. 2.2 Materialien und Aufgaben 2.2.1 Wirtschaftliche Aspekte der europäischen Expansion in schriftlichen Quellen Für den Schulunterricht eignen sich authentische Textquellen besonders gut, um den Schülerinnen und Schülern einen Eindruck von den damals herrschenden Strukturen und den Überlegungen der handelnden Personen zu vermitteln. Die hier vorgestellten Quellen sind nur ein Bruchteil der überlieferten und noch vorhandenen Quellen aus den Anfängen der Frühen Neuzeit. Ein Großteil der verwendeten Quellen stammt aus der Dokumenten- und Quellensammlung „Dokumente zur Geschichte der europäischen Expansion“, die von E. Schmitt in sieben Bänden herausgegeben wurde.114 Ziel dieses Bausteines ist es, den Schülern begreiflich zu machen, dass der wirtschaftliche Aspekte von Beginn an eines der wichtigsten Ziele war und es noch bis zum Ende des Kolonialzeitalters im 20. Jahrhundert war. Um globale Verflechtungen und Wirtschaftskreisläufe zu vergleichen bzw. den Transfer zu ermöglichen, können auch aktuelle Texte aus der Tagespresse verwandt werden. So könnte die Bedeutung der Wirtschaft für Unternehmungen in der Frühen Neuzeit besser verständlich gemacht werden. Gegebenenfalls ließe sich auch hier ein interdisziplinärer Austausch mit einem anderen Unterrichtsfach wie der Politik oder der Wirtschaftskunde arrangieren. Q1 Der Kronvertrag von Santa Fé vom 17. April 1492 „Don Fernando und Doña Isabella, von Gottes Gnaden König und Königin […]. Wir haben einige Vertragsartikel gesehen, die mit Unserem Namen unterzeichnet, mit Unserem Siegel gesiegelt und in dieser Weise abgefaßt sind. Die erbetenen Titel und Rechte, welche Eure Hoheiten dem Don Cristóbal de [sic] Colón gewähren und verleihen als Belohnung für das, was er in den Ozeanischen Meeren entdeckt hat […], und für die Reise, die er jetzt mit Gottes Hilfe im Dienste Eurer Hoheiten auf diesen Meeren unternehmen soll, sind jene, die im folgenden ausgeführt werden: 114 Die genaue Literaturangabe befindet sich im Literaturverzeichnis. 130 Zum ersten ernennen Eure Hoheiten als Herrn über die genannten Ozeanischen Meere von heute an den genannten Don Cristóbal Colón zu ihrem Admiral über alle jene Inseln und Festlande, die von ihm und seinen Bemühungen in den genannten Ozeanischen Meeren entdeckt und gewonnen werden, auf Lebenszeit, und nach seinem Tode seine Erben und Nachkommen auf ewig, von einem zum anderen fortlaufend, und mit allen jenen Vorrechten und Privilegien, die zu diesem Amt gehören und wie sie Don Alonso Enriquez, Euer Großadmiral von Kastilien, und dessen Vorgänger im genannten Amte in ihrem Amtsbereich innehatten. Ihre Hoheiten stimmen zu. Johan de Coloma. Ferner ernennen Eure Hoheiten den genannten Don Cristóbal Colón zu ihrem Vizekönig und Generalgouverneur aller genannten Inseln und Festlande und Inseln, die er, wie erwähnt, in genannten Meeren entdeckt und gewinnt. Für die Verwaltung von allen und jeder einzelnen der Inseln und Festlande wird er für jedes Amt drei Personen vorschlagen, unter denen Eure Hoheiten diejenige Person auswählen werden, die für ihre Dienste am geeignetsten erscheint. So werden die Länder, die ihn Unser Herr zum Nutzen und Vorteil Eurer Hoheiten findet und gewinnen läßt, besser verwaltet werden. Ihre Hoheiten stimmen zu. Joan [sic] de Coloma Des weiteren wollen Eure Hoheiten, daß von allen und jedweden Waren, die gekauft, getauscht, gefunden, gewonnen oder vorgefunden werden innerhalb des Amtsbereichs der genannten Admiralität, welche Eure Hoheiten dem genannten Don Cristóbal Colón von heute an verleihen, dieser nach Abzug aller entstandenen Unkosten den zehnten Teil von allem für sich haben und einnehmen soll, ob es nun Perlen, Edelsteine, Gold, Silber, Spezereien oder irgendwelche anderen Dinge und Handelswaren welcher Art, Bezeichnung oder Gattung auch immer sind; in der Weise also, daß er von dem, was rein und unbelastet bleibt, den zehnten Teil haben und einnehmen und damit nach seinem Gutdünken verfahren soll, wobei die übrigen neun Teile für Eure Hoheiten bleiben. Ihre Hoheiten stimmen zu. Johan de Coloma Ferner, wenn wegen der Waren, die er von den Inseln und Festlanden, welche man, wie erwähnt, gewinnt und entdeckt, mitbringen wird, oder wegen der Waren, die im Tausch für jene hier von anderen Händlern erworben werden, an dem Ort, an welchem der genannte Handel und das Geschäft abgeschlossen wird, irgendein Rechtsstreit entsteht, so sollen Eure Hoheiten einverstanden sein und von heute an verfügen, daß in solch einem Verfahren von keinem anderen Richter als von ihm oder von seinem Vertreter ein Urteil gefällt wird, falls dies zu den Privilegien eines Admiralsamtes gehört. […] Des Weiteren soll der genannte Don Cristóbal Colón nach Wunsch den achten Teil der Kosten für Ausrüstung und Ladung bei allen Schiffen aufbringen dürfen, die für den genannten Handel und Verkehr eingesetzt werden, und zwar in jedem einzelnen Falle. 131 Er soll auch den achten Teil des Nutzens haben und einnehmen, welcher sich dabei ergibt. Ihre Hoheiten stimmen zu. Johan [de] Coloma […]“ [Schmitt, Eberhard (Hrsg.): Dokumente zur Geschichte der europäischen Expansion, Bd. 2, München 1984, S. 106 f.] A1 Welche Zugeständnisse werden Kolumbus von der spanischen Krone gemacht? Interpretiere, was das Ergebnis für den Entdecker bedeutet. A2 Versuche zu erklären, warum der spanische König und die Königin so große Zugeständnisse machen. M1 Aufbruch zu neuen Horizonten: Die Globalisierung Europas (von H. Gründer) „Zwischen dem 13. und dem 16. Jahrhundert vollzog sich in Europa ein epochaler Wandel. Das Wachstum der Bevölkerung, die Stadtentwicklung mit dem Aufkommen eines selbstbewussten Bürgertums, die globale Ausweitung des Handels, neue Techniken und nicht zuletzt ein zunehmend säkularisiertes Menschen- und Weltbild bildeten die Grundlage für diesen Umbruch. An seinem Ende stand die moderne Welt mit ihren neuen Vorstellungen von Philosophie und Religion, ihrer starken Hinwendung zu den Realitäten von Natur und Welt, ihren vielfältigen Erfindungen und Entdeckungen, ihren veränderten politischen und wirtschaftlichen Systemen, ihren expansiven und progressiven Kräften. Mit dem Aufbruch Europas im geistigen, wirtschaftlichen und technischen Bereich begann zugleich die europäische Ausbreitung über die Welt. Die Entdeckung Amerikas durch Christoph Kolumbus 1492 und die Landung Vasco da Gamas in Indien markierten einen welthistorischen Wendepunkt. War den Europäern zu Beginn des 15. Jahrhunderts noch der weitaus größte Teil der Erde unbekannt, so setzte nunmehr eine Erweiterung des Gesichtskreises ein, die schließlich den gesamten Planeten umfasste. Zunächst einmal vollzog sich in dieser Revolution das, was man den Umschlag vom Mythos zur Realität genannt hat. Gemeint sind hiermit das Ende der von Mythen, Legenden und biblischen Vorstellungen bestimmten Versuche in Antike und Mittelalter, die unbekannte Welt zu entschleiern, und die nunmehr systematisch und rational betriebene Erweiterung der geographischen Kenntnisse und des von der Kugelgestalt der Erde bestimmten Weltbildes. Zugleich wuchs das Bewusstsein globaler Zusammenhänge. Diese Globalisierung der Weltgeschichte vollzog sich allerdings unter europäischen Vorzeichen. Auch wenn andere Kulturen neue Siedlungsräume erschlossen, kolonialisierten und Reiche bildeten – der Expansionismus allein war kein schlechthin europäisches Phänomen –, so haben letztlich doch nur die christlich-abendländischen Wert- und Zielvorstellungen eine derartige wirtschaftliche, 132 technisch-militärische und geistige Dynamik freigesetzt. Weder Araber, Mongolen oder Türken, obgleich sie weit nach Europa vorstießen, noch Chinesen, die zu Anfang des 15. Jahrhunderts in mehreren Expeditionen bis zu den Küsten Ostafrikas vorgedrungen waren, prägten die Weltgeschichte, sondern das christliche Europa. Die Dynamik Europas war es, die alle Kontinente miteinander in Verbindung brachte. […] Eine Folge der europäischen Expansion war das Ausgreifen europäischer Handelsinteressen auf die übrige Welt. Auch die Migration europäischer Siedler, die zur Entstehung »europagener Gesellschaften« in Nordamerika, Teilen Iberoamerikas, Südafrikas, Australiens, Neuseelands und Sibiriens geführt hat, gehört zu den Auswirkungen der europäischen Expansion. »Europäisierung der Welt« meint ferner die Ausbreitung europäischer Sprachen, Institutionen, Technologien und Produktionsweisen über Europa hinaus. […] Schließlich beinhaltet die Ausweitung Europas auch einen Prozess der geistig-kulturellen Expansion und »spirituellen Eroberung«; stand das europäische Abendland doch noch immer unter dem Weltbild des orbis christianus und einer – seit der Reformation – auch verinnerlichten Sendungsidee. Freilich wäre es verfehlt, die Globalisierung der Erde einseitig unter europäischen Vorzeichen zu sehen. Andere Kontinente und fremde Kulturen haben ihrerseits auf Europa zurückgewirkt […]. Zudem waren auch nahezu alle von europäischem Kolonialismus, Imperialismus und abendländischer Zivilisation betroffenen Völker durchaus als Handelnde an den historischen Prozessen beteiligt, die sie in nicht geringem Umfang nach ihren Vorstellungen und Möglichkeiten zu gestalten wussten. Erst aus dieser wechselseitigen Beeinflussung und Befruchtung ist die moderne Welt hervorgegangen.“ [Die Zeit. Welt- und Kulturgeschichte, Epochen Fakten und Hintergründe in 20 Bänden. Mit dem Besten aus der Zeit. Band 8 Frühe Neuzeit und Amerika, Hamburg 2006, S. 72 ff.] A1 Erläutere, was der Autor meint, wenn er von der „Globalisierung Europas“ spricht und belege dies mit den entsprechenden Textstellen. A2 Was versteht man heute unter dem Begriff „Globalisierung“? Diskutiere, was die heutige Globalisierung und die damalige gemein haben und was sie unterscheidet? 133 Q2 Ladeliste eines dänischen Handelsschiffes „a. In Europa an Bord genommene Güter: Rechnung für die Ladung des Schiffes „Fredericus Quartus“ unter dem Befehl des Kapitäns Inne Pietersz. Er muss einen Teil an der guineischen Küste verhandeln und den Rest bei seiner – wolle Gott glücklichen – Ankunft dem Oberhaupt der Kompanie gegen Quittung übertragen, wie in seiner Vorschrift weiter beschrieben, und zwar: Kauri-Muscheln oder Bossies Slaaplagen [gebrauchte Bettücher] 6559½ Pfund 8060 Stück Bochleinen 84 Schock Foufou [ostindische Textilien] 204 Stück Damaszierte Flinten [echt damastierte] 300 Stück Gebieste Flinten [unecht damastierte] 300 Stück Gebieste Karabiner [unecht damastierte] 300 Stück Tapselis [bengalischer Baumwollstoff] 300 Stück Tapekankenias [ostindischer Baumwollstoff] 600 Stück Schottischer Sayen [feiner Wollstoff] 400 Stück Messingbecken 6180 Pfund Messingarmringe 3556 Pfund Kleine Fässer 102 Pfund Perpetuanen [europäischer Wollstoff (…)] 550 Stück Azursayen [europäischer feiner Wollstoff] 250 Stück Braulis [ostindischer Baumwollstoff] 478 Stück […] b. In Guinea an Bord genommene Güter: Sklaven: 263 Männer, 279 Frauen, 5 Kleinstkinder Gold: 108 Mark 5 Unzen 13 Engeln 1 Damba Elfenbein: 7195 Pfund Verschiedenes [besonders ungangbare Armringe aus Messing] c. In St. Thomas an Bord genommene Güter: Indigo [blauer Farbstoff] Rohzucker 134 8277 Pfund 134567 Pfund Baumwolle Campeche-Holz [blauer Farbstoff] Ochsenhäute Tabak Carett [Schildkrötenschale] 25148 Pfund 135300 Pfund 473 Stück 8541 Pfund 92 Pfund [Außerdem unbedeutende Mengen von anderen westindischen Waren, sowie das von Afrika mitgebrachte Gold und Elfenbein]“ [Schmitt, Eberhard (Hrsg.): Dokumente zur Geschichte der europäischen Expansion, Bd. 4, München 1988, S. 103 ff.] A1 Charakterisiere den Handel, den die „Fredericus Quartus“ im 17. Jahrhundert betrieb. A2 Versuche zu rekonstruieren, wie die Sklaven auf dem Schiff untergebracht waren. (ungefähre Maße eines Handelsschiffes vom Typ „Fleute“: 50 m Länge, 20 m Breite). Erstelle eine Skizze der „Lagerung“. Q3 Bericht eines italienischen Kaufmanns über die Produkte der Neuen Welt „Am Siebten dieses Monats [März] trafen hier, heil und unversehrt, zwölf Karavellen ein, die von den neuen, von Kolumbus […], dem Admiral des Ozeans im Dienste des Königs von Kastilien, entdeckten Inseln kamen. Für die Fahrt von diesen besagten Inseln von Antilia benötigten sie 25 Tage, sie hielten geraden Kurs, Richtung Nordnordost, und liefen um die 23. Stunde in Calis [Cádiz] ein, ohne Land gesehen zu haben. Mehr als 43 der genannten Inseln sind gezählt, 26 bis 31 Grad unter dem Äquinoktium [Äquator]. Dies zu Eurer Kenntnis. Sie brachten Gold, nach ihren Angaben im Wert von 30.000 Dukaten, mit; Zimt in Menge, hell wie schlechter Ingwer […], Pfefferschoten, die wie Brechbohnen aussehen, der Pfeffer sehr scharf, aber [im Geruch] nicht so kräftig wie der levantinische; Hölzer, sie sagen, es seien Sandelhölzer, aber weiß; Papageien wie Jagdfalken und rot wie Fasane. Sie fanden Bäume, die feine Wolle, andere, die Wachs, und wieder andere, die Baumwolle geben. Und viele dunkelhäutige Menschen mit breiten Tatarengesichtern und bis auf die Schulter reichenden Haaren, hochgewachsen, intelligent und stolz; und sie essen Menschenfleisch, von Knaben wie von kastrierten Männern, die sie wie Kapaune mästen, um sie dann zu verspeisen. Man nennt solche Menschen Kannibalen. Auf den Inseln gibt es keine größeren Tiere, kein Getreide und keinen Wein, die Menschen leben von Wurzeln, Früchten und Menschenfleisch. Und sie haben des Weiteren Inseln gefunden, ähnlich den Amazonen-Inseln, 135 wo Frauen über Männer herrschen. Nach der nächsten Fahrt wird man alles wissen. Giovanbatista Strozi, in Calis [Cádiz]“ [Schmitt, Eberhard (Hrsg.): Dokumente zur Geschichte der europäischen Expansion, Bd. 2, München 1988, S. 161] A1 Beschreibe, was für ein Bild von der neuen Welt durch die Schilderung transportiert wird. A2 Stelle die Intentionen, die mit diesem Bericht verbunden sind, dar. An wen könnte er gerichtet sein? Q4 Entdeckung und Ausbeutung der Silbervorkommen 1553 „Die Erzadern von Porco und viele andere [Vorkommen] in diesen Reichen sind großenteils unter den Inka entdeckt worden und viele der Minen sind seit dieser Zeit in Betrieb. Doch von jenen, die im Cerro de Potosí gefunden wurden, von dem ich nun berichten will, kannte man weder die Ergiebigkeit noch förderte man das Erz, bis im Jahre 1547 ein Spanier namens Villaroel, der zusammen mit einigen Indios auf der Suche nach Erzen war, diesen Reichtum fand, der in einem hohen Berg liegt, dem schönsten und bestgelegenen der Umgebung. Und da die Indios Berge und große Dinge Potosí nennen, wurde dieser Berg so genannt. Und obwohl in jener Zeit Gonzalo Pizarro im Krieg mit dem Vizekönig lag, und das Königreich voller Unruhen auf Grund dieses Aufstandes war, bevölkerten sich die Hänge des Berges und es wurden viele und große Häuser gebaut. Die Spanier gründeten hier ihre wichtigste Siedlung, und das Gericht wurde dorthin verlegt. Die Besiedlung war so stark, daß die eigentliche Hauptstadt fast entvölkert wurde. Dann öffneten sie die Minen und stießen im höher gelegenen Teil des Berges auf fünf sehr reiche Erzadern, die sie Veta-Rica, Veta del Estaño, die vierte Veta de Mendieta und die fünfte Veta de Oñate nannten. Der Reichtum der Funde sprach sich so schnell herum, daß Indios aus allen Gegenden hierher kamen, um Silber aus dem Berg zu holen, wo es sehr kalt ist, denn es befindet sich keine Ansiedlung in der Nähe. Nachdem die Spanier [von dem Berg] Besitz ergriffen hatten, begannen sie, Silber in der Art zu gewinnen, daß demjenigen, der eine Mine hatte, die in ihr arbeitenden Indios eine Mark Silber pro Woche gaben, und sogar zwei, wenn sie sehr reich war, und wenn einer keine Mine hatte, gaben die Indios diesem encomendero eine halbe Mark115 pro Woche. 115 Marco (Mark) = Gewichtseinheit (ca. 230 g). 136 Es fingen so viele Leute an, Silber abzubauen, daß der Platz wie eine große Stadt aussah. Und weil ein solcher Reichtum notwendigerweise anwachsen oder abnehmen muß, will ich einige Angaben machen, wie ich es im Jahre des Herrn 1549 gesehen habe, um einen Eindruck von der Größe der Minen zu geben. Als der Lizentiat Polo hier und in der Stadt La Plata corregidor war, schmolz man das Erz jeden Samstag in seinem Haus, wo sich die Truhen mit den drei Schlössern befanden, und als königlichen Fünften erhielt Seine Majestät von dem Silber 25–30000 Pesos, und manchmal sogar etwas mehr oder etwas weniger als 40000 [Pesos]. Und trotz dieses Reichtums, der den Fünften des dem König zustehenden Silbers auf 120000 castellanos116 im Monat brachte, hieß es, daß nur wenig Silber [aus Potosí] herauskomme und daß es nicht gut um die Minen stünde. Und das, obwohl nur das Erz der Christen zur Schmelze kam, und das nicht einmal vollständig, denn vieles holten sie als kleine Rohlinge ab, um sie frei transportieren zu können, und von den Indios glaubt man wirklich, dass sie große Reichtümer mit in ihre Heimat nahmen. Daher wird man mit Recht behaupten können, daß nirgendwo sonst auf der Welt ein so reicher Berg gefunden wurde, noch hat je ein Fürst von einem einzigen Ort, wie es diese berühmte Stadt La Plata ist, so großen Nutzen und Gewinn gehabt. Denn seit dem Jahr 1548 bis 1551 machte der königliche Fünfte mehr als drei Millionen ducados aus, mehr als die Spanier von Ataliba bekamen oder in der Stadt Cuzco bei ihrer Entdeckung fanden. Es scheint, daß das Silbererz nicht durch Blasebälge noch durch Feuer zum Schmelzen gebracht werden kann. In Porco und anderswo im Königreich, wo Erz gewonnen wird, wird es mit Feuer von der Schlacke gereinigt, die sich mit der Erde bildet, wofür sie große Gebläse haben, und man macht dann große Silberplatten. In Potosí ist das, obwohl es viele versucht haben, niemals gelungen; die Hartnäckigkeit des Erzes oder ein anderes Geheimnis scheint das zu verursachen, denn – wie gesagt – große Meister im Schmelzen von Erz haben versucht, mit Gebläsen zum Ziel zu kommen, und all ihre Mühen haben zu nichts geführt. Schließlich, weil der Mensch für alle Dinge in diesem Leben eine Lösung zu finden in der Lage ist, mißlang es auch diesmal nicht, dank einer der seltsamsten Erfindungen der Welt. […]“ [Schmitt, Eberhard (Hrsg.): Dokumente zur Geschichte der europäischen Expansion, Bd. 4, München 1988, S. 428 f.] A 116 Beschreibe, wie die Silbervorkommen Südamerikas bewirtschaftet wurden. Versuche, eine Erklärung zu finden, warum Indios in den Minen arbeiteten und keine Sklaven. Geldeinheit. 137 2.2.2 Geographischer Ansatz Dieser Teil der Handreichung eignet sich besonders für den Unterricht in der Sekundarstufe I, da im Rahmenlehrplan des Landes Brandenburg für das Fach Geographie der Themenkomplex „Nord- und Südamerika – Kontinente der Gegensätze“ enthalten ist.117 Die heutigen ökonomischen und ökologischen Probleme sind zu einem nicht geringen Teil der Vergangenheit der ehemaligen Kolonien geschuldet. So bietet sich hier geradezu eine Verknüpfung zwischen den beiden Fächern an. Auch in höheren Klassenstufen der Sekundarstufe II kann der geographische Ansatz in differenzierter Form verwendet werden, da der Transfer von historischen Problemen auf die heutigen wirtschaftlichen Probleme benutzt werden kann. So begann z. B. die Abholzung des Regenwaldes bereits mit dem Beginn des 16. Jahrhunderts und dauert bis heute an. Folglich begann der Raubbau an der Natur des neu entdeckten Kontinents kurz nach dem Eintreffen der Europäer. Zudem lernen die Schüler, globale Zusammenhänge in den richtigen Kontext zu setzen und Sachverhalte besser zu bewerten und zu interpretieren. Die Verwendung von Karten und der Wandel in der Kartographie soll den Schülern die Dimension der Entdeckungsreisen und der neuen wirtschaftlichen Vernetzung der Welt verdeutlichen. Darüber hinaus zeigen sie gleichzeitig den großen wissenschaftlichen und geistigen Sprung, der sich in dieser Zeit vollzog und die Renaissance einleitete. Ein weiterer Vorteil besteht darin, dass die Schüler den Umgang mit Karten und Atlanten trainieren und die erworbenen Kompetenzen aus der Geographie in den Geschichtsunterricht transferieren können. Außerdem werden die Kenntnisse aus beiden Fachbereichen kombiniert und somit das vernetzte Denken geschult. 117 http://www.bildung-brandenburg.de/fileadmin/bbs/unterricht_und_pruefungen/rahmenlehrplaene/ sekundarstufe_I/Rahmenlehrplaene/RLP_2008_Korrektur_3-9-2008/ RLP_Geografie_ Sek1_2008_ Brandenburg.pdf (8.1.2011). 138 K1 Weltkarte von al-Idrisi (1154) K2 Christl. Weltkarte aus dem 13. Jh. [Hofacker, Hans-Georg/Schuler, Thomas: Geschichtsbuch 2. Die Menschen und ihre Geschichte in Darstellung und Dokumenten. Allgemeine Ausgabe: Das Mittelalter und die frühe Neuzeit, Berlin 1986] A1 Vergleiche die beiden Weltkarten. Wodurch ist das Weltbild der Araber und Christen bestimmt? A2 In welcher der beiden Kulturen ist die Kenntnis der Welt größer? Erläutere, welche geschichtlichen Gründe hierfür existieren können. A3 Welche Schlussfolgerungen lassen sich aufgrund der Karten über die christliche und die arabische Kultur ziehen? 139 K3 Karte des Florenzer Gelehrten Paolo Toscanelli (1397–1482) [http://strangemaps.files.wordpress.com/2008/06/toscanelli1.jpg (8.1.2011)] Q5 Der florentinische Arzt und Kosmograph Toscanelli unterstützt die Pläne des Kolumbus: [Inhalt aufgrund unklarer Rechteverhältnisse entfernt. Referenz: Erdödy, Janos: Kampf um die Meere, Berlin1969, S. 40 ff.] Q6 Toscanelli an Kolumbus [Inhalt aufgrund unklarer Rechteverhältnisse entfernt. Referenz: ebd., S. 43 f.] A 140 Beschreibe Toscanellis Weltbild. Woher stammen seine Kenntnisse über die Ostküste Asiens? Welche Wirkung hatten Toscanellis Annahmen in Bezug auf die erste Entdeckungsfahrt von Kolumbus? M2 Handel umspannt die Welt „Die Entdeckungsreisenden wollten den Handel mit fernöstlichen Gewürzen in die Hand bekommen, denn er versprach riesige Gewinne. Als erster hat der Portugiese Vasco da Gama 1497 den Seeweg in „das Land, wo der Pfeffer wächst“, erschlossen. In den folgenden Jahrzehnten gelang es seinen Landsleuten, ein weltumspannendes Handelssystem unter ihre Kontrolle zu bringen. Bis zum Beginn des 17. Jahrhunderts beherrschten die Portugiesen den Handel mit Pfeffer, Muskat, Zimt und Nelken. Danach wurden sie von den Holländern verdrängt. Im letzten Drittel des 17. Jahrhunderts begann die große Zeit des Handels mit Textilien, bei dem die Engländer und Niederländer führend waren. In Europa hatte sich die Kleidermode revolutioniert. Man wollte keine schweren Wolltuche mehr tragen, sondern bevorzugte die leichten, luftigen Baumwollstoffe. Diese wurden in Indien in einer Qualität hergestellt, die das Entzücken der Verbraucher in Europa erweckte. Im 18. Jahrhundert wurden dann die „Kolonialwaren“ – Tee, Schokolade, Tabak, Kaffee und Zucker – zur Quelle des überseeischen Reichtums in Europa. Die neuen Genußmittel veränderten den europäischen Geschmack grundlegend. Bis in die frühe Neuzeit war der Speisezettel in Europa durch Brot, Fleisch, Wein und Bier geprägt. In der Aristokratie und im aufstrebenden Bürgertum der protestantischen Länder kamen nun die neuen Genussmittel hinzu. Kaffee und Tee wurden die Genussmittel der Nüchternheit, sie regten geistig an, förderten die Konzentration und wirkten der unmäßigen Trunksucht entgegen. Kakao wurde in katholischen Ländern zu einer Festspeise und entwickelte sich zu einem Modegetränk des Adels. Wegen der steigenden Nachfrage wurden die neuen Produkte in Übersee angebaut und in Europa vermarktet. Tabak kam aus Kuba und Virginia in Nordamerika. Die Holländer bauten Kaffee vor allem in ihrer ostindischen Besitzung Java an, die Franzosen auf den westindischen Inseln. Kakao kam aus Spanisch-Amerika. Alle diese Produkte aber wurden in ihrer Bedeutung bei weitem vom Zucker übertroffen. Zu einer ersten Blüte gelangte der Zuckerrohranbau in der neuen Welt seit der Mitte des 16. Jahrhunderts in Brasilien. Von dort wurde er auf die französischen, englischen und holländischen Inseln in Westindien übertragen. Da auf den Inseln selbst nicht genügend Arbeitskräfte zur Verfügung standen, wurden Menschen aus Afrika in Millionenzahl als Sklaven nach Amerika gebracht, um dort die nötige Landarbeit zu verrichten. Von 1700 bis 1775 stieg die englische Zuckereinfuhr um mehr als das Vierfache auf zwei Millionen Tonnen. Die westindischen Inseln übertrafen in ihrer Bedeutung bei weitem die nordamerikanischen Kolonien. Sie waren die Juwelen im europäischen Kolonialbesitz des 18. Jahrhunderts. Um Mitte des 17. Jahrhunderts hatte sich ein weltweites Netz von Handelsbeziehungen herausgebildet, das bis um 1775 eine ungeahnte Verdichtung erfuhr. Der britische Außenhandel verdreifachte sich von 1702 bis 1772, der französische stieg von einer viel niedrigeren Basis um das Achtfache und erreichte beinahe den Umfang des englischen. Die Ausdehnung des Handels erfolgte vor allem im übersee141 ischen Bereich: Um 1700 handelten die Engländer zum größeren Teil noch mit anderen europäischen Mächten, 1775 wurde der britische Außenhandel jedoch zu zwei Drittel mit außereuropäischen Gebieten abgewickelt. Der internationale Handel wiederum machte europäische Hafenstädte zu Weltstädten. Unter ihnen nahm London eine unbestrittene Führungsrolle ein, in Frankreich gewann Bordeaux besondere Bedeutung; Amsterdam wurde zum Dreh- und Angelpunkt des niederländischen Handels mit Asien und Amerika. Auch Hamburg profitierte von dem weltweiten Trend. Wie Amsterdam sorgte es dafür, daß Kolonialprodukte in Europa weiter verbreitet wurden. Das 18. Jahrhundert war das Jahrhundert der Kaufleute. Ein großer Teil der neuen gewaltigen Privatvermögen wurde im Handel erworben. Die Hauptquelle des Reichtums blieb der Handel, bis die industrielle Revolution ihren Siegeszug auf den britischen Inseln antrat.“ [Hofacker, Hans-Georg/Schuler, Thomas: Geschichtsbuch 2. Die Menschen und ihre Geschichte in Darstellung und Dokumenten. Allgemeine Ausgabe: Das Mittelalter und die frühe Neuzeit, Berlin 1986, S. 223 f.] A1 Erstelle ein Schaubild, welches die Handelsströme zwischen Europa und der Neuen Welt aufzeigt. A2 Versuche, mit Hilfe deines Vorwissens zu erklären, warum die industrielle Revolution den Handel als Hauptquelle des Reichtums ablöste. A3 Wie sehen die heutigen Handelsströme in der Welt aus? Erläutere, inwieweit sie sich von den im Text beschriebenen unterscheiden. A4 Bestimme mit Hilfe der Karte K 4, welche heutigen Länder, Landschaften und Gebiete zum Machtbereich der spanisch-habsburgischen Monarchie im 16. Jahrhundert gehörten. A5 Liste die in den zuvor bestimmten Gebieten zu findenden Bodenschätze mit Hilfe des Diercke Weltatlas (oder eines vergleichbaren Schulatlasses) auf. Schildere, welche Bodenschätze man in der Neuen Welt zu gewinnen erhoffte. A6 Im Jahr 1519 wurde der spanische König Karl I. zum König des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation gewählt (1520 Kaiserkrönung). Er behauptete von sich, dass er ein Reich regieren würde, in dem die Sonne niemals unterginge. Erkläre, wie er zu dieser Aussage kommt. 142 K4 Europa im 16. Jahrhundert [Bruckmüller, Ernst/Hartmann, Peter Claus (Hrsg.): Putzger – Historischer Weltatlas, 103. Auflage, Berlin 2006, S. 100 f.] 143 2.2.3 Einsatz des Mediums Film Filme erzählen nicht nur Geschichten, sondern sie können den Schülerinnen und Schülern Geschichte plastisch durch ein Medium, welches sie aus ihrem Alltag kennen, vermitteln. Es ist möglich, mit Hilfe dieses Mediums Sichtweisen zu verdeutlichen, die durch Texte und Bilder nicht transportiert werden können, wie zum Beispiel Emotionen. Auch Gesten und Mimik können veranschaulicht werden. Ein besonderes Beispiel stellen hier etwa Wochenschauaufnahmen Hitlers dar. Zudem kann anhand dieses Mediums die Medienkompetenz und der kritische Umgang mit elektronischen Medien besonders gut vermittelt werden. Doch auch weitere Kompetenzen, wie die Sach-, die Orientierungs- und die Methodenkompetenz, können hier trainiert werden. Ein weiterer didaktischer Vorteil ist, dass die Schüler leichter motiviert werden können, sich selbständig mit dieser Art der Quelle zu befassen. Besonders Dokumentationen eignen sich bei projekt- und themenorientierten Unterrichtsgestaltungen, da meist einer oder mehrere Aspekte problematisiert und aus mehreren Sichtweisen beleuchtet werden. Aber auch ein Historienfilm kann sich zur Problematisierung anbieten, wenn andere Quellen oder Filmmaterial zur Verfügung stehen, die gegensätzliche Ansichten vertreten. Die Einsatzmöglichkeiten von Filmen im Unterricht sind vielfältig und lassen sich nicht genau eingrenzen. Es hängt immer von der Gestaltung der einzelnen Schulstunde und den erwünschten Effekten ab, die man sich vom Einsatz des Mediums erhofft. Eine Patentlösung für den Einsatz gibt es demnach nicht. Der Lehrer muss lediglich darauf achten, dass der Film altersgemäß ist. Die Aufgaben muss er entsprechend modifizieren und erläutern. Für den Einsatz sprechen einige Vorteile, aber auch einige Nachteile sind zu nennen. Hier muss von der entsprechenden Situation und dem vorhandenen Material her abgewägt werden, ob ein Einsatz sinnvoll ist und sich nicht kontraproduktiv auswirkt. F1 1492 – Die Eroberung des Paradieses 1492 – Die Eroberung des Paradieses118 ist ein Historienfilm aus dem Jahr 1992, der vom Starregisseur Ridley Scott in Szene gesetzt wurde. Das Drehbuch, welches auf genauen historischen Gegebenheiten basiert, stammt von der französischen Drehbuchautorin Roselyne Bosch – es war ihr international bekanntestes. Wie der Titel erahnen lässt, werden die Entdeckungsfahrten des Kolumbus filmisch dargestellt. Der Film beginnt mit seiner Ankunft in Madrid, und zeigt in Form von Hexenverbrennungen, dogmatischen Professoren und dem Elend in den Straßen die Umstände der Zeit. Kolumbus wurde sehr authentisch von Gérard Depardieu verkörpert. 118 Originaltitel: 1492 – Conquest of Paradise. 144 Nach langem Ringen um die Gunst der Königin, gespielt von Sigourney Weaver, werden ihm drei Schiffe für seine Fahrt zur Verfügung gestellt. Am Ende einer langen Reise voller Probleme entdeckt Kolumbus am 12. Oktober 1492 als erster Europäer die Insel Guanahani. Was zunächst für das Paradies gehalten wird, entpuppt sich bald als Hölle. Der Film „erzählt von den Träumen und Visionen eines unerschrockenen Mannes, von seinem legendären Aufstieg und Fall“.119 Den Schülern kann mit Hilfe dieses Mediums ein guter Eindruck über die damaligen Umstände einer solchen Unternehmung und die erste Phase der Kolonisation vermittelt werden. Dabei ist jedoch zu beachten, dass es Abweichungen von den historischen Gegebenheiten gibt und andere wichtige Details (vielleicht bewusst) verschwiegen werden. Einige Kritiker werfen dem Film und insbesondere der Figur des Kolumbus eine zu positive Darstellung vor. Dieser Fakt könnte jedoch auch für den Unterricht genutzt werden, sodass die Schüler selber eine Wertung anhand anderer schriftlicher Quellen vornehmen können. Eine offene Diskussion, in der bestimmte Formen der Darstellung bzw. Wahrnehmung angesprochen werden, kann geführt werden. Hier lassen sich viele verschiedene Ansätze finden, die vom Lehrer initiiert oder mit dem Interesse der Schüler abgestimmt sein können. Zu beachten ist ebenfalls, dass der Film eine Altersfreigabe von 16 Jahren hat und somit nur in höheren Klassenstufen oder zensiert vorgeführt werden darf. Wichtig ist jedoch, dass zu keiner Zeit vergessen wird, dass es sich um einen Film aus heutiger Sicht mit sehr vielen Interpretationen und um keine unumstößlichen Tatsachen handelt. Aufgrund dieses Faktes ist es nicht sinnvoll, den Film für den Einstieg zu nutzen. Zudem sollten die Schüler eine gewisse Vorkenntnis haben, um im Anschluss eine Diskussion führen zu können. Ein Einsatz würde sich zur Verdeutlichung einzelner Aspekt anbieten. A1 Kolumbus erklärt seinem Sohn, dass die Erde eine Kugel sei. Stelle seine Erklärung anhand von Skizzen dar. A2 Arbeite heraus, welche Gründe im Film genannt werden, die die Entdeck ungsfahrt rechtfertigen. A3 Beschreibe die Beziehung zwischen Kolumbus und Königin Isabella. A4 Charakterisiere das Verhältnis zwischen Kolumbus und dem spanischen Adel erkläre den im Film gezeigten Wandel. 119 Vom Cover der DVD entnommen. 145 A5 Analysiere das Verhältnis zwischen den Entdeckern und den Eingeborenen und wie es sich im Laufe der Handlung entwickelt. A6 Beschreibe, welche Gefahren auf die Europäer in der Neuen Welt warten und wie sie diesen zu begegnen versuchen. A7 Nimm Stellung zu der Darstellung der Figur des Christoph Kolumbus im Film. Scheint dies eine realistische Darstellung zu sein oder ist eine eher fiktive Person erschaffen worden? F2 Terra X: Imperium – Fluch des Goldes „Die ZDF-Doku-Reihe ,Terra X: Imperiumʻ widmet sich in der neuen Staffel den Kolonialreichen. Die erste Folge ,Fluch des Goldesʻ hat Portugal und Spanien zum Thema. Wie schon in den beiden Staffeln zuvor, führt Schauspieler Maximilian Schell als eine Mischung aus Moderator, Erzähler und Lehrer durch die Sendung. Papst Alexander VI. ist es zu verdanken, dass Spanien und Portugal sich Ende des 15. Jahrhunderts über die Aufteilung der Welt einigten. Der Vertrag von Tordesillas sollte eine bewaffnete Auseinandersetzung der beiden Seemächte, die zu der Zeit die beiden größten katholischen Nationen waren, verhindern. Portugal erhielt den Einfluss über die afrikanische Küste und damit den Seeweg nach Indien. Das sicherte dem kleinen Land den lukrativen Gewürzhandel und den Zugang zum sogenannten ,schwarzen Goldʻ, den aus Afrika verschleppten und versklavten Menschen. Spanien hingegen bekam die ,Neue Weltʻ, die Kolumbus kurz zuvor entdeckt hatte.“120 In der Dokumentation werden verschiedene wirtschaftliche Aspekte der frühen und späten Kolonialzeit angesprochen, sodass einzelne von ihnen gezielt für den Unterricht verwendet und getrennt voneinander behandelt werden können. Auch eine Verbindung zu den anderen Bausteinen – Schiff, Glauben und Militär – der Gruppe ist möglich und bietet die Chance einer Vernetzung. 120 http://de.tv.yahoo.com/18122008/20/terra-x-imperium-fluch-goldes-geschichtsstunde-maximilianschell.html (23.11.2009). 146 A1 Erläutere, warum gerade Spanien und Portugal mit dem Ende des 16. Jahrhunderts zu Weltmächten aufgestiegen waren. A2 Nimm Stellung zum Zitat „Der Mensch ist maßlos.“ und ziehe einen Vergleich zwischen heutigen und damaligen Werten. A3 Ordne die Bedeutung der Araber für die Entdeckung der Neuen Welt ein. A4 Charakterisiere die Hindernisse einer Entdeckungsreise und überlege, welche Maßnahmen ergriffen werden mussten, um diese Reise zum Erfolg zu führen. A5 Erkläre die Bedeutung des Goldes für Kolumbus und andere Entdecker. A6 Skizziere die Bedeutung von Sklaverei für die neuen Kolonien. A7 Diskutiere den Zusammenhang zwischen Gewinn und Grausamkeiten gegenüber den Ureinwohnern und wie sich dies in Einklang mit dem Glauben bringen lässt. 147 3 BAUSTEIN III – DIE CHRISTLICHE MISSION DER NEUEN WELT 3.1 Sachinformation 3.1.1 Die Entdeckung Amerikas Noch zu Beginn des 15. Jahrhunderts befand sich der spanische Teil der Iberischen Halbinsel mehrheitlich in islamischer Hand und es war nicht abzusehen, dass sich dieses Herrschaftsverhältnis alsbald ändern würde. Im Verlauf des Jahrhunderts jedoch hob sich von den fünf um die Vormachtstellung auf der Insel kämpfenden Reichen besonders das Königreich Kastilien hervor. Obwohl geschwächt durch jahrelange Machtkämpfe im Inneren, konzentrierten seine Könige ihre ganze Tatkraft auf die Rückeroberung, die sogenannte Reconquista, der verlorenen Territorien. Im Besitz des Königreiches befanden sich in der Folge große Teile des Nordens, das Zentrum und der ganze Südwesten der Insel.121 Mit der Einnahme Granadas, dem letzten Stützpunkt der Mauren, am 2. Januar 1492 fanden schließlich sowohl die Epoche der Reconquista auf spanischem Boden als auch der Kampf zwischen Muslimen und Christen ein Ende.122 Als Christoph Kolumbus zehn Monate später, gereist im Auftrag der katholischen Könige, auf der kleinen Bahama-Insel Guanahani123 in dem Irrglauben, Indien gefunden zu haben, landete, hatte er nicht nur eine für die Europäer völlig neue Welt, sondern mit dieser auch fremde Kulturen entdeckt. Waren die Jahrhunderte der Reconquista auf der Iberischen Halbinsel beendet, so war nun eine neue Epoche in der spanischen Geschichte eingeleitet: Die Epoche der Conquista Amerikas; die Eroberung einer fremden Welt.124 Während sich die spanischen Königreiche in den Jahrhunderten zuvor auf die Verdrängung der islamischen Vorherrschaft konzentriert hatten, verlagerte sich ihr Interesse nun auf die Einnahme der neuen Territorien in Übersee, samt ihrer vielen Schätze und kostbaren Rohstoffe. Seefahrer und Entdecker entschieden sich, in den fremden Ländern zu bleiben und kehrten nicht mehr zurück. Im Auftrag der Krone verließen Familien Europa, um in der Neuen Welt eine Existenz zu gründen und somit die Vormachtstellung zu sichern. In den ersten Zeilen seines „Kurzgefasste[n] Bericht[s] von der Verwüstung der Westindischen Länder“ schreibt der Mönch Bartholomé de Las Casas rückblickend: „Indien ward im Jahr Ein tausend vierhundert und zwei und neunzig entdeckt. Im folgenden Jahre bauten be- 121 Vgl. Bernecker, W. L.: Spanische Geschichte vom 15. Jahrhundert bis zur Gegenwart, S. 7. Vgl. Kahle, G.: Bartholomé de Las Casas, S. 9. 123 Gemeint ist die Insel San Salvador. 124 Kahle, G.: Bartholomé de Las Casas, S. 9. 122 148 reits spanische Christen darin an, so dass nunmehr seit neun und vierzig Jahren sich eine Menge Spanier daselbst befinden.“125 3.1.2 Begegnung mit dem Fremden – Lebensweise und Religion der Indios aus der Sicht der Eroberer Die von Christoph Kolumbus am 12. Oktober 1492 entdeckte und von ihm benannte Bahama-Insel San Salvador war von einem Stamm der Aruak-Indianer bewohnt.126 In seinem während der Entdeckungsreise geführten Bordbuch schildert er seine ersten Eindrücke über die Ureinwohner wie folgt: „Es ist eine Insel, eine bewohnte Insel. Am Strand erblickten wir Eingeborene, nackend, wie Gott sie erschaffen hat.“127 Zu seinem Erstaunen schienen die Indios nach anfänglicher Scheu zugänglich und friedlich gesinnt. Er sicherte sich Sympathie und Interesse der Einwohner, indem er sie mit – für den Europäer wertlosen – Gegenständen wie bunten Glasperlen128 und Halsketten beschenkte und somit den Rahmen für eine kommunikative Basis mit der fremden Kultur schuf. In den Augen der Ureinwohner war die Erscheinung der Spanier eine gottgleiche. Diesen Umstand erkannte auch Kolumbus und machte sich dies zu Nutze: „Die Eingeborenen, glaube ich, sehen mich für einen Gott und die Schiffe für Ungeheuer an, die während der Nacht aus der Tiefe des Meeres aufgetaucht sind. Ich überwand ihre Scheu und Angst, indem ich Halsketten und rote Kappen an sie verteilen ließ. Bald wagten sie es, heranzukommen und uns vorsichtig zu berühren.“129 Auch seine Schilderung, die Unterschiede der äußerlichen Erscheinung beider Kulturen betreffend, gibt einen zwar einseitigen und somit subjektiven, aber plastischen Eindruck über die gegenseitige Verwunderung beider kulturellen Gruppen: „Vor allem unsere Bärte versetzten sie in maßloses Erstaunen. Ihr Anblick ist für uns ebenso überraschend, denn sie unterscheiden sich von allen Menschenrassen, die wir bisher gesehen haben. Auch in Lissabon, ja nicht einmal in Afrika stieß ich auf Geschöpfe von solchem Aussehen. Sie gehen umher, wie Gott sie geschaffen hat, Männer sowohl als Frauen, und bemalen ihre schöngeformten Körper mit grellen Farben [...].“130 Auf den ersten Anschein ließ sich für den frommen Seefahrer nicht erkennen, welche religiösen Praktiken und Bräuche die Inselbewohner ausübten. Für ihn schien es eine Selbstverständlichkeit, den christlichen Heilsanspruch auch in dieser Gegend der 125 Enzensberger, H. M. (Hrsg.): Bartholomé de Las Casas. Kurzgefasster Bericht von der Verwüstung der Westindischen Länder, Frankfurt/M. 1990, S. 5. 126 Vgl. Bitterli, U.: Alte Welt – Neue Welt, S. 78. 127 Grün, R. (Hrsg.): Christoph Columbus. Bordbuch 1492, S. 94. 128 Ders.: S. 98. 129 Ders.: S. 96 f. 130 Ders.: S. 97. 149 Erde verbreiten zu müssen: „Ich werde aus den Indianern gute Christen machen. Fast alle beten nun schon das Vaterunser und das Ave Maria. Auf meiner nächsten Fahrt nach Indien werde ich Patres mitnehmen, außerdem werde ich die Königin bitten, mir die Mittel zum Bau von Kirchen zur Verfügung zu stellen.“131 Die ersten Kulturkontakte zwischen Europäern und Indios verliefen friedlich. Trotz des Umstandes, dass Kolumbus sich in keinem Unrecht sah, als er die ersten Indios auf sein Schiff bringen ließ, um sie in der spanischen Sprache zu unterweisen und sie „[...] dem König und der Königin zu zeigen [...]“132, gab es während seiner ersten Entdeckungsreise keine kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen Ureinwohnern und Entdeckern. Aus den Bordbucheintragungen des Kolumbus geht hervor, dass es sich für ihn als glücklich erwies, dass die Eingeborenen so friedlich kooperierten und ihm bereitwillig Auskunft über die vorhandenen Goldreserven der Insel gaben. Im Interesse der Erkundung der Westindischen Inseln und um die Suche nach den wertvollen Schätzen nicht zu gefährden, achtete er darauf, die Ureinwohner nicht zu verstimmen. Als der Seefahrer die Insel Hispaniola133 betrat, welche ebenfalls von einem Stamm der Aruak-Indianer, den Tainos, besiedelt war, traf er auf eine Bevölkerung, die „auf der Stufe einer frühen Pflanzer- und Jägerkultur sesshaft lebte und höchstens in Ansätzen die Hochkulturen des mexikanischen Festlandes vorausahnen ließ.“134 Auch die Tainos nahmen die Schiffe der Eroberer als göttliche Erscheinung wahr.135 Der Jesuit José de Acosta, der in den Jahren von 1571 bis 1587 als Missionar in Peru tätig war, erläutert in seinem Werk „Naturbeschreibung und Sittengeschichte der Indios“ von 1591 die Schöpfungsgeschichte der Ureinwohner Perus. Trotz der territorialen Begrenzung lassen sich in Bezug auf die Grundelemente der religiösen Tradition der Indios dieser Gegend Südamerikas weitgehende Parallelen zu den anderen Indiostämmen in Mexiko, Argentinien oder der Karibik finden. Als problematisch ist jedoch erneut einzustufen, dass dieses historische Zeugnis über den Glauben der Ureinwohner von einem europäischen Missionar überliefert wurde und somit subjektiven Eindrücken unterliegt: „Zu wissen, was die Indios selbst über ihre Anfänge und ihren Ursprung erzählen, ist keine Sache von besonderer Bedeutung, denn ihre Erzählungen erinnern mehr an Träume als an wahre Geschichten.“136 Acosta berichtet zudem, dass auch bei den Ureinwohnern der Mythos einer Sintflut existiere, es sich jedoch nicht feststellen ließe, ob diese mit derer gleichzusetzen sei, 131 Grün, R. (Hrsg.): Christoph Columbus. Bordbuch 1492, S. 125. Ders.: S. 97. 133 Heute das Staatengebilde Haitis und der Dominikanischen Republik. 134 Bitterli, U.: Alte Welt – Neue Welt, S. 78. 135 Ders.: S. 79. 136 Acosta, J. de.: „Naturbeschreibung und Sittengeschichte der Indios“, in: Strosetzki, C. (Hrsg.): Der Griff nach der Neuen Welt, S. 160. 132 150 die von der Heiligen Schrift übermittelt wird: „Wie dem auch sei, die Indios sagen, dass in dieser ihrer Sintflut alle Menschen ertranken, und sie erzählen, dass aus dem großen Titicacasee ein Viracocha137 [Wiracocha] aufstieg, welcher sich in Tiaguanaco niederließ, wo man heute Ruinen und Gebäudereste alter, sehr merkwürdiger Gebäude sieht, und dass sie von dort nach Cuzco gekommen seien, und so habe die Menschheit erneut begonnen, sich zu vermehren.“138 Weiterhin lässt sich ein negativer Unterton des Autors erkennen, der aus seiner christlichen Perspektive heraus den Glauben der Indios gering zu schätzen scheint: „Sie zeigen in eben diesem See eine kleine Insel, von der sie behaupten, dort habe sich die Sonne versteckt und sei so erhalten geblieben, und deswegen hätten sie ihr dort in früheren Zeiten viele Opfer gebracht, und zwar nicht nur Schafe, sondern auch Menschen.“139 Das Bildnis vom Indio als Kannibalen findet sich in vielen Aufzeichnungen und Reiseberichten aus der Zeit der Eroberung wieder. Es fungiert als eine Art Verdeutlichung der Andersartigkeit der Ureinwohner Amerikas und stellt somit eine Möglichkeit dar, die Gruppe der Indios als kulturell unterlegen einzustufen, als „niedere“ Wesen, die sich mit dem christlichen Glauben nicht identifizieren können: „Andere erzählen, aus einer gewissen Höhle seien durch ein Fenster sechs oder ich weiß nicht wie viele Menschen herausgestiegen, und diese hätten die Fortpflanzung der Menschheit begonnen, und daher der Name Pacari Tampo. Und so sind sie also der Ansicht, die Tambos seien das älteste Menschengeschlecht.“140 Durch den Glauben an ihre eigene Überlieferungsgeschichte grenzen sich die Indios von den Christen ab und demonstrieren ihre Abneigung gegenüber der für den Missionar einzig wahrhaftigen Religion. Der Vorwurf der – in dem Sinne – indirekten Blasphemie zieht sich unterschwellig durch die Schrift Acostas: „Ich, der ich mich bemühe, zu erfahren, aus welchen Ländern und Völkern die Indios in das Land kamen, in dem sie leben, sehe sie sehr weit davon entfernt, davon berichten zu können, was sie früher für selbstverständlich hielten; nämlich, dass sie seit ihrem ersten Ursprung in derselben neuen Welt gezeugt wurden, in der sie jetzt leben; diese Menschen belehren wir mit unserem Glauben eines Besseren, der uns lehrt, dass alle Menschen aus einem ersten Menschen entstanden sind.“141 Die Ureinwohner der Neuen Welt lebten in einem weitgehend archaisch strukturierten gesellschaftlichen System. Der Stamm der Tainos auf Hispaniola war auf fünf Provinzen verteilt, welche jeweils von einem Kaziken, einem Häuptling, angeführt 137 In der Mythologie der Inka der Schöpfergott der Zivilisation. Acosta, J. de.: „Naturbeschreibung und Sittengeschichte der Indios“, in: Strosetzki, C. (Hrsg.): Der Griff nach der Neuen Welt, S. 160. 139 Ders.: S. 160 f. 140 Acosta, J. de.: „Naturbeschreibung und Sittengeschichte der Indios“, in: Strosetzki, C. (Hrsg.): Der Griff nach der Neuen Welt, S. 161. 141 Ders., S. 161. 138 151 wurden.142 Die ersten kulturellen Kontakte zwischen Eroberern und Eroberten verliefen friedlich und waren geprägt von einer Mischung aus Neugier, Scheu und Annäherung: „[...] Die Kulturvölker des mittel- und südamerikanischen Festlandes, die Azteken, Mayas und Inkas [sahen] die vordringenden Konquistadoren als Götter [an].“ Sie begegneten ihnen mit „[...] der Ehrfurcht, Hilfsbereitschaft und [dem] freundlichen Entgegenkommen“, mit denen man Göttern begegnet.143 Diese Form des friedlichen Kulturkontakts erlosch jedoch bald. Bevor Christoph Kolumbus die Insel Hispaniola verließ, um seiner Königin Isabella von den Begebenheiten, den Schätzen sowie Menschen der Neuen Welt zu berichten und eine zweite Expedition vorzubereiten, errichtete er mit Hilfe des TainoKaziken Guacanagari eine feste Siedlung, die er „Villa de la Navidad“ taufte. Bei seiner Rückkehr musste er entsetzt feststellen, dass der ganze Ort zerstört und die spanischen Besatzer umgebracht worden waren: „Die Tainos verhielten sich misstrauisch und verängstigt, und den wenigen Auskünften, zu denen man sie bewegen konnte, musste entnommen werden, dass die spanischen Kolonisten durch brutale Rücksichtslosigkeit im Umgang mit den Indianern, insbesondere mit den eingeborenen Frauen, ihren Untergang selbst herausgefordert hatten. Die Idylle der ersten Kulturbegegnung war brüsk in die Katastrophe des militanten Kulturzusammenstoßes umgeschlagen – ein Vorgang, wie er sehr ähnlich im Verlauf der Kolonialgeschichte in den verschiedensten Regionen der Erde zu beobachten ist.“144 Die Tainos mussten zunehmend erkennen, dass das Verhalten der Besatzer keines von Göttern war. Sie sahen die Eroberer als böse Dämonen, die in der Konsequenz genauso sterblich waren und nichts Gutes im Sinn hatten. Das Ereignis von la Navidad hatte einen Richtungswechsel in der Eroberungspolitik zur Folge. Von nun an arbeiteten die europäischen Besatzer nicht mehr friedlich mit den Eingeborenen zusammen, sondern unterwarfen diese und brachten widerspenstige Stämme mit Gewalt unter Kontrolle. Die Eingeborenen wurden im Zuge der von der spanischen Krone beschlossenen Siedlungspolitik versklavt und den spanischen Siedlern zugeteilt.145 142 Bitterli, U.: Alte Welt – Neue Welt, S. 78. Bitterli, U.: Alte Welt – Neue Welt, 80. 144 Ebd., S. 85. 145 Gemeint ist das System der Repartimientos. 143 152 3.1.3 Gründe für eine christliche Mission – Kontroversen und Legitimation Die Diffamierung der Indios als „Wilde“ oder „Barbaren“, so wie sie sich bei Acosta finden lässt, besteht bei den Schilderungen des Kolumbus lediglich in abgeschwächter Form. Das Bordbuch des Entdeckers liest sich eher als eine fantasievolle Beschreibung eines paradiesähnlichen Ortes, den einfache, aber friedliebende Menschen bewohnen. Durch seine Ausführungen schuf er den Mythos des „Edlen Wilden“ und „belebte die mittelalterliche Debatte über die genaue Lage des irdischen Paradieses aufs Neue“.146 Das Motiv des Paradieses als „Ort eines harmonischen Gesellschaftszustandes“147, der mit dem Sündenfall verloren gegangen war, rückte im Zuge der Darstellungen des Kolumbus über Mensch und Natur in der Neuen Welt ins Zentrum der Aufmerksamkeit der europäischen Öffentlichkeit. Auf der Grundlage der Berichte über die Ureinwohner Amerikas entstand eine analoge Betrachtungsweise über die Vertreibung Adams und Evas aus dem Paradies im Zuge des Sündenfalls, sowie den nackten Indios aus dem irdischen Paradies.148 Beide befanden sich in einem unsicheren Zustand und waren somit des göttlichen Heils bedürftig. Im Falle der Indios konnte diese Rettung nur durch die christlichen Eroberer erfolgen. In der Konsequenz fand sich durch eine solche Betrachtungsweise ein wichtiger Baustein für die Legitimierung einer christlichen Mission. Der universale Heilsanspruch der katholischen Kirche wurde nicht nur durch die Institution selbst, sondern vor allem durch Missionare und Eroberer, die sich in hohem Maße dafür verantwortlich fühlten, weitergetragen. Der König, der in „Referenz auf die mittelalterliche Königstheologie in seiner weltlichen Herrschaft [...] Christus gleichgesetzt [...]“ war, wurde „legitimer Herrscher über den Garten Amerikas“.149 Auf seiner ersten Entdeckungsreise hatte Christoph Kolumbus noch keine Missionare an Bord seiner Schiffe. Die Begegnungen mit den Indios, die seiner Einschätzung nach, keine Religion besaßen, ließen in ihm den Glauben reifen, dass er sich deren Missionierung annehmen und auf der nächsten Reise christliche Gelehrte mitbringen müsse. Er verstand sich als „Repräsentant des orbis christianus im Sinne der Kreuzzugsidee“.150 So schrieb er an Luis de Santangel, den Verwalter der königlichen Privatschatulle: „Ich sah und erfuhr, dass diese Leute keine Sektierer und keine Götzendiener sind, sondern sehr sanft und ohne zu wissen, was böse ist. [...] So werden Eure Hoheiten sich entschließen müssen, sie zu Christen zu machen, und ich glaube, wenn damit begonnen wird, kann in kurzer Zeit erreicht werden, dass eine große 146 Monegal, E. R. (Hrsg.): Chroniken Lateinamerikas von Kolumbus bis zu den Unabhängigkeitskriegen, S. 12. 147 Frübis, H.: Die Wirklichkeit des Fremden, S. 19. 148 Vgl. dies., S. 21. 149 Dies., S. 22. 150 Bitterli, U.: Alte Welt – Neue Welt, S. 84. 153 Zahl von Völkern zu unserem heiligen Glauben übertritt.“151 In den Instruktionen der spanischen Krone für Kolumbus’ zweite Reise erlangte der Missionierungsgedanke einen neuen Stellenwert. Isabella von Kastilien und Ferdinand II. hatten sich im Zuge der Zusicherung des spanischen Anspruchs auf die zu erobernden Gebiete von Papst Alexander XI. zur Missionierung der amerikanischen Ureinwohner verpflichtet.152 Dieser Umstand erwies sich aufgrund der Tatsache als glücklich, dass die Könige „Hofjuristen und -theologen mit der Prüfung [beauftragt hatten], wie man angesichts der wirtschaftlich vielversprechenden Entdeckung nach gültigen natur- und völkerrechtlichen Bestimmungen bei der Handhabung der neuen Gebiete und der Behandlung der Einheimischen verfahren oder bereits eingeleitete Inbesitznahmen nachträglich möglichst opportun begründen könne.“153 Die „scholastischen Kolonialethiker“ trugen „unter Berufung auf die Lehrmeinung von antiken Kirchenvätern, wie Aristoteles, Augustinus oder Thomas von Aquin [...] hinreichend Argumente für eine legitime Okkupation der Neuen Welt und ihrer Bewohner [...]“ zusammen.154 Die Andersartigkeit der religiösen Elemente und Traditionen der Ureinwohner ließ sich für den Europäer geistig nicht immer bewältigen. Der christlichen Mythologie entsprechend sahen die meisten in den Indios keine zivilisierten Menschen: „‚Barbarʻ, ‚Wilderʻ und ‚Heideʻ sind Antonyme für das, wofür man sich hält; die Begriffe behaften das Gegenüber der kulturellen Begegnung auf seiner Andersartigkeit und Unzugehörigkeit, ohne dass derjenige, der sie benutzt, sich die Mühe einer näheren Begründung machen müsste, ist er doch eines breiten Einverständnisses seinesgleichen im Voraus gewiss.“155 Die Rechtfertigung erfuhr die Anwendung dieser Begriffe zur Betitelung der Ureinwohner durch Erfahrungen, die die Kolonisten machten und das, was sie von anderen hörten. Bereits die Tainos baten Kolumbus, sie vor einem anderen Karibikvolk zu beschützen, da sich dies von Menschenfleisch ernähre.156 Die Formen des Kannibalismus, wie sie sich bei vielen indianischen Völkern Amerikas finden ließen, konnten nicht toleriert werden und unterstützten das Motiv des gottlosen Barbaren, der Götzen anbetete. Auch diese Form der Andersartigkeit trug dazu bei, dass Gewalttaten, die im Zuge der Eroberung an den Indios verübt wurden, eine Legitimation seitens der geistlichen Missionare erfuhren. Ureinwohner, die sich nicht zum wahren Glauben bekehren ließen, konnten demnach unterworfen und zum konfessionellen Bekenntnis gezwungen werden. Oft vertraten die Missionare, die den Auftrag hatten, 151 Ders., S. 84. Vgl. Bitterli, U.: Alte Welt – Neue Welt, S. 84. 153 Menninger, A.: Die Macht der Augenzeugen, S. 114. 154 Dies., S. 114. 155 Bitterli, U.: Die Wilden und die Zivilisierten, S. 367. 156 Vgl. Menninger, A.: Die Macht der Augenzeugen, S. 92. 152 154 die christliche Lehre in der Neuen Welt zu verbreiten, den Standpunkt, dass eine gewalttätige Unterwerfung der Unzivilisierten die logische Konsequenz aus deren Nichtachtung der christlichen Religion sei und schufen somit die Basis der Legitimation: „Verräterisch, grausam und rachsüchtig, wie sie [die Indianer] nun einmal sind, kennen sie keine Verzeihung. Als Gegner der Religion, als Faulenzer, Diebe, gemeine und verdorbene Menschen ohne Urteilskraft, beachten sie weder Verträge noch Gesetze. Die Männer erweisen ihren Frauen keine Treue, die Frauen nicht ihren Männern. Sie sind lügnerisch, abergläubisch und feige wie die Hasen. Zu ihren Speisen gehören Läuse, Spinnen und Würmer, die sie ungekocht essen, wo sie sie nur finden.“157 Der Missionar Bartholomé de Las Casas, der mit 28 Jahren als Lehrer der christlichen Doktrin zum ersten Mal in die Neue Welt kam, gilt als einer der Chronisten, der aufschlussreich über die Gräueltaten der europäischen Kolonialisten berichtete und mit wahrem Eifer als Gegner und Widersacher einer christlichen Legitimation der an den Indios verübten Gewalttaten auftrat. In seinem „[k]urzgefasste[n] Bericht von der Verwüstung der Westindischen Länder“ bestritt er vehement das Anrecht der Eroberer auf eine Unterwerfung der Ureinwohner und kritisierte deren Methoden scharf: „[...] Auch erhellet hieraus, dass es in jenen Gegenden keine Christen, sondern Teufel, keine Diener Gottes und ihres Königs, sondern nur Verräter gibt, die sich am Gesetze Gottes und ihres Königs versündigen. Denn wahrlich, das größte Hindernis, welches ich dort fand, warum die Indianer die Waffen nicht niederlegen, und sich an ein friedliches Leben gewöhnen, diejenigen aber, welche friedlich lebten, unsere Religion nicht annehmen wollten, war die harte und grausame Behandlung, welche sie mitten im Frieden von den Christen erdulden mussten. Darum wurden sie auch so aufgebracht, und nichts in der Welt war ihnen verhasster, als der Name Christen.“158 Am Beispiel de Las Casas’ lässt sich erkennen, dass die Intention der Christianisierung der Indios nicht immer eine materialistische war. Vielmehr sind seine hinterlassenen Schriften und Briefe ein Zeugnis dafür, dass die Begegnung mit dem Fremden in der Neuen Welt als eine Begegnung voller Missverständnisse gesehen werden kann. Es stießen Kulturen aufeinander, die unterschiedlicher nicht hätten leben können. Der Versuch der Europäer, die Lebensformen und den Glauben in ihr christliches Weltbild einzuordnen, scheiterte letzten Endes nicht nur am kolonialen Eroberungseifer, sondern an der Unfähigkeit, sich dem Fremden zu öffnen. 157 Aus einem Brief des Bischofs von Avila 1492 an Königin Isabella von Kastilien. Zitiert nach: Menninger, A.: Die Macht der Augenzeugen, S. 89. 158 Enzensberger, H. M. (Hrsg.): Bartholomé de Las Casas. Kurzgefasster Bericht von der Verwüstung der Westindischen Länder, S. 75. 155 3.2 Aufgaben, Materialien und didaktische Bemerkungen 3.2.1 Die Ankunft der Franziskaner in der Neuen Welt Bereits bei der zweiten Reise des Kolumbus sowie bei den Eroberungszügen des Cortés finden sich franziskanische Missionare Seite an Seite mit den Entdeckern und Eroberern. In der Spannung zwischen Kreuz und Schwert steht dann auch die ‚conquista espiritualʻ, die ‚geistliche Eroberungʻ durch die Franziskaner in Mexiko. In diesem ersten Schritt sollen die Schüler die Beweggründe für die Entsendung der Missionare nach Mexiko erarbeiten. Dabei soll unter anderem herausgestellt werden, dass die Ureinwohner Amerikas den Glauben der Christen nicht freiwillig angenommen haben können, obwohl dies in den Quellen so dargestellt wird. Die Schüler sollen erkennen, dass die Begegnungen nur aus der Perspektive der Kolonialisten heraus geschildert werden und es aus diesem Grund keinen eindeutigen Beweis dafür gibt, dass die Indios sich mit den missionarischen Absichten identifizieren konnten. Q1 König Ferdinand von Spanien: Brief an den Generalminister der Franziskaner mit der Bitte um Missionare (Burgos, 14. April 1508) „Der Gouverneur der Indien [...] schickte, mir zu berichten, dass der Orden des Heiligen Franziskus in den genannten Indien großen Bedarf an Ordensmännern hat [...] und er bat mich, dafür zu sorgen [...], dass einige Ordensmänner und gelehrte Personen hinübergehen, damit die Seelen der treuen Christen durch ihre Doktrin korrigiert und belehrt würden und damit sie die Indios für die wahre Kenntnis unseres katholischen Glaubens gewinnen [...] und dass jene Inseln mit Ordensmännern bevölkert würden, besonders vom Orden des Heiligen Franziskus. Deswegen bitte und beauftrage ich Euch, in die Wege zu leiten und vorzusehen, auf welche Weise einige Ordensmänner des genannten Ordens auf die genannte Insel entsandt werden. Mögen es gelehrte Personen sein, von denen man die Lehre annehmen kann, und zwar aufgrund ihrer Lebensweise, die sie dort zeigen sollten, wie aufgrund der Lehren, die sie unterrichten werden. [...] Mögen es so viele sein, wie ihr entbehren könnt. Denn ich glaube, ich werde sehr bald – dem Herrn zum Gefallen – [Leute] entsenden, das Festland einzunehmen. Es ist gut, wenn es eine Anzahl Ordensmänner gibt, die dort hingehen können, wo etwas entdeckt und eingenommen wird; oder um auf der Insel zu verbleiben, je nachdem, wie es ihnen von dem Provinzial, der dort residiert, befohlen wird. Diesem selbst sollt ihr die Erlaubnis hierfür geben, und ihr sollt befehlen, dass gemeinsam mit den anderen Dingen, die es im Orden geben soll und die bewahrt werden sollen, Anordnung gegeben werden soll, dass es ihnen immer Unterricht in der Wissenschaft geben soll. Damit werden seine Personen gelehrter und ausgewiesener sein, und die Seelen der Christen werden größeren Nutzen haben.“ [Aus: Horst von der Bey (Hrsg): „Auch wir sind Menschen so wie ihr!“ Franziskanische Dokumente des 16. Jahrhunderts zur Eroberung Mexikos, Übs. von Regina Kaufmann, Schöningh-Verlag, Paderborn, München, Wien und Zürich 1995, S. 11 f.] 156 Q2 Bernal Díaz del Castillo: Wie zwölf Franziskanerbrüder und der Generalvikar Martin de Valencia in Mexiko eintrafen, und wie sie empfangen wurden (1568) „[...] Cortés befahl, die ehrwürdigen Mönche überall, in indianischen und in spanischen Ortschaften, feierlich zu empfangen, ihnen mit fliegenden Fahnen, Kreuzen und brennenden Kerzen in den Händen entgegen zu ziehen, die Glocken zu läuten, für gute Quartiere zu sorgen und ihnen bei der Begrüßung kniend die Hände und die Kutten zu küssen. Die Spanier sollten damit den Indianern ein Beispiel der Demut und der Ehrfurcht geben. Cortés schickte ihnen außerdem Erfrischungen entgegen und schrieb ihnen liebenswürdige Briefe. Als sie in die Nähe von Mexiko kamen, zog er ihnen selbst mit Pater de Olmedo und allen Offizieren und Mannschaften entgegen. Auch König Cuauhtemoc, die Kaziken der wichtigsten Städte und zahlreiche vornehme Mexikaner begleiteten ihn. Sobald wir die frommen Männer sahen, stiegen Cortés und alle anderen Reiter vom Pferd und gingen ihnen zu Fuß entgegen. Der erste, der vor Pater Martín de Valencia niederkniete und ihm die Hand küssen wollte, war Cortés selbst. Der Mönch nahm die Geste der Ehrfurcht nicht an. Daraufhin küsste Cortés seine Kutte. Besonders herzlich war die Begrüßung zwischen Pater de Olmedo und den Brüdern. Nach Cortés und ihm traten sämtliche Offiziere und Soldaten, der König von Mexiko und alle seine Würdenträger an die Mönche heran, um ihnen kniend ihre Ehrfurcht zu zeigen. [...] Diese Begrüßungsszene machte einen tiefen Eindruck auf Cuauhtemoc und alle Großen seines Landes. Die Mönche hatten den ganzen Weg barfuß zurückgelegt und keineswegs zu Pferd. Die abgemagerten Gestalten machten in ihren schlechten Kutten einen armseligen Eindruck. Daß nun der Mann, den sie alle wie einen Gott fürchteten und ehrten, sich vor den Mönchen demütigte und nur mit der Mütze in der Hand mit ihnen sprach, war für die Indianer eine Lehre und ein Beispiel, das sie nie vergaßen. Sie verhielten sich gegenüber den Mönchen in Zukunft nicht anders als Cortés.“ [Horst von der Bey (Hrsg): „Auch wir sind Menschen so wie ihr!“ Franziskanische Dokumente des 16. Jahrhunderts zur Eroberung Mexikos, Übs. von Regina Kaufmann, Schöningh-Verlag, Paderborn, München, Wien und Zürich 1995, S. 14 f.] A1 Analysiere und interpretiere die unterschiedlichen Sichtweisen der einzelnen Akteure. A2 Nenne die Beweggründe und die Motivation für die Entsendung der Mönche nach Mexiko. A3 Analysiere und interpretiere das Verhalten der Indios, wie es in dem Bericht des Bernal Díaz del Castillo dargestellt wird. 157 3.2.2 Die Indios als Kannibalen Als Einstieg in das Thema soll eine Bildbeschreibung dienen. Der Kannibalismus galt seit jeher als Hauptcharakteristikum barbarischer Lebensform, da sich, aus der Sicht des Europäers, der Menschenfresser gegen göttliches Gesetz und Naturrecht zugleich verging. Der Kannibalismus der Ureinwohner gilt als eine der Ursachen dafür, dass die Eroberer glaubten, sie müssten die Indios zum wahren Glauben bekehren und ihnen somit die teuflischen Triebe austreiben. Theodor de Bry stellt auf seinem Kupferstich dar, wie der Verzehr von Menschenfleisch einen zentralen Punkt im Leben der Indios einnimmt. Zur weiteren Hervorhebung der Eindrücke, die die Eroberer von den Indios hatten, soll eine Lektüre der Darstellung des Bischofs von Santa Maria dienen. B1 Kupferstich aus Theodor de Bry, Americae pars tertia [...], Frankfurt 1592 [http://www.uh.edu/engines/debry.gif (17.11.2009)] 158 Q3 Der Bischof von Avila an Königin Isabella von Kastilien (1492) [Inhalt aufgrund unklarer Rechteverhältnisse entfernt. Referenz: Menninger, A.: Die Macht der Augenzeugen. Neue Welt und Kannibalen-Mythos 1492–1600, Stuttgart 1995] A1 Beschreibe den Inhalt des Bildes B 1. Erläutere die verwendeten Gestaltungselemente in Hinblick auf die Abgrenzung der Alten von der Neuen Welt. A2 Erläutere die Sichtweise des Dominikaners Tomás Ortiz, dem späteren Bischof von Santa Maria und beschreibe, wie er den typischen Indio charakterisiert! 3.2.3 Das Scheitern der Kommunikation zwischen den fremden Kulturen Der Autor Miguel León Portilla stellte in seinem Werk „Die Kehrseite der Eroberung“159 unter anderem Texte, die den Tod Atahualpas, des Inkakönigs, zum Inhalte hatten, zusammen. Unter diesen findet sich auch ein ursprünglich in Quechua, der einstigen Verwaltungssprache des Inkareiches, geschriebenes Theaterstück, welches in verschiedenen Fassungen und Varianten vorliegt und von Fachleuten mit der als „huanca“ bekannten Theaterform in Zusammenhang gebracht wird. Diese existierte bereits vor der Conquista durch die Spanier und Portugiesen. Der Eroberer Hernando Pizarro hatte den Inkakönig Atahualpa festsetzen und töten lassen, nachdem dieser die Bibel nicht hatte anerkennen wollen. In dem Stück wird das so genannte Trauma der Indios, der Besiegten und Eroberten, thematisiert. Es wird deutlich, wie schwer der Schmerz über Niederlage und empfundener Ohnmacht wiegt.160 Interessant ist, dass die Protagonisten beider Fraktionen zu Worte kommen und ihre Positionen vertreten; lediglich die Figur des Pizarro bleibt verstummt und kann ihren Emotionen nur durch das Gestikulieren mit Händen und Füßen Ausdruck verleihen. Er braucht einen Dolmetscher, den Felipillo, der für ihn als Sprachrohr fungiert.161 Einer der zentralen Gründe für das Scheitern einer friedlichen Eroberung und das Unvermögen zur Entwicklung gegenseitiger Akzeptanz rückt in den Vordergrund: die Unfähigkeit, die Sprache des Anderen zu verstehen oder diese verstehen zu wollen. Um zu gewährleisten, dass die Schüler den historischen Hintergrund des Gedichts verstehen und für sich verorten können, sollen zunächst zwei, das Ereignis der Fest159 Spanischer Titel: „El reverso de la conquista“, 1964. Abgedruckt in: Monegal, E. R.: Chroniken Lateinamerikas, S. 232. 160 Vgl. Monegal, E. R.: Chroniken Lateinamerikas, S. 35. 161 Ders., S. 36. 159 nahme Atahualpas aus der Sicht der Kolonialisten darstellende Quellen, gelesen und erarbeitet werden. Q4 Der Inkakönig Atahualpa empfängt Francisco Pizarro Als der Eroberer Francisco Pizarro mit seinen Gefolgsleuten Fray Vicente vom Dominikanerorden und Diego de Almagro in der Stadt Cajamarca eintrafen, wurden sie vom Inkakönig Atahualpa empfangen: [Inhalt aufgrund unklarer Rechteverhältnisse entfernt. Referenz: Monegal, Emir Rodríguez (Hrsg.): Chroniken Lateinamerikas von Kolumbus bis zu den Unabhängigkeitskriegen, Frankfurt/Main 1982, S. 219] Q5 Eskalation des Treffens zwischen Atahualpa und Pizarro [Inhalt aufgrund unklarer Rechteverhältnisse entfernt. Referenz: Monegal, Emir Rodríguez (Hrsg.): Chroniken Lateinamerikas von Kolumbus bis zu den Unabhängigkeitskriegen, Frankfurt/Main 1982, S. 220] A1 Erarbeite den in den Quellen dargelegten Sachverhalt. A2 Diskutiere mögliche Ursachen für die Eskalation der Situation. Um sich in die jeweiligen Positionen der Protagonisten hineinzuversetzen und ihr Handeln nachvollziehen zu können, sollen die Schüler den Auszug des Theaterstückes über den Tod Atahualpas still lesen und sich mit den einzelnen Standpunkten auseinandersetzen. Im folgenden Schritt sollen sich die Schüler in Fünfergruppen zusammenfinden und die einzelnen Rollen untereinander aufteilen. Auch die Figur des Pizarro sollte, trotz der Tatsache, dass sie keinen Sprechanteil besitzt, von einem Schüler besetzt werden. Nach der Aufteilung sollen die Schüler das Theaterstück innerhalb ihrer Gruppe laut vortragen und anschließend über den Inhalt unter Berücksichtigung der nachfolgenden Fragestellungen diskutieren. 160 Q6 Das Ende Atahualpas – Theaterstück [Inhalt aufgrund unklarer Rechteverhältnisse entfernt. Referenz: Das Ende Atahualpas, o. V., in: Portilla, Miguel Léon: El reverso de la conquista. México 1974, aus dem Spanischen übersetzt von Maralde Meyer-Minnemann, zit. nach: Monegal, E. R. (Hrsg.): Die Neue Welt. Chroniken Lateinamerikas von Kolumbus bis zu den Unabhängigkeitskriegen, Frankfurt/Main 1982, S. 232–241] A1 Nenne die Gründe für das Verstummen Pizarros? Was sagen diese gegebenenfalls über den Verfasser des Stückes aus? A2 Welche stereotypen Einordnungen bezüglich des Unterschieds beider Kulturen lassen sich erkennen? 3.2.4 Eine Debatte über die Legitimitätsgrundlage der Eroberung Nachdem im 16. Jahrhundert zunehmend Kritik an den Methoden der Eroberer in der Neuen Welt verübt wurde und das Thema auch in der europäischen Öffentlichkeit eine Diskussionsgrundlage fand, versuchten die Gelehrten im Namen der Krone eine Legitimitätsgrundlage für das Führen der Kriege in Übersee zu schaffen. Für das 16. Jahrhundert charakteristisch weisen die Argumentationslinien einen engen Zusammenhang zwischen weltlichem und göttlichem Rechtsverständnis auf. Als Antwort auf den „Dialog über die gerechten Kriegsgründe“ des Hofkaplans Sepulveda verfasste Bartholomé de Las Casas, nachdem er vorgeschlagen hatte, eine aus Theologen gebildete Untersuchungskommission einzurichten, seine Gegenthesen noch einmal in einem Katalog zusammen. M1 Die beiden Protagonisten der Debatte Juan Ginés de Sepulveda war Hofkaplan und einer der Erzieher des Prinzen Philipp, vor allem im Fach Latein. Er war mit den antiken Autoren vertraut und hatte die „Politik“ des Aristoteles übersetzt und kommentiert. 1550 trat er in Valladolid in einer öffentlichen Debatte als Gegner von Las Casas auf und rechtfertigte die Eroberung durch die Spanier. Bartholomé de Las Casas war zunächst in Haiti Militärkaplan und Soldat, bis er seine Überzeugungen radikal änderte, seine Besitztümer zurückgab und sein weiteres Leben als Dominikaner, Bischof und Schriftsteller der Verteidigung der Indios und der Entlarvung der Gräueltaten der Eroberer widmete. 161 Q7 Die acht Thesen de Las Casas' Nachdem de Las Casas vorgeschlagen hatte, eine aus Theologen gebildete Untersuchungskommission einzusetzen, fasste er seine Argumentation nochmals in acht Thesen zusammen.162 A1 Analysiere die Thesen hinsichtlich ihrer Aktualität für die heutige Zeit. A2 Erstelle einen Thesenkatalog, indem du aus der Perspektive des Sepulveda eine Gegenposition zu den Thesen de Las Casas’ einnimmst. A3 Stelle deine Argumente im Zuge einer Diskussion in der Klasse vor und begründe diese. 162 Vgl. de Las Casas, B.: „Gründe zur Rechtfertigung eines Krieges“, in: Historia de las Indias, Bd. I, S. 205, aus dem Spanischen übersetzt von Bernd Dahms, abgedruckt in: Strosetzki, C. (Hrsg.): Der Griff nach der Neuen Welt. Der Untergang der indianischen Kulturen im Spiegel zeitgenössischer Texte, Frankfurt/Main 1991, S. 283 f. 162 4 BAUSTEIN IV – DAS SCHIFF 4.1 Sachinformation Zwischen der Mitte des 15. Jahrhunderts und dem Ende des 17. Jahrhunderts begannen sich die Menschen in Europa die Welt als Ganzes und die Meere als zusammenhängend vorzustellen. Dies lernten sie mittels eigener Erfahrungen oder Augenzeugenberichten. In diesen zweieinhalb Jahrhunderten kamen europäische Entdecker in die meisten bewohnbaren Gegenden der Erde, zumindest in all jene, die auf dem Seeweg zu erreichen waren. Sie entdeckten riesige ihnen unbekannte Gebiete und zogen die ungefähren Umrisse der Welt nach, wie sie uns heute bekannt sind. Daher wird diese Epoche auch – vor allem aber ihre erste Hälfte – das Zeitalter der Entdeckungen genannt. Das Hauptinteresse der Herrscher, die Entdecker beauftragten, war in der Regel, Verbindungen zwischen europäischen Ländern und anderen Gebieten von bekannter oder vermuteter wirtschaftlicher Bedeutung zu schaffen. Zu Beginn der Expeditionen wurde der Optimismus der Seefahrer bezüglich der Entdeckungsfahrten nicht von der Regierung oder von Geldgebern geteilt, weil viele Flotten verloren gingen oder die Entdeckungen nicht so spektakulär waren, wie man anfangs hoffte. Dies änderte sich jedoch schnell, nachdem die Routen erforscht worden waren und sich Gewinnmöglichkeiten erwiesen hatten. Die Schiffe der ersten großen Entdeckungsfahrten waren, mit Ausnahme der Flotte Vasco da Gamas, die mit großer Sorgfalt und Aufwand zusammengestellt wurde, nicht für diesen Zweck gebaut. In der Regel konnten mit diesen Schiffen noch keine großen Strecken zurückgelegt werden, da sie nur über eine kleine Ladekapazität für Vorräte verfügten und die Schiffe noch nicht robust genug für derlei Fahrten waren.163 Dies änderte sich jedoch mit der raschen Entwicklung und Wandlung der Schiffe im 15. Jahrhundert. Neben den Entdeckungen ist es sicherlich interessant, einen Eindruck davon zu erhalten, womit sich die Entdecker vor, während und nach einer Entdeckung auseinandersetzen mussten. Wie sehr konnten sie sich auf Reiseberichte stützen? Wie sah beispielsweise der Tagesablauf des Schiffpersonals auf hoher See aus? Wie sah die Ernährung aus? Welche Krankheiten traten während der langen Reise auf und wie konnte man Herr über sie werden? 163 Vgl. Parry, John Horace: Zeitalter der Entdeckungen, Zürich 1963, S. 104 f. 163 4.2 Aufgaben und Material 4.2.1 Mythen und Sagen der Meere – Naturkräfte Je weiter die Europäer in die Weltmeere vorstießen, desto größere Überraschungen bargen die Seefahrt, die See und das an die See angrenzende Land für sie. Allerdings stieß nie ein Seefahrer auf die von Homer beschriebenen schreckenerregenden Mythen, wie beispielsweise das „geronnene Meer“ oder „Lebermeer“, das so zäh war, dass es kein Weiterkommen erlaubte; der ewige, dichte Nebel, bei dem man nicht einmal die eigene Hand vor Augen erkennen konnte; das über den Rand der als Scheibe gedachten Erde hinabstürzende Meer, dessen tödlichem Rand man nicht zu nahe kommen dufte, um nicht in die unendliche Tiefe gerissen zu werden; die Sirenen als weibliche Seedämonen, die Seefahrer durch ihren süßen und unwiderstehlichen Gesang ins tödliche Meer lockten. Jedoch schufen Seeleute selbst neue Mythen. Wie etwa Kolumbus, der über eine seiner Atlantiküberquerungen schrieb, dass beim Überfahren eines bestimmten Meerabschnittes westlich der Azoren jedes Mal ein Ruck durch das Schiff gehe. Dieses Phänomen wurde auch von andern Seefahrern berichtet, die ebenfalls diesen Ruck spürten, allerdings in anderen Meeresregionen. Durch die Entdeckungen neuer Seestriche und Ozeane sowie daran liegender Länder erlebte man bisher unbekannte Tiere (Riesenschlangen, Ameisenbären, Komodowarane, Chamäleons), Pflanzen (Mais, Tomaten, Kartoffeln) und darüber hinaus auch Menschen sowie Menschengruppen, ihre Kulturen, mithin unbekannte Sitten, Gebräuche und Essgewohnheiten, andere Techniken bei der Stein-, Holz- und Erzbearbeitung, auch Kulturen ohne Erz. Mit anderen Worten: einfach Unerhörtes und Unerwartetes, z. B. weibliche Krieger, Menschenopfer, Pyramiden als Tempelbauten und Kanalisationen in Städten. Nicht zu vergessen die vielen Naturereignisse, mit denen man auf hoher See konfrontiert wurde (Unwetter, Stürme, Wasserhosen, Orkane); aber auch zur damaligen Zeit unerklärliche Naturphänomene wie fliegende Fische, das Elmsfeuer oder die als Seeungeheuer gedeuteten unerklärlichen Beobachtungen und Wahrnehmungen. All diese Ereignisse sind in unzähligen Reiseberichten, Tagebucheinträgen oder aus Erzählungen nicht nur von den großen Entdeckern, sondern auch von Mitreisenden festgehalten. Und all das hielt niemanden davon ab, in die Novus Mundus, die Neue Welt, hinauszufahren. 164 Q1 Odysseus berichtet über die Sirenen „Da sprach zu mir [Odysseus] mit Worten die Herrin Kirke164: ‚So ist es denn dieses alles durchgeführt! Du aber höre, wie ich zu dir rede, und auch ein Gott selbst wird dich daran erinnern. Zuerst wirst du zu den Sirenen gelangen, die alle Menschen bezaubern, wer auch zu ihnen hingelangt. Wer sich in seinem Unverstande nähert und den Laut der Sirenen hört, dem treten nicht Frau und unmündige Kinder entgegen, wenn er nach Hause kehrt, und freuen sich seiner, sondern die Sirenen bezaubern ihn mit ihrem hellen Gesang, auf einer Wiese sitzend, und um sie her ist von Knochen ein großer Haufen, von Männern, die verfaulen, und es schrumpfen rings an ihnen die Häute. Du aber steuere vorbei und streiche über die Ohren der Gefährten Wachs, honigsüßes, nachdem du es geknetet, dass keiner von denen anderen höre; selbst aber magst du hören, wenn du willst. Doch sollen sie dich in dem schnellen Schiff mit Händen und Füßen aufrecht an den Mastschuh165 binden – und es seien Taue an ihm selber angebunden –, damit du mit Ergötzen die Stimme der beiden Sirenen hörst. Doch wenn du die Gefährten anflehst und verlangst, daß sie dich lösen, so sollen sie dich alsdann mit noch mehr Banden binden! Doch sind die Gefährten nun an diesen vorbeigerudert, dann werde ich dir nicht mehr weiter der Reihe nach ansagen, welche von beiden Wegen der deine sein wird, sondern auch selber mußt du es in dem Gemüt bedenken.ʻ […] So sprach er [Odysseus] zu den Gefährten und wies ihnen all und jedes. Indessen aber gelangte das gut gebaute Schiff schnell zur Insel der beiden Sirenen, denn ein leidloser Fahrtwind trieb es. Da hörte mit einem Mal der Wind auf, und es ward Meeresglätte, still vom Winde, und ein Daimon166 ließ die Wogen sich legen. Da standen die Gefährten auf und rollten die Segel des Schiffes ein und warfen sie in das gewölbte Schiff. […] Ich aber schnitt eine große runde Scheibe Wachs mit dem scharfen Erz in kleine Stücke und presste sie mit den starken Händen, und alsbald erwärmte sich das Wachs, da der starke Druck es dazu trieb wie auch der Strahl des Helios, des Sohns der Höhe, des Gebieters. Und der Reihe nach strich ich es den Gefährten allen auf die Ohren, sie aber banden mich in dem Schiff zugleich mit Händen und Füßen aufrecht an den Mastschuh und banden die Taue an ihm fest, und setzten sich selber […]. Doch als wir so weit entfernt waren, wie ein Rufender reicht mit der Stimme, und geschwind dahin trieben, da entging jenen nicht, wie sich das schnell fahrende Schiff heranbewegte, und sie breiteten einen hellen Gesang aus: ‚Auf, komm herbei, vielgepriesener Odysseus, du große Pracht unter den Achaiern167! Lege mit deinem Schiff an, damit du unsere Stimme hörst! Denn noch ist keiner hier mit dem schwarzen Schiff vorbeigerudert, ehe er nicht die Stimme gehört, 164 Zauberin der griechischen Mythologie; Tochter des Sonnengottes Helios. Mast. 166 Dämon. 167 Griechischer Stamm. 165 165 die honigtönende, von unseren Mündern, sondern ergötzt kehrt er heim und an Wissen reicher. Denn wir wissen dir alles, wieviel in der weiten Troja Argeier168 und Troer169 sich gemüht nach der Götter Willen, wissen, wieviel nur geschehen mag auf der an Nahrung reichen Erde.ʻ So sagten sie und entsandten die schöne Stimme. Jedoch mein Herz wollte hören. Und ich hieß die Gefährten mich lösen und winkte mit den Augenbrauen. Die aber fielen nach vorne und ruderten […]. Doch als sie nun an ihnen vorbeigerudert waren, und wir alsdann die Stimme der Sirenen nicht mehr hörten, da nahmen sie alsbald das Wachs ab die mir geschätzten Gefährten, das ich ihnen über die Ohren gestrichen hatte, und machten mich aus den Banden los.“ [Homer: Die Odyssee, 12, 36–200, hrsg. von Olaf Gigon, übers. von Wolfgang Schadewaldt, Stuttgart 1966, S. 209–215] A1 Beschreibe anhand des Berichtes Odysseus’, was ihm auf seiner Seereise widerfahren ist. Wie verhielt er sich dabei? A2 Erläutere welche grundlegenden Ängste von Seefahrern sich in der Erzählung eventuell widerspiegeln? Wie begegnet die Erzählung diesen Ängsten? Welche tatsächlichen Ereignisse oder Umstände könnten Grundlage für den Mythos von den Sirenen sein? Das „Elmsfeuer“: Eine der rätselhaftesten Erscheinungen auf See war das „Elms-“ oder „St.Elmsfeuer“. Es ist in seefahrtsgeschichtlichen Quellen des mediterranen Raums vereinzelt, aber auch schon in der Antike erwähnt. An der friesischen Küste hieß es „Friedefeuer“ oder „Irrlicht“ und wurde als Anzeichen für eine Veränderung der Luft nach Ungewittern gedeutet. Seefahrer begegneten ihm auf den wärmeren Meeren im Zuge der großen Entdeckungen immer häufiger. Nach heutigem Wissen ist das Elmsfeuer eine Büschel- oder Glimmentladung, die von hoch stehenden Kanten oder Spitzen ausströmt und bei hohem luftelektrischem Potentialgefälle, bei gewittriger Wetterlage oder auch bei Staubstürmen auftritt. Während der Entladung ist ein zischendes Geräusch zu hören, das an Stärke schnell zunimmt. Mit einem Blitz hören Geräusch und Lichterscheinung plötzlich auf. Bei den Seeleuten wurde das Auftreten 168 169 Griechischer Stamm. Griechischer Stamm. 166 des Elmsfeuers sowohl als Trost- und Hoffnungszeichen wie auch als Vorbote nahenden Unglücks gesehen. Q2 Die Beschreibung Antonio Pigafettas170 (1519) „Bei diesen Seestürmen erschien uns oftmals der Heilige Leib […] als Licht, nämlich das St. Elmsfeuer, in tiefdunkler Nacht, von solch einem Strahlen, als wäre es eine brennende Fackel, an der Spitze des höchsten Mastes. Es blieb etwa zwei Stunden und länger bei uns und tröstete uns, wenn wir verzagten. Als dieses gesegnete Licht von uns schied, leuchtete es mit einem so hellen Glanz in unsere Augen, daß wir mehr als eine halbe Viertelstunde davon völlig geblendet waren und um Erbarmen riefen, weil wir uns bereits tot glaubten. Im gleichen Augenblick beruhigte sich die See.“ [Schmitt, Eberhard (Hrsg.): Dokumente zur Geschichte der europäischen Expansion. Bd. 7, Wiesbaden 2008, S. 11] A1 Beschreibe die Schilderung Pigafettas. Falls es dieses Phänomen geben sollte, worum könnte es sich hierbei handeln? A2 Erläutere was für Funktionen oder welche Bedeutungen die verschiedenen Erscheinungsformen des geschilderten Phänomens für den Erzähler haben? Fliegende Fische: Q3 Die Beobachtung Philipp von Huttens171 (1535) „Sagt dem Herrn Lausmonier – oder: dem Herrn Feldkaplan – meine Empfehlungen und daß ich wohl weiß, wer mich von dort drüben – oder: über den Kaiser – auf dem laufenden halten wird. So will ich nicht säumen, ihm von Neuigkeiten zu berichten, nämlich von fliegenden Fischen. Seit wir von den Kanarischen Inseln aus in See gegangen und weiter in das Ozeanische Meer vorgedrungen sind, haben wir Tag für Tag besagte Fische gesehen und zwei von ihnen sind tatsächlich aufs Schiff geflogen, die habe ich in der Hand gehabt, und von einem habe ich sogar gegessen.172 170 Antonio Pigafetta war Teilnehmer der ersten Weltumsegelung (1519–1522). Neffe des Humanisten Ulrich von Hutten. 172 Dieser Teil wurde aus dem Französischen übersetzt, während der Folgetext auf Deutsch abgedruckt ist. 171 167 Wiewol es lugerlich laut, ist es entlich war, sein claine schmale Visch, vngeuerlich [ungefähr] ains langen Messers lang, haben oben nit weyt vom Kopff zwen Flugel schier wie Fledermeus, aber lenger vnd nit ßo breyt. Erheben sich aus dem Wasser, fligen etwa ain Bogenschutz [Bogenschuß] weyt vnd dauchen sich wider ins Wasser.“ [Schmitt, Eberhard/Hutten, Friedrich Karl von (Hgg.): Das Gold der Neuen Welt. Die Papiere des Welser-Konquistadors und Generalkapitäns von Venezuela Philipp von Hutten 1534–1541, Hildburghausen, 1. Aufl. 1996, Berlin 1999, S. 91; zit. nach: Schmitt, Eberhard (Hrsg.): Dokumente zur Geschichte der europäischen Expansion, Bd. 7, Wiesbaden 2008, S. 17] A1 Beschreibe die Beobachtungen von Huttens. A2 Erkläre, was für eine Gemütslage aus diesen Beschreibungen des Fremdartigen und Neuen gefolgert werden könnte: Neugier oder eher Angst? A3 Vergleiche die Quellen Q 1, Q 2 und Q 3 miteinander und werte sie. Inwieweit lässt sich den Beschreibungen zustimmen? 4.2.2 Hoffnungen und Ängste einer Seereise Die folgenden Quellen zeigen auf, mit welchen Problemen sich die Entdecker während einer langen Seereise auseinandersetzen mussten. So liest man von den Ängsten Kolumbus’ und seines Schiffpersonals, dass man nie mehr Land sehe und daher auf dem Wasser sterben würde, was zu Unmut der Besatzung führen könne. Aus den Briefen Vespuccis lassen sich Äußerungen zu neu entdecktem Land sowie Beschreibungen der entdeckten Völker entnehmen. Q4 Auszüge aus Christoph Kolumbus’ Schiffstagebuch (1492) „Samstag, 22. September Er [Kolumbus] segelte mehr oder weniger stetig nach Westnordwest, wobei er gelegentlich nach der einen oder anderen Seite vom Kurs abwich; sie fuhren etwa dreißig Meilen; Gras sahen sie fast überhaupt nicht; sie erblickten ein paar Sturmschwalben und noch einen anderen Vogel. An dieser Stelle sagt der Admiral: ‚Dieser Gegenwind war sehr wichtig für mich, denn, meine Leute fühlten sich sehr beschwingt, bisher hatten sie nämlich gedacht, auf diesen Meeren gäbe es keine Winde, die sie nach Spanien zurückbringen könnten.ʻ Längere Zeit sah man gar kein Gras, doch später trieb es sehr reichlich heran.“ 168 „Sonntag, 23. September Er segelte in Richtung Nordwest und manchmal Nordwest-Nord, ab und zu auch auf dem eigentlichen Kurs, also nach Westen, er brachte etwa zweiundzwanzig Meilen hinter sich. Sie sahen eine Turteltaube und einen Pelikan, einen anderen kleinen Flussvogel und noch ein paar weiße Vögel. Das Gras trieb in kurzen Abständen vorbei, sie fanden Flusskrebse darin, und weil das Meer still und glatt war, murrten die Leute und sagten, da es in diesem Meer keinen hohen Seegang gäbe, würden sie niemals ausreichend Wind haben, um nach Spanien zurückzukehren; dann aber erhob sich ein ziemlich starker Wellengang, obwohl es windstill blieb, darüber wunderten sie sich. Der Admiral sagt an dieser Stelle: ‚Der hohe Seegang war mir unendlich wichtig, keiner brauchte ihn vielleicht so sehr seit der Zeit der Juden, als jene Ägypten verließen, mit Moses an der Spitze, der sie aus der Knechtschaft führte.ʻ“ „Dienstag, 25. September An diesem Tag war das Meer sehr ruhig, doch später kam Wind auf; sie fuhren bis zur Nacht auf ihrem Weg nach Westen. Der Admiral hatte eine Unterredung mit Martin Alonso Pinzón, dem Kapitän der Karavelle Pinta, sie sprachen über eine Karte, die er ihm vor drei Tagen auf die Karavelle geschickt hatte und in die der Admiral anscheinend mehrere Inseln eingezeichnet hatte; Martin Alonso behauptete, sie befänden sich in dieser Gegend, und der Admiral antwortete, ihm schiene es auch so; dass sie dennoch nicht auf sie gestoßen seien, hätten sicher die Strömungen verursacht, welche die Schiffe immer nach Nordosten abgetrieben hätten, und der Umstand, dass sie nicht so weit gefahren seien, wie es die Steuermänner angegeben hätten; dann befahl der Admiral, Pinzón solle ihm die besagte Karte zurücksenden, und als jener sie an einem Tau herübergeschickt hatte, begann sie der Admiral mit seinem Steuermann und den Matrosen zu studieren; nach Sonnenuntergang stieg Martin Alonso auf den Bug seines Schiffes, rief mit großer Freude nach dem Admiral und bat ihn um Belohnung, denn er habe Land gesichtet, und als der Admiral hörte, wie Martin Alonso dies mehrmals bekräftigte, begann er, wie er sagt; unserem Herrn auf den Knien zu danken, und Martin Alonso sprach mit seinen Leuten das Gloria in excelsis Deo173, das gleiche taten die Leute des Admirals, und die von der Niña kletterten samt und sonders auf den Mast und in das Takelwerk, und alle versicherten, es sei Land, und dem Admiral schien es auch so, und man habe noch fünfundzwanzig Meilen Wegs bis dorthin; der Admiral befahl, den Kurs nach Westen zu verlassen, und alle sollten jetzt nach Südwesten fahren, wo sie das Land zu sehen glaubten. Sie hatten an diesem Tag viereinhalb Meilen in westlicher Richtung zurückgelegt, und in der Nacht kamen sie siebzehn Meilen in südwestlicher Richtung voran, das sind insgesamt einundzwanzig, obwohl er den Leuten nur dreizehn angab, denn stets erweckte er bei den Leuten den Eindruck, daß man weniger Meilen zurücklege, 173 Preis- oder Lobgesang, Bestandteil der Messe. 169 damit ihnen der Weg nicht so weit vorkam; er registrierte die Fahrt demnach auf zweierlei Weise, die kleinere Rechnung war die fingierte, die größere entsprach der wirklich zurückgelegten Strecke. Das Meer war sehr still, und viele Matrosen sprangen ins Wasser, um zu schwimmen: Sie sahen zahlreiche Goldmakrelen und andere Fische.“ „Mittwoch, 26. September Er segelte bis nach Mittag auf seinem Westkurs. Von da an fuhren sie nach Südwesten, bis sie erkannten, dass das, was sie für Land gehalten hatten, nichts weiter als Himmel war: Sie fuhren am Tag und in der Nacht einunddreißig Meilen, und er gab den Leuten gegenüber vierundzwanzig an. Das Meer war glatt wie ein Fluss, die Lüfte sehr mild und lieblich.“ „Montag, 1. Oktober Er segelte weiter auf seinem Weg nach Westen, sie legten fünfundzwanzig Meilen zurück, er sagte den Leuten zwanzig Meilen, ein starker Regen ging nieder. Der Steuermann des Schiffes, auf dem der Admiral fuhr, äußerte heute früh die Befürchtung, sie seien von der Insel Hierro bis hierher fünf hundertachtundsiebzig Meilen nach Westen gefahren; nach der kleineren Rechnung, die der Admiral den Leuten zeigte, waren es fünfhundertvierundachtzig Meilen; aber nach jener, die der Admiral für richtig anerkannte und die er wohlverwahrt hielt, waren es siebenhundertundsieben.“ „Mittwoch, 10. Oktober Er segelte nach Westsüdwest, sie legten etwa zehn Seemeilen pro Stunde zurück, manchmal auch zwölf und eine Weile sieben; in den ganzen vierundzwanzig Stunden brachten sie neunundfünfzig Meilen hinter sich: Er sagte den Leuten allerdings nur vierundvierzig. An diesem Punkt konnten es die Leute nicht länger aushalten. Sie beklagten sich über die lange Reise; aber der Admiral ermutigte sie, sosehr er konnte, und weckte bei ihnen Hoffnung auf die Vorteile, die ihnen zufallen könnten. Und er fügte hinzu, es sei zwecklos, sich zu beklagen, denn er habe den Weg nach Indien einmal eingeschlagen und müsse ihn nun fortsetzen, bis er das Land mit Hilfe unseres Herrn gefunden habe.“ [Columbus, Christoph: Schiffstagebuch, aus dem Spanischen übersetzt von Roland Erb, Leipzig 1986, S. 14–21] 170 A1 Beschreibe, mit welchen Schwierigkeiten sich Christoph Kolumbus auf seiner Entdeckungsreise konfrontiert sah. A2 Welche sprachliche Eigenheit muss bei diesen von Kolumbus selbst verfassten Tagebucheinträgen beachtet werden? A3 Erkläre, welche Bedeutung das mehrmals erwähnte Gras und die benannten Tiere für die Seeleute haben könnte? A4 Erläutere, welche (physikalischen/naturwissenschaftlichen) Größen/Einheiten ihrer häufigen Erwähnung wohl eine große Rolle für die Seefahrer spielten? A5 Erkläre, wie die Seeleute auf die Sichtung von Land reagierten und warum sie so reagierten. Q5 Auszüge aus einem Brief Amerigo Vespuccis (1512) [Inhalt aufgrund unklarer Rechteverhältnisse entfernt. Referenz: Monegal, Emir Rodríguez: Die Neue Welt. Chroniken Lateinamerikas, Frankfurt/Main 1982, S. 81–86] A1 Beschreibe, was Amerigo Vespucci von dem neu entdeckten Kontinent und den Inselbewohnern berichtet? A2 Erkläre, welchen Beweis Vespucci laut seinen Ausführungen erbringt und was er damit widerlegt. A3 Erläutere, an welchen Stellen es in der Beschreibung um Moral oder Sitten der Inselbewohner geht. Überlege, welche Sitten- und Moralvorstellungen demgegenüber damals in Vespuccis Heimat vorherrschten. A4 Ist dem Bericht zu entnehmen, wie Vespucci die Sitten- und Moralvorstellunen der Inselbewohner bewertet? Was klingt so ähnlich wie der Vorname Vespuccis? 171 4.2.3 Tag und Nacht auf See Über den Alltag der Seeleute an Bord im Verlauf der Frühen Neuzeit, über die Mühen und Freuden des Dienstes, über die Gestaltung ihrer Freizeit, über das Verhältnis zu ihren Vorgesetzen und ihren Umgang untereinander ist nur sehr wenig bekannt. Einiges lässt sich aus Reiseberichten und Reisebeschreibungen erschließen, allerdings sind die daraus gewonnen Erkenntnisse wie einzelne kleine Steine eines riesigen Mosaiks, das nur schwer zusammenzusetzen ist. „Im Vordergrund allen Lebens an Bord stand […] der Dienst. Das war gewöhnlich der Dienst während der Wache, der man zugeteilt war. Er konnte sich in Notzeiten um Stunden, Tage, Wochen verlängern, wenn man wegen Not und Gefahr durch Naturgewalten fieberhaft mithalf, die Existenz des Schiffes und sein eigenes pures Leben samt des der Besatzung zu sichern. Dabei konnte man sich schwerste Körperverletzungen zuziehen, oft genug stand der – ohnehin täglich gewärtige – Tod vor Augen.“174 „Die Verpflegung an Bord war im Regelfall, in Kalorien gemessen, reichlich. Aber sie war eintönig und nach heutigen Maßstäben ungesund, weil extrem vitaminarm und übermäßig salzig.“175 M1 Der Dienst „Der Dienst konnte bei günstigen Witterungsverhältnissen auf hoher See, ob beim Schrubben der Decks, in der Takelage oder beim Reparieren zerschlissener Segel, angenehm und fast entspannend sein, dann aber wieder tagelang von Gefahr, Kälte und Sturm, hohem Seegang, Mangel an warmem oder überhaupt genügendem Essen oder unmenschlicher Schinderei an den Pumpen geprägt sein, auch von brütender Hitze und Wassermangel in einer Flaute am Äquator […], wobei täglich Kameraden starben, etwa am Skorbut […]. Dann waren die körperlichen und seelischen Belastungen fast unerträglich, besonders wenn noch Spannungen zu Offizieren oder Mannschaftsmitgliedern dazu kamen, entweder weil man ungerecht behandelt wurde oder weil man sich auf einen Kameraden nicht verlassen konnte. Das einwandfreie und reibungslose Arbeiten im Team nannte man Seemannschaft, es war unerläßlich für die Sicherheit des Schiffs und der Mannschaft. Das hieß praktisch, daß jeder Seemann in jedem Arbeitsbereich kompetent sein, daß er bereit sein mußte, jederzeit für einen ausfallenden Kameraden einzuspringen und dessen Aufgaben zu übernehmen […]. Es […] hieß natürlich auch, daß er die Seemannssprache, die so 174 Schmitt, Eberhard (Hrsg.): Dokumente zur Geschichte der europäischen Expansion, Bd. 7, Wiesbaden 2008, S. 174. 175 Ebd., S. 179. 172 viele den sog. Landratten nicht geläufige Ausdrücke für Dinge und Tätigkeiten an Bord kennt, perfekt beherrschen mußte.“ [Schmitt, Eberhard (Hrsg.): Dokumente zur Geschichte der europäischen Expansion, Bd. 7, Wiesbaden 2008, S. 174] A Beschreibe, welche Tätigkeiten ein Seemann an Bord zu erledigen hatte. Fallen dir noch andere Tätigkeiten ein? Q6 Ein Seemann berichtet über seine Arbeit in der Takelage „… Und in stürmischem Wetter, wenn das Schiff rollte und schlingerte, als ob ein großer Mühlstein einen Hügel hinauf und einen anderen hinabrollte, hatten wir große Mühe, uns an den dünnen Tauen festzuhalten, um nicht über Bord zu fallen. Und auf den Marsen176 angelangt, mußten wir zerren und ziehen, um das Segel festzumachen, wobei wir nichts sahen außer dem Himmel über und dem Wasser unter uns, und dies tobte derart, als ob jede Welle für uns zu einem Grab werden sollte; und oft in Nächten, die so dunkel waren, daß wir einander nicht sehen konnten und in denen es so hart blies, daß wir einander nicht sprechen hören konnten, obwohl wir uns dicht beieinander befanden; und dazu donnerte und blitzte es, als ob Himmel und Erde zusammenstießen, was in diesen [tropischen] Ländern üblich ist, begleitet von solch heftigen Regenschauern, daß es einen Mann bis auf die Haut durchnäßt, bevor er die Länge des Schiffes hinter sich gebracht hat.“ [Schmitt, Eberhard (Hrsg.): Dokumente zur Geschichte der europäischen Expansion, Bd. 7, Wiesbaden 2008, S. 174 f.] M2 Die Freizeit „Die Freizeit, so reglementiert sie war und so sehr von Dienst unterbrochen sie sein konnte, wurde dankbar empfunden. Man schlief zwischen seinen Wachen in der unter Deck oder in einem der Gänge aufgespannten Hängematte, man reparierte seine Kleidung, suchte sie zu entlausen oder gar notdürftig mit Salzwasser zu waschen, manche Seeleute sangen […], viele erzählten Geschichten (die an Land wegen pittoresker Übertreibungen oft ‚Seemannsgarn‘ genannt wurden), man lernte Taue flechten und unendlich viele Arten von Seemannsknoten machen. Die Freizeit diente mindestens ebenso wie der Dienst der Sozialisation des Seemanns an Bord. Man lernte Kameraden kennen und schätzen, wobei Herkunft und bisheriges Lebensschicksal 176 Mars nannte man eine kleine Plattform, die weit oben um einen Mast lief und von der aus die sogenannten „Marsgasten“, erfahrene Matrosen, die Segel bedienten und kontrollierten. 173 am meisten verbanden, schloß Freundschaften, es entwickelten sich auch Abneigungen und Feindschaften, wobei es zu starken latenten Spannungen kam, die fast jederzeit in Gewalttätigkeiten umschlagen konnten. Nie ausrotten ließ sich das Glücksspiel […], obwohl es bei allen Handelsmarinen strikt untersagt war.“ [Schmitt, Eberhard (Hrsg.): Dokumente zur Geschichte der europäischen Expansion, Bd. 7, Wiesbaden 2008, S. 176] A Beschreibe was die Besatzung in ihrer Freizeit machte. Fändest du den Dienst an Bord angenehm? M3 Die Verpflegung „Auf Schiffen der VOC [Vereenigde Oostindische Compagnie] gab es täglich drei warme Mahlzeiten: morgens nach dem Frühstücksgebet etwa um acht Uhr Gerstengrütze, die auch getrocknete Pflaumen und Rosinen enthielt und die häufig mit Bier, Wein oder Wasser gestreckt war; um zwölf Uhr gab es Mittagessen, und zwar Eintopf aus eingeweichten Trockenerbsen oder -bohnen, der mit Öl oder Fett zubereitet war; abends um sechs gab es die Reste des Mittagessens mit Bier und Brot, wobei das Brot oft hart war und eingeweicht werden mußte, wenn es nicht, wie es immer wieder einmal geschah, fast verdorben war. Viermal pro Woche bereitete der Schiffskoch Stockfisch zu, zweimal gepökeltes […] Schweinefleisch und einmal gepökeltes Rindfleisch. Wer sich über die Verpflegung beschwerte, wurde mit Hieben oder Arrest bestraft. Es gab bei der VOC wie bei allen Marinen auch Sonderrationen an Käse, Brot, Butter, Öl und Essig, auch an Bier und Rum anläßlich besonderer Vorfälle wie der gut ausgegangenen Begegnung mit einem Korsaren o. ä. Mit Haken geangelte Fische bereicherten den Speiseplan in unterschiedlichem Maße, ebenso Fleisch von frisch geschlachtetem Kleinvieh, das jedes Handelsschiff so lange wie möglich an Bord mitführte. Versuche der Spanier, größeres Schlachtvieh unter Deck zu halten, waren im großen und ganzen von Mißerfolg gekrönt, davon abgesehen, daß der anfallende Mist die Luft bei schlechtem Wetter und deshalb geschlossenen Zwischendecks fast unerträglich verpestete, besonders im Fall von Schweinevieh.“ [Schmitt, Eberhard (Hrsg.): Dokumente zur Geschichte der europäischen Expansion, Bd. 7, Wiesbaden 2008, S. 179] A 174 Beschreibe, wie die Verpflegung der Besatzung an Bord aussah. Kannst du dir vorstellen, dass die Verpflegung jedes Besatzungsmitgliedes gleich war? 4.2.4 M4 Krankheiten an Bord Krankheiten „Die häufigste aller Krankheiten zur See war wohl die Seekrankheit, die meistens unter den Passagieren auftrat, aber unzählige Male und immer wieder auch für das seefahrende Personal bezeugt ist. Die Seekrankheit […] ist eine sog. Bewegungskrankheit, wie sie heute viele Bahn-, Flug- und besonders Busreisende kennen […]. Die Krankheit wird ausgelöst durch das Schwanken des Fortbewegungsmittels und führt zu oft starkem und anhaltendem Erbrechen und zur Unfähigkeit, weitere Nahrung aufzunehmen, was den Körper schwächt. Sie kann die Arbeitskraft der Mannschaft in ganz erheblichem Maße schwächen.“ „Von der Gefährlichkeit her an erster Stelle bei den auf der Asien- und der Pazifikroute auftretenden Krankheiten standen Vitaminmangelkrankheiten (Avitaminosen) wie die Nachtblindheit […], Beriberi, und vor allem Skorbut […]. Die Ernährung an Bord für normale Seefahrer war […] im allgemeinen besonders unzulänglich und ungesund. Sie bestand wenige Wochen nach dem In-See-Gehen eines Schiffes auf große Fahrt, sobald die Frischvorräte aufgebraucht waren, oft nur noch aus Stockfisch, aus Dörr- und Salzfleisch, aus Schiffszwieback […] und getrockneten, in Salzwasser zum Essen wieder aufgeweichten Hülsenfrüchten […]. So fehlten dem menschlichen Körper bald lebenswichtige Vitamine, Mineralien und Spurenelemente, die man bei der Ernährung an Land […] ganz nebenbei mitaufnahm […]. […] Mangelerscheinungen kamen daneben häufig bei Expeditionen mit viel mitgeführter benötigter Trockennahrung vor. Dabei spielte das Fehlen von frischem Gemüse und Obst eine besondere Rolle, d. h. von Nahrungsmitteln, die das lebenswichtige Vitamin C enthielten. Die Folge war die äußerst gefürchtete Mangelkrankheit Skorbut, die sich ab 68 Tagen Ernährung ohne Vitamin C bemerkbar machte. […] Neben Vitaminmangelkrankheiten waren es besonders Infektionskrankheiten, die zahlreiche Opfer unter Seeleuten und Mitreisenden forderten. Sie wurden durch die oft unhygienischen Verhältnisse an Bord begünstigt. […] Eine gründliche Reinigung des Körpers und der Kleidung war […] nicht möglich, weil dazu Süßwasser erforderlich gewesen wäre. Das aber stand auf Langzeitfahrten nicht einmal als Trinkwasser ausreichend zur Verfügung. Zudem besaßen Seeleute häufig nicht mehr Wäsche als die Lumpen, die sie auf dem Leib trugen […]. […] Zu den am häufigsten auftretenden Infektionskrankheiten gehörten bei Fahrten in feuchtwarmen Regionen die Malaria tropica […] und weitere […] Malariaarten […]. Andere auftretende Infektionskrankheiten waren das Gelbfieber und die ohne Impfung vielfach tödlichen Pocken.“ [Schmitt, Eberhard (Hrsg.): Dokumente zur Geschichte der europäischen Expansion, Bd. 7, Wiesbaden 2008, S. 249 ff. und S. 253 ff.] 175 A Beschreibe, welche Arten von Krankheiten auf langen Seereisen ausbrachen und begründe, inwiefern diesen entgegengewirkt bzw. vorgebeugt werden könnte? Q7 „Jean Mocquet schildert die Wirkung des Skorbuts auf der langen Reise nach Goa (1608) Im übrigen herrschte unter uns das größte Durcheinander, das man sich vorstellen kann, wegen der großen Menge von Leuten jeder Art, die sich dort [auf dem Schiff] befanden und die sich, die einen hier, die anderen dort, übergaben und ihren Unrat einer über den anderen erbrachen. Es war nichts als das Schreien und Stöhnen derer zu hören, die unter Durst, Hunger, Krankheiten und anderen Mißhelligkeiten litten, wobei sie die Stunde ihrer Einschiffung verfluchten und sogar Vater und Mutter, die dafür die Ursache waren: derart, daß sie alle ohne Verstand schienen und voller Verzweiflung in der exzessiven Hitze unter dem Äquator und inmitten der klippenreichen Untiefen vor der brasilianischen Küste […], in den kurzen Windstillen bei schlechtem Wetter und in den Flauten, die lange Zeit dauerten, sowie in den warmen Regengüssen der Guineaküste, die uns zu jeder Stunde überschütteten und die sich danach in Maden verwandelt hätten, falls man nicht alles, was naß geworden war, rasch getrocknet hätte. Was mich angeht, so überkam mich beim Anblick meiner Matratze ein wundersames Unbehagen, wenn sie ganz durchnäßt war und von all diesen Würmchen wimmelte, die sich auf eine merkwürdige Weise zum Springen krümmten. Diese Regenfälle sind so mächtig, daß sie nicht nur den Körper Schaden nehmen und verfaulen lassen, sondern auch die Kleider, die Reisetruhen, die Gerätschaften und andere Dinge. Und da ich keine Hemden und Kleidungsstücke mehr zum Wechseln hatte, war ich gezwungen, alles, was ich trug, auf mir zu trocknen, zusammen mit meiner Matratze, auf die ich mich legte. Doch mußte ich dafür teuer bezahlen: denn ich bekam das Fieber und große Nierenschmerzen, und zwar derart, daß beides mich fast die ganze Reise über nicht mehr verließ. Aber das war nicht alles, denn ich hatte noch diese beschwerliche und gefährliche Krankheit Lovende […], die die Portugiesen ‚Berber‘ nennen und die Holländer ‚Skorbut‘. Sie zog fast mein ganzes Zahnfleisch in Mitleidenschaft, das schwarzes und eitriges Blut absonderte. Die Muskeln meiner Knie waren so gespannt, daß ich meine Beine nicht strecken konnte. Meine Schenkel und Beine waren schwarz wie von Geschwüren zerfressene und brandige Glieder, und ich war gezwungen, jeden Tag in das Fleisch zu schneiden oder etwas davon abzutrennen, um dieses schlechte und schwarze Blut abfließen zu lassen. Auch mein Zahnfleisch, das bleifarben war und über meine Zähne wucherte, mußte ich ausschneiden. Mit einem kleinen Spiegel in der Hand schleppte ich mich jeden Tag an die Bordkante des Schiffes und klammerte mich an den Tauen fest, um zu sehen, wo ich schneiden mußte: dann, nachdem ich unter großem Blutverlust dieses tote Fleisch weggeschnitten hatte, spülte ich meinen Mund und die Zähne mit meinem Harn, indem ich sie sehr stark rieb. Aber trotzdem war jeden Tag ebenso 176 viel gewuchertes Zahnfleisch da wie zuvor und manchmal mehr. Und am unglücklichsten war, daß ich nicht essen konnte, denn ich mochte lieber schlucken als kauen wegen der großen Schmerzen, die ich bei dieser bösen Krankheit hatte. Das beste Heilmittel, das ich dagegen fand, war starker Gebrauch von Veilchensirup […] und reinigendes Gurgeln mit gutem Rotwein. Tag für Tag starben viele unserer Leute daran, und man sah kaum etwas anderes, als daß Leichen ins Meer geworfen wurden, drei und vier auf einmal. Die meisten davon waren ohne Pflege gestorben, hinter irgendeiner Kiste, und die Ratten hatten schon Augen und Zehen gefressen. Andere fand man nach dem Aderlassen tot im Bett, weil sie ihre Arme bewegt und dadurch verursacht hatten, daß die [angeschnittene] Vene sich wieder öffnete und ihr Blut von neuem zu fließen begann. Sie verfielen dann in ein Phantasieren mit hohem Fieber und starben ohne jeden Beistand. Es waren nur Schreie vor schrecklichem Durst und großer Trockenheit zu hören. Denn sehr oft, nachdem sie ihr Quantum erhalten hatten, das ungefähr einen Schoppen177 Wasser betrug, stellten sie dies in ihre Nähe, um je nach Durst davon trinken zu können, und ihre Gefährten – wo immer diese gerade untergebracht waren, in der Nähe oder in der Ferne – kamen und nahmen die kärgliche Wasserration den elenden Kranken fort, wenn diese gerade eingeschlafen waren oder sich auf die andere Seite gedreht hatten. Und unter dem Deck, an dunklen Stellen, stießen und schlugen sie sich, ohne sich überhaupt zu sehen, wenn sie einen beim Stehlen überraschten. Auf diese Weise waren sie sehr oft ganz ohne Wasser und starben elend wegen des Mangels weniger Tropfen, ohne daß ihnen jemand etwas Wasser besorgt hätte, weder der Vater für den Sohn, noch der Bruder für den Bruder, so groß war das Verlangen, sich durch Trinken am Leben zu halten, daß jeder nur an sich selbst dachte. Oft fand ich mich auf diese Weise um meine Ration betrogen, aber ich tröstete mich wie viele andere, die sich in der gleichen Lage befanden. Das war auch der Grund dafür, daß ich nicht allzu fest zu schlafen wagte, und ich stellte mein Wasserquantum an einen Platz, von dem es niemand leicht wegnehmen konnte, ohne mich zu berühren.“ [Jean Mocquet: Voyages En Afrique, Asie, Indes Orientales, & Occidentales. Faits par J. M. Garde du Cabinet des Singularitez du Roy, aux Tuilleries. Livre IIII. Rouen 1645 (Ndr. 1665), S. 219–223 (in der durch Xavier de Castr. überarb. Ausg. v. 1996, S. 47 f.; zit. nach: Schmitt, Eberhard (Hrsg.): Dokumente zur Geschichte der europäischen Expansion, 7. Bd., Wiesbaden 2008, S. 273 ff.] A 177 Beschreibe Jean Mocquets Schilderung des Skorbuts und erkläre deren Verlauf. Wie versuchte er, dagegen vorzugehen? Maßeinheit: entspricht ca. 400 ml. 177 Buchtipp Behringer, W.: Lust an der Geschichte. Amerika. Die Entdeckung und Entstehung einer neuen Welt, München 1992. Brucker, Ambros/Haubrich, Hartwig/Kirchberg, Günter (Hrsg.): Didaktik der Geographie. Konkret, 3. Neubearbeitung, München 1997. Bruckmüller, Ernst/Hartmann, Peter Claus (Hrsg.): Putzger – Historischer Weltatlas, 103. Auflage, Berlin 2006. Elliot, J. H.: Die Neue in der Alten Welt. Folgen einer Eroberung 1492–1650, Berlin 1992. Erdmann, Elisabeth (Hrsg.): Verständnis wecken für das Fremde, Schwalbach/Ts. 1999. Grün, R.: Christoph Columbus. Das Bordbuch, Stuttgart 1970. Menninger, Annerose: Die Macht der Augenzeugen. Neue Welt und KannibalenMythos, 1492–1600, Stuttgart 1995. Pandel, H.-J./Schneider, G. (Hrsg.): Handbuch. Medien im Geschichtsunterricht, 3. Auflage, Schwalbach/Ts. 2005. Rosner, E.: Missionare und Musketen. 500 Jahre lateinamerikanische Passion, Frankfurt/Main 1992. Schmitt, Eberhard (Hrsg.): Dokumente zur Geschichte der europäischen Expansion, 7 Bde., München, Wiesbaden 1984–2012. Todorov, T.: Die Eroberung Amerikas. Das Problem des Anderen, Frankfurt/Main 1985. 178 KAPITEL IV SORBEN/WENDEN IM GESCHICHTSUNTERRICHT Kati Neubauer Peggy Schulze [http://de.wikipedia.org/wiki/William_Krause, Bildnis: Wendisches Mädchen (19.6.2013)] Baustein I Kati Neubauer Baustein II Peggy Schulze 1 BAUSTEIN I – DIE MINDERHEITENPOLITIK DES NATIONALSOZIALISMUS AM BEISPIEL DER SORBEN/WENDEN 1.1 Didaktisch-methodische Überlegungen 1.1.1 Zur Bedeutung des Themas Die Verfolgung oppositioneller Gruppen in der Zeit des Nationalsozialismus beschäftigt Schüler der gymnasialen Oberstufe in ganz Deutschland. Zur Aufarbeitung dieses Unterrichtskomplexes bietet sich auch das Thema „Sorben (Wenden)“178 an, denn daran kann ein überzeugendes Beispiel politischen Terrors im Nationalsozialismus aufgearbeitet werden. Der Aspekt der Begegnung mit dem Fremden in Geschichtswissenschaft und im Geschichtsunterricht findet sich auch in der historischen Konfliktsituation deutscher und sorbischer Kultur und Identität in der NS-Zeit wieder. Exemplarisch kann dabei das Aufeinandertreffen nationaler Interessen untersucht werden, wobei es an authentischen historischen Persönlichkeiten nicht mangelt, deren Ansichten und Handlungsgründe gegenübergestellt werden können, um eine historische Situation zu rekonstruieren und zeitgemäße Orientierungsanliegen herauszuarbeiten. Das Wissen der Schülerinnen und Schüler zum Leben der Sorben umfasst in der Regel Bräuche wie das Osterreiten oder das kunstvolle Gestalten von Ostereiern. Anliegen dieses Unterrichtskonzepts ist es, diese in Deutschland angesiedelte Minderheit als zur deutschen Geschichte und Gegenwart zugehörig zu verstehen. Die zunächst erzeugte Fremdheit kann als Anregung für ein selbständig-kritisches und vor allem reflektiertes Handeln der Schülerinnen und Schüler im eigenen Umfeld genutzt werden, indem Interesse für vielschichtige Aspekte des Themas geweckt wird. Fächerübergreifend und -verbindend kann der Umgang mit Minderheiten in Deutschland zur Festigung demokratischer Verhaltensweisen und Vertiefung von Menschenund Bürgerrechten angesprochen werden, um die Schüler zu universalhumanitärem Urteilsvermögen zu befähigen. Besonders im Bundesland Brandenburg bietet sich die Unterrichtssequenz zu den Sorben an. Das Unterrichtsfach Geschichte soll in Brandenburg nach Möglichkeit Themen ansprechen, die u. a. „die gegenwärtige rechtliche, politische, wirtschaftliche“179 Situation des Landes und somit die Lebenswelt der Schülerinnen und Schüler betreffen. Andererseits soll in der gymnasialen Oberstufe das Übernehmen von 178 Die Begriffe „Sorben“ und „Wenden“ bezeichnen dieselbe Volksgruppe. Im Folgenden ist mit der Bezeichnung „Sorbe“ auch die Bezeichnung „Wende“ gemeint. 179 Ministerium für Bildung, Jugend und Sport des Landes Brandenburg (Hrsg.): Rahmenlehrplan. Geschichte. Sekundarstufe I, Berlin 2002, S. 11. 181 „Verantwortung für sich und ihre Mitmenschen, für die Gleichberechtigung der Menschen“180 geschult werden. Da die als Minderheit geltende deutsche Volksgruppe der Sorben gerade in dieser Region angesiedelt ist, sollte ihre Geschichte hier thematisiert werden. Die Sorben finden in der Präambel vieler brandenburgischer Rahmenlehrpläne181 explizit Berücksichtigung. Darüber hinaus wird im Rahmenlehrplan Geschichte der Sekundarstufe I angeboten, einen historischen Längsschnitt zu der regionalgeschichtlich besonders relevanten Thematik der Sorben zu planen und so über mehrere Jahre das kulturelle Gedächtnis zu fördern.182 Im Rahmenlehrplan der gymnasialen Oberstufe wird allerdings kein direkter Bezug auf die Sorben genommen. Nichtsdestotrotz kann ein immer wieder beispielhaftes Anführen der sorbischen Kultur im eigenen Landesteil und ein Bezug zur Gegenwart zu einer gesteigerten Lernbereitschaft beitragen und Neugierde hervorrufen, wie auch den Zugang zu der jeweiligen Thematik erleichtern. Unterrichtsmaterial zum Thema „Sorben“ gibt es für den Geschichtsunterricht kaum. Daher ist es nötig, eigene Konzepte zu entwickeln, was aber auch die Chance darstellt, lebendigen Unterricht z. B. durch Einladen sorbischer Vertreter oder in sorbischen Vereinen engagierter Mitglieder zu arrangieren, was sich gerade durch die regionale Nähe anbietet. Außerdem können Exkursionen beispielsweise in das Wendische Museum, das Witaj-Sprachenzentrum oder das Niedersorbische Gymnasium organisiert werden, um die Möglichkeiten politischer und kultureller Einflussmöglichkeiten einer nationalen Minderheit kennen zu lernen. Von besonderem Interesse ist das Wendische Haus in Cottbus, in dem eine Abteilung der Stiftung für das sorbische Volk/Domowina, die Zweigstelle für das Sorbische Institut, die Sorbische KulturInformation „Lodka“ sowie die Niedersorbische Bibliothek zu finden sind (in etwas weiterer Entfernung – in Bautzen – ist der Domowina-Verlag beheimatet). 180 Ministerium für Bildung, Jugend und Sport des Landes Brandenburg (Hrsg.): Rahmenlehrplan für den Unterricht in der gymnasialen Oberstufe im Land Brandenburg. Geschichte, Berlin 2006, S. 5. 181 „Zum besonderen Bildungsauftrag der brandenburgischen Schule gehören die Vermittlung von Kenntnissen über den historischen Hintergrund und die Identität der Sorben (Wenden) sowie das Verstehen der sorbischen (wendischen) Kultur. Für den Unterricht bedeutet dies, Inhalte aufzunehmen, die die sorbische (wendische) Identität, Kultur und Geschichte berücksichtigen. Dabei geht es sowohl um das Verständnis für Gemeinsamkeiten in der Herkunft und die Verschiedenheit der Traditionen als auch um das Zusammenleben.“, Ministerium für Bildung: RLP. Geschichte. Sek. I, a.a.O., S. 12. 182 „Das wiederkehrende Angebot des wahlweise-obligatorischen Themas “Die Brandenburger” bzw. “Region Berlin-Brandenburg zurzeit der Weimarer Republik und des Nationalsozialismus” eröffnet die Möglichkeit, ein regionalgeschichtliches Thema (z. B. die Geschichte der Sorben/Wenden) über einen längeren Zeitraum längsschnittartig zu verfolgen. Die besondere Bedeutung der Regionalität besteht darin, dass spezifische Traditionen (z. B. der Sorben/Wenden) im kulturellen Gedächtnis bewahrt bleiben. Derartige Möglichkeiten sind daher im Geschichtsunterricht entsprechender Gebiete aufzugreifen.“, Ministerium für Bildung: RLP Geschichte Sek. I, a.a.O., S. 34. 182 Angelehnt an die didaktisch-methodischen Überlegungen Wolfgang Klafkis wird zunächst die exemplarische Bedeutung des Unterrichtskonzepts vorgestellt, ehe die Gegenwarts- und Zukunftsbedeutung als Begründungszusammenhang, die thematische Struktur mit Zugänglichkeit und Darstellbarkeit und die methodische Strukturierung erläutert werden.183 Indem die Unterdrückung und Verfolgung sorbischer Bürger durch das nationalsozialistische Regime thematisiert werden, kann das Ausmaß politischer Kontrolle und Gewaltausübung einer Diktatur an authentischen Einzelschicksalen erschlossen und schließlich auf andere Gruppen im Nationalsozialismus sowie auf Schicksale politisch Verfolgter in anderen Diktaturen transferiert werden. Am Beispiel des sorbischen Volkes können die Schüler reale Handlungsmöglichkeiten und Handlungsintentionen politisch unterdrückter Menschen rekonstruieren. Politische Schlagworte wie „Germanisierung“ und „Assimilierung“ werden kritisch reflektiert und mit dem Ringen sorbischer Vertreter um kulturellen Erhalt und um die Identität des sorbischen Volkes in Kontrast gesetzt. Durch die eingehende Analyse politischen Vorgehens und der Einflussnahme von Seiten des Staates auf Oppositionelle in einem diktatorischen System werden die Schüler befähigt, begründete moralische Urteile zu fällen und ihre gegenwärtigen Wertvorstellungen dazu in Beziehung zu setzen. In der Diskussion am konkreten Beispiel werden den Schülern darüber hinaus Verstehens- und Handlungsmöglichkeiten eröffnet, die ihnen helfen, ggf. eine kritische Distanz zu Vorgängen in ihrer eigenen Lebenswelt einzunehmen. Damit verbunden sind eine Orientierung in der Gegenwart und ein reflektierter Umgang mit Minderheitenpolitik, wodurch die Schüler insgesamt für die Wahrung der Menschen- und Bürgerrechte in ihrer eigenen Lebenswelt sensibilisiert werden. Zudem sollte es ihnen möglich werden, kompetent an der öffentlichen Diskussion zu Minderheitenpolitik und Völkerrecht teilzuhaben und selbst begründete Argumente vorzubringen. Mit der Empathie für historische Personen üben sich die Schüler in der Kompetenz, dies auch auf Probleme ihrer Lebenswelt zu übertragen. Das hilft ihnen, zukünftig strukturiert Urteile zu fällen und selbst zielorientierter handeln zu können, was sie (im Idealfall) zu kritischen und selbstbewussten Menschen macht. So erlernen die Schüler, eigenständig am Beispiel des Umgangs mit der Minderheit der Sorben in der NSZeit, dass Handeln nicht im Sinne der historisch-sozialen Bezugsnorm, sondern ausgerichtet am Wert der Humanität richtig ist. Diese Einsicht ist Grundlage dafür, einfühlsam, verantwortungs- und respektvoll mit anderen Menschen umzugehen. Diesem universalen, offenen Denken sollen bewusst gewählte Werte zugrunde liegen, die unabhängig vom kulturell-sozialen Gefüge bestehen. 183 Klafki, Wolfgang: Die bildungstheoretische Didaktik, in: Gudjons, Herbert/Teske, Rita/Winkel, Rainer (Hrsg.): Didaktische Theorien, 6. Aufl., Hamburg 1991, S. 11–26, hier S. 14. 183 1.1.2 Das Potenzial zur Entwicklung des historischen Denkens – Zugänglichkeit Das Thema „Nationalsozialistische Gewaltherrschaft“ hat einen deutlichen Bezug zu den Sorben. Die zumeist für das 3. Kurshalbjahr in den Rahmenlehrplänen verankerte Thematik zur NS-Zeit birgt Inhalte wie „Herrschaft und Ideologie im NS-Staat“ und „Widerstand und ziviler Ungehorsam“. Im Unterricht sollen die Schüler „Handlungsspielräume und Zwangslagen historischer Akteure beurteilen“184. Gerade der Umgang mit Sorben in der Lausitz bietet sich zur Aufarbeitung dieser Inhalte exemplarisch an. Als vom Regime unterdrückte Gruppe wurden die Sorben pseudowissenschaftlich von Nationalsozialisten untersucht und realpolitisch mit allen Mitteln unterdrückt, mit dem Ziel, aufgelöst zu werden. Methodisch vermag die Auswertung von Reden, Statistiken, Plakaten und evtl. auch Karikaturen deutlich die Diskrepanz zwischen Schein und Wirklichkeit darzustellen. Ebenso können Zeitzeugenberichte und Memoirenliteratur analysiert werden, um eine Problemdiskussion und zusammenfassende Erörterung anzuschließen und „multiperspektivisches Denken und kritische Urteilsfähigkeit“185 zu fördern. In den hier entwickelten thematischen Aspekten wird das prägende Verhältnis der handelnden Personen zur Geschichte deutlich. Über die niedersorbische Dichterin Mina Witkojc, den sorbischen Schriftsteller Jurij Brězan und den Vorsitzenden der Domowina Pawoł Nedo erkennen die Schüler, dass Verstehensmöglichkeiten immer vom subjektiven Wahrnehmen und Erfahrungsraum abhängig sind. Nach der Dekonstruktion der historischen Darstellung strukturieren und rekonstruieren die Schüler den historischen Verlauf. Nachdem der historische Kontext verfügbar ist, gelingt es den Schülern dann, die Handlungen in den historischen Zeitraum einzuordnen, kritisch-distanziert zu beurteilen und sinnvoll darzustellen. Die Quellenarten Bild, Gedicht, Interview, Rede, Aktennotiz und Protokoll ermöglichen vielschichtige Zugänge zur Problematik des sorbischen Volkes im Nationalsozialismus und wirken durch ihre Unterschiedlichkeit ansprechend auf die jeweiligen Präferenzen der einzelnen Schüler.186 Empfehlenswert ist es demnach, die Schüler frei die zu bearbeitenden Themen auswählen und damit selbst Gruppen bilden zu lassen. Zusätzlich zu den Quellentexten liefern optional Autorentexte Hintergrundinformationen, die die Schüler befähigen können, umfassende Urteile über den histori184 Vgl. Ministerium für Bildung: RLP gymnasiale Oberstufe Geschichte, a.a.O., S. 25. Ebd., S. 9. 186 „Selbständiges Lernen ist nun aber nur möglich, wenn der Lehr-Lern-Prozess zwei Bedingungen erfüllt: Er muss erstens bewusst an den jeweils erreichten psychomotorischen, kognitiven, ästhetischen, sozialen, moralischen Entwicklungsstand des Lernenden, an seine Interessen, seine Sichtund Umgangsweisen mit Sachverhalten und Problemen anknüpfen. Hier wird eine Beziehung des exemplarischen Lehrens und Lernens zum Ansatz des ,schülerorientierten Unterrichts‘ deutlich.“, Klafki, Wolfgang: Neue Studien zur Bildungstheorie und Didaktik. Zeitgemäße Allgemeinbildung und kritisch-konstruktive Didaktik, 3. Aufl., Weinheim/Basel 1993, S. 146 f. 185 184 schen Sachverhalt zu fällen. Es ist aber auch möglich, die Schüler selbst die zum Verständnis nötigen Informationen recherchieren zu lassen und somit eigenständig die Gruppenarbeit zu organisieren. Besonders in der Oberstufe ist diese Variante angemessen, da die Schüler angeregt werden sollen, selbständig Informationen aus beispielsweise Fachliteratur, Internet oder mit Hilfe von Zeitzeugen zusammenzutragen. Ein Teil der Aufgaben ist, wie oben beschrieben, so konzipiert, dass die Schüler sich in authentische Vertreter des sorbischen Volkes hineinversetzen müssen, um zu einer sinnvollen Aufgabenlösung zu gelangen, was neben Empathie die Fähigkeit zur Multiperspektivität fördert und die Schüler emotional gegenüber dem Thema öffnet, weil sie sich über die Identifikation mit einer konkreten Persönlichkeit im historischen Rahmen orientieren können. Mit dem Rahmenszenario einer Redaktionssitzung werden die Schüler in die historische Situation eingeführt und aktiv in den Handlungsrahmen einbezogen. In der direkten Auseinandersetzung mit authentischen Personen gelingt es, sie emotional anzusprechen und einen Focus auf das Zeitgeschehen zu setzen. Mit der Rekonstruktion des historischen Kontextes problematisieren die Schüler den Handlungsspielraum der Akteure, indem sie nicht zuletzt von ihrem eigenen Erfahrungsraum abrücken. Schließlich wird Distanz geschaffen, die zu einer reflektierten Darstellung anregt. Mit dem abschließenden Schreiben eines Zeitungsartikels werden die Schüler zum Ergebnis- und Reflexionsaustausch bewegt, der eine Diskussion über das Produkt anregen soll, das im historischen Rahmen präsentiert werden muss. Die sinnbildende und zielgerichtete Produktdarstellung als wichtige Komponente der Abituranforderungen wird dadurch trainiert. 1.1.3 Anregungen zur Entwicklung von Kompetenzen Einstieg Im Folgenden werden Vorschläge zur Unterrichtsgestaltung von Geschichtsunterrichtsstunden für die gymnasiale Oberstufe dargelegt. Die Unterrichtssequenz wird durch das Rahmenszenario eingeleitet, das, wie oben beschrieben, die Aufmerksamkeit der Schüler durch das persönliche Einbeziehen weckt und sie emotional anspricht, sich in einer bestimmten Rolle zurechtzufinden und sich an dem vorgegebenen Handlungsspielraum zu orientieren. Empfehlenswert ist es, das Rahmenszenario über einen Projektor sichtbar an die Wand zu projizieren oder anderweitig den Schülern zugänglich zu machen, um ihnen die Möglichkeit zu geben, sich während der Gruppenarbeit immer wieder in die Thematik und die Zielstellung einzulesen. 185 Verlauf Um das historische Denken an Quellen zu erproben und zu schulen, ist die Methode des Gruppenpuzzles geeignet, die besonders zum Wissenserwerb, aber auch zur Problemlösung eingesetzt werden kann. Das Gruppenpuzzle trainiert zudem das Kooperationsvermögen der Schüler und unterstützt für die Zusammenarbeit geeignete soziale Kompetenzen, indem sie jedem Schüler eine bestimmte Rolle zuweist, die zur Problemlösung benötigt wird. Die Methode ist in drei Lernphasen unterteilt: Die Aneignungsphase, die Wissensvermittlungsphase und die Verarbeitungsphase.187 Die Klasse wird in der ersten, der Aneignungsphase, in vier Stammgruppen geteilt, die jeweils als Journalisten oder Schriftsteller ein Problem bearbeiten und lösen sollen. Zu der jeweiligen Handlungsentscheidung gehört eine klare Argumentationsfolge, die die Schüler gemeinsam in ihren Gruppen erarbeiten sollen. Jeder Schüler hält die gewählte Problemlösung und dazugehörige Argumentationskette schriftlich fest, um optimal auf die nächste Phase vorbereitet zu sein. Die aktive Auseinandersetzung mit dem jeweiligen Themenbereich wird durch die Arbeit in der Gruppe unterstützt und gesichert, nicht zuletzt, weil die Schüler wissen, dass sie in der folgenden Phase individuell das Erarbeitete an andere Schüler vermitteln sollen. Der Lehrer kann hier an jeden Schüler Farbkärtchen austeilen, die mit Notizen beschrieben werden müssen, um formal und visuell das Ergebnis zu sichern. Anschließend wird in der zweiten Arbeitsphase, der Lernphase zur Wissensvermittlung, die Redaktion zusammengesetzt. Aus jeder Gruppe kommt jeweils ein Schüler zu einer neuen Gruppe zusammen (Gruppenpuzzle). Die Schüler sind jetzt Experten für einen bestimmten Bereich in der jeweiligen Redaktion (vgl. Abbildung M 1) und sollen mit den anderen Experten einen Zeitungsartikel, dessen Thema sie selbst bestimmen, schreiben. Es gibt einen Experten zu der Frage nach (I) den Handlungsmöglichkeiten politisch engagierter Sorben im Nationalsozialismus, (II) zu der Frage, ob für aktive Sorben eine Eingliederung in nationalsozialistische Verbände in Betracht kommt, (III) welche Haltung politische Akteure gegenüber Sorben vertreten und wie sich das auf das Selbstbild der Sorben auswirkt und (VI) ob der Artikel unter Berücksichtigung der bevorstehenden historischen Situation eher sorbisch-national oder nationalsozialistisch geprägt sein sollte. Zunächst stellen sich die Experten gegenseitig ihr Wissen vor, ehe sie sich auf eine Leitfrage zu ihrem Artikel einigen. Nun beginnt die Verarbeitungsphase. Um den Artikel gemeinsam zu schreiben, nutzen die Schüler die in der ersten Phase erarbeiteten Argumente, um die Kernaussage zu untermauern. 187 Vgl. Huber, Anne A.: Kooperatives Lernen – kein Problem. Effektive Methoden der Partner- und Gruppenarbeit, Leipzig 2004, S. 48. 186 M1 Neuzusammensetzung der Expertengruppen nach der Arbeit in den Stammgruppen Auswertung Es soll eine Wandzeitung entstehen, deren Kopf der Schriftzug der Serbske Nowiny sein kann. Die vier Redaktionen heften ihre Artikel darunter. Nun können die Schüler die Artikel im Plenum vorstellen oder einzeln die Ergebnisse der anderen Gruppen durchlesen. Es bietet sich hier an, das Szenario der Redaktionssitzung zu erweitern und die Schüler diskutieren zu lassen, welcher Artikel tatsächlich abgedruckt werden soll. Empfehlenswert ist es, die Schüler zur Ergebnissicherung jeweils die Kernaussage und die beiden wichtigsten Argumente der anderen Artikel in Einzelarbeit formulieren und schriftlich festhalten zu lassen. Durch die vielfältigen Lösungsmöglichkeiten der Aufgabe entsteht Diskussionsbedarf bei den Schülern, dem nun im Plenum Rechnung getragen werden kann. Die möglichen Folgen der Veröffentlichung der einzelnen Artikel können besprochen und abgewogen werden, um die Frage zu beantworten, welche Handlungsmöglichkeiten die Redaktion der Serbske Nowiny hat und welche Aussichten auf Erfolg ihre Stellungnahme haben kann. Eine „Herausgeberkommission“, in der jeweils ein Journalist jeder Redaktion vertreten ist, fällt schließlich ein begründetes Urteil zugunsten der Veröffentlichung eines Artikels. Gemeinsam werden die Ergebnisse in der Klasse besprochen, wobei deutlich werden sollte, dass die Sorben als historisches Beispiel für viele Gruppen stehen, die in der NS-Zeit systematisch verfolgt wurden. Alle Aufgabenkomplexe können nach Bedarf auch unabhängig vom Gruppenpuzzle im Geschichtsunterricht eingesetzt werden. Jede der Aufgabenstellungen umfasst in hierarchischer Abfolge die drei Anforderungsbereiche (I) Reproduktion, (II) Reorganisation und Transfer sowie (III) Reflexion und Problemlösung. 187 Gruppe I: Mina Witkojc Analysekompetenz: • • • • Die Schüler werden zur Gedichtanalyse angehalten, um die historische Deutung durch die Schriftstellerin Mina Witkojc in den historischen Kontext einzuordnen. Durch die Text- und Bildanalyse gelingt eine Rekonstruktion der Lebenswelt der historischen Person. Die Schüler sollen die vorliegenden Quellen zielgerichtet auf Grundlage der Fragestellung auswerten, abwägen und beurteilen. Sie erlangen dadurch die Fähigkeit, die Geschichtsdeutung einer historischen Person exemplarisch zu analysieren und im Rahmen des geschichtlichen Kontextes zu werten. Methodenkompetenz: • • Es wird die Fertigkeit der Analyse und die Fähigkeit zur sachgerechten Beurteilung verschiedener Quellengattungen geschult. Im Hineinversetzen in die historische Person üben die Schüler Empathie. Deutungskompetenz: • • Die Schüler eignen sich historisches Fachwissen selbständig an. Sie ordnen zudem die Haltung der Schriftstellerin in den historischen Kontext sinnvoll ein. Urteils- und Orientierungskompetenz: • • Die Schüler werden durch die Aufgabenstellung befähigt, Wert- und Urteilsvorstellungen der historischen Persönlichkeit im Rahmen der historischen Ereignisse zu reflektieren. Den Schülern wird die Standortgebundenheit des sorbischen Volkes an die Lausitz in Bezug auf den politischen Diskurs bewusst und sie können diese begründen. Narrativität: • 188 In der Reflexion historischer Ereignisse erarbeiten die Schüler Kernaussagen oppositioneller Sorben. Gruppe II: Jurij Brězan Analysekompetenz: • • • Durch die Textanalyse des Interviews mit Jurij Brězan erlangen die Schüler die Fähigkeit, die Geschichtsdeutung durch eine historische Person auf die historische Lebenswelt anzuwenden. Die Schüler ordnen die historische Deutung des Schriftstellers in den historischen Kontext und in Bezug auf dessen Lebenswelt ein. Die Schüler wägen die Kernaussagen der vorliegenden Quelle ab und beurteilen diese zielgerichtet. Methodenkompetenz: • Die Schüler werden zur Analyse und Beurteilung der Ereignisse durch das Hineinversetzen in die historische Person befähigt, um auf die persönliche Bedeutsamkeit aufmerksam zu werden. Deutungskompetenz: • • Die Schüler eigenen sich historisches Fachwissen selbständig an. Sie sind in der Lage, die Haltung des sorbischen Schriftstellers in den historischen Kontext einordnen und dessen Handlungsmöglichkeiten in der Vergangenheit zu rekonstruieren. Urteils- und Orientierungskompetenz: • • • Die Schüler reflektieren die Wert- und Urteilsvorstellungen der historischen Person im Rahmen der historischen Ereignisse. Sie rekonstruieren dessen Haltung und werden befähigt, unter Berücksichtigung seiner Lebenswelt dessen Entscheidungsmöglichkeiten zu konstruieren. Den Schülern wird die Standortgebundenheit des sorbischen Volkes in Bezug auf die Wahrnehmung und Interpretation von historischen Ereignissen bewusst. Narrativität: • Die Schüler werden zur Diskussion über historische Handlungen angeregt. 189 Gruppe III: Erklärungen zu den Sorben Analysekompetenz: • • • • Die Schüler identifizieren die Positionen zweier nationalsozialistischer Politiker. Sie ordnen diese im Hinblick auf die Textgattung ein. Die Schüler unterscheiden und beurteilen die beiden Positionen, die in Sachsen und Brandenburg zu Beginn des Nationalsozialismus propagiert wurden. Sie bewerten die Positionen unter Berücksichtigung des historischen Verlaufs. Methodenkompetenz: • • • Die Schüler werden zur Analyse der Textgattung der politischen Rede befähigt. Sie erarbeiten gemeinsam eine differenzierte Interpretation. Es findet eine Beurteilung der Quellen im historischen Kontext statt. Deutungskompetenz: • • • • • Die Schüler eignen sich historisches Fachwissen selbständig an. Sie werden dazu angeleitet, die Intention der Erklärungen aufzudecken und zu beurteilen. Die Schüler rekonstruieren die Wirkung der Reden auf die sorbischen Adressaten. Die Schüler erkennen die Standortgebundenheit unterschiedlicher politischer Akteure und Gruppen in der Gegenüberstellung der Reden. Den Schülern gelingt es, politische Argumente, ökonomische Interessen und ideologische Motive in der Argumentation abzuwägen. Urteils- und Orientierungskompetenz: • • • Es gelingt den Schülern, die eigenen ethischen und moralischen Auffassungen in Abgrenzung zu den historischen Quellen deutlich zu machen. Die Schüler werden zur Reflexion angeleitet. Sie beurteilen die Bedeutung der politischen Aussagen im historischen Kontext und für die Lebenswelt der Sorben. Narrativität: • 190 Die Schüler treten in Diskussion über historische Handlungen und deren Folgen. Gruppe IV: Das Verbot der Domowina Analysekompetenz: • • • Die Schüler erörtern Erklärungen von Handlungsmöglichkeiten aus einer historischen Quelle. Sie deuten die geschichtliche Darstellung in Form einer Geheimakte auf ihre Absichten und Strategien. Sie bewerten die Handlungsmöglichkeiten der Domowina unter Berücksichtigung des historischen Verlaufs. Methodenkompetenz: • • Die Schüler analysieren zwei organisationsinterne Protokolle auf ihre Aussagen über den Umgang mit Oppositionellen unter der NS-Regierung. Es findet eine Beurteilung der Quellen im historischen Kontext statt. Deutungskompetenz: • • Die Schüler eignen sich historisches Fachwissen selbständig an. Sie werden dazu angeleitet, die Intention der politischen Akteure zu rekonstruieren und zu beurteilen. Urteils- und Orientierungskompetenz: • • • Es gelingt den Schülern, die eigenen ethischen und moralischen Auffassungen in Abgrenzung zu den in den historischen Quellen erarbeiteten Motiven zu erkennen. Die Schüler werden zur Reflexion angeleitet, um zu einem vernunftgeleiteten Werturteil zu gelangen. Sie beurteilen die Bedeutung der politischen Aussagen im historischen Kontext und für die Lebenswelt der Sorben. Narrativität: • • Die Schüler treten in Diskussion über historische Handlungen und deren Folgen für das Sorbische Volk. Sie reflektieren die Handlungsmöglichkeiten sorbischer Akteure in der NSZeit. 191 Zusammenführung der Teilaufgaben Analysekompetenz: • • • • Die Schüler analysieren und beurteilen Geschichtsdeutungen historischer Personen. Sie wägen die Handlungsmöglichkeiten der sorbischen Presse im Jahr 1937 ab. Sie können Strategien und Absichten eines Regimes rekonstruieren und beurteilen. Die Schüler lernen, sich auf wichtige Aussagen und Aspekte zu konzentrieren. Methodenkompetenz: • • • • • Über die Methode „Gruppenpuzzle“ werden soziale Kompetenzen der Schüler maßgeblich erprobt. Die Schüler entwickeln gemeinsam die Fähigkeit zur Analyse, Interpretation und Beurteilung der historischen Situation. Sie werden befähigt, Handlungskonzepte im historischen Rahmen aufzudecken und selbständig eine Fragestellung an die Vergangenheit zu entwickeln. Sie werden geschult, ihre eigene Fragestellung quellenorientiert zu beantworten, sowie sachgemäß zu präsentieren. Die Schüler werden zu eigenständigem, kritischem, reflektiertem und dialogischem Denken angeregt, indem sie sich zum einen in andere Positionen hineindenken und zum anderen bestimmte Methoden verwenden, um zu einem begründeten Urteil zu kommen, das nach Möglichkeit einen Konflikt auflöst. Deutungskompetenz: • • • Die Schüler rekonstruieren historisches Fachwissen, das es gemeinsam zu strukturieren gilt. Sie werden befähigt, unterschiedliche Geschichtsdeutungen und Ereignisse im Zusammenhang zu betrachten und zu beurteilen. Es gelingt ihnen, die Handlungsmöglichkeiten der Sorben in der NS-Zeit abzuwägen und Handlungsoptionen zu konstruieren. Urteils- und Orientierungskompetenz: • • • 192 Die Schüler rekonstruieren Wert- und Urteilsvorstellungen der historischen Persönlichkeiten im Rahmen der historischen Ereignisse. Sie setzen diese in Kontrast zu den eigenen, um einen kritischen Umgang mit der historischen Situation zu erlangen. Die Schüler müssen selbständig eine begründete Entscheidung treffen, was eine ausgiebige Beschäftigung mit den Vor- und Nachteilen anderer Lösungs- • • strategien voraussetzt. Durch diese gemeinsame Auseinandersetzung werden die Schüler befähigt, sich nachhaltig Problemlösungsstrategien anzueignen. Die Schüler erkennen die Standortgebundenheit des sorbischen Volkes im historischen Kontext und können diese begründen (z. B. nationale, ethnische und kulturelle Herkunft, politische Position). Die Schüler werden befähigt, kompetent an gegenwärtigen öffentlichen Diskussionen über Minderheitenpolitik teilzunehmen. Narrativität: • In analytisch-kritischer Reflexion gelingt es den Schülern, historische Ereignisse in einer sinnbildenden Darstellung in Form eines Zeitungsartikels zu erarbeiten. 1.2 Sachinformationen 1.2.1 Historischer Hintergrund: Nationalsozialistische Politik gegenüber den Sorben Im Rahmen der nationalen Bewegungen im ausgehenden 19. Jahrhundert gelangt auch das sorbische Volk zu einem neuen Selbstbewusstsein, das durch die intensive Pflege der sorbischen Kultur seine Identität festigt. Sich kulturell dem Slawischen nah fühlend, suchen Intellektuelle intensiven Austausch mit den slawischen Nachbarstaaten. Trotz der unterschiedlichen Sprachstämme der Ober- und der Niederlausitz gelingt es mit der Gründung der Domowina 1912, das sorbische Vereinsleben unter einem Dachverband zu vereinen, der die kulturellen, nationalen und politischen Belange der Sorben vertritt. In den Schulen wird Sorbischunterricht angeboten, Ortsschilder werden zweisprachig bedruckt und viele sorbischsprachige Publikationen erscheinen. 1920 wird von staatlicher Seite die „Wendenabteilung“ eingerichtet, um das „Deutschtum“ in den sorbischen Gebieten zu stärken und gegen sorbische Nationalbestrebungen vorzugehen.188 Mit dem Einsetzen des Nationalsozialismus tritt die neue Regierung dem sorbischen Volk in der Lausitz zunächst mit unterschiedlichen Strategien entgegen. Zum einen soll die sorbische Kultur als Teil der deutschen Kultur verstanden werden. Auf dem Spreewälder Heimatfest in Burg im Juni 1933 verkündet Oberpräsident Kube in seiner Festrede: „Sie brauchen sich nicht zu ändern, denn das haben Sie schon Jahrhunderte lang getan! Auch unser Führer Adolf Hitler, der nach seinem Amtsantritt Ihre kleine Trachtengruppe begrüßte, kennt Sie nicht nur, sondern trägt Sie auch 188 Das wendische Nationalbewusstsein wird als „hochverräterisch“ und „reichsfeindlich“ bezeichnet. Vgl. Kasper, Martin: Geschichte der Sorben. Von 1917 bis 1945, Bd. 3, Bautzen 1976, S. 44. 193 im Herzen und wird immer für Sie sorgen.“189 Es werden anthropologische Studien in Auftrag gegeben, die beweisen sollen, dass die Sorben keinesfalls slawischer sondern eindeutig deutscher Abstammung sind. Es findet eine Neuinterpretation der als sorbisches Volk verstandenen Gemeinschaft statt, hin zu dem Begriff von „wendisch-sprechenden Deutschen“190. Die Volksgemeinschaft soll für die neuen Machthaber gewonnen, jedoch allmählich aus der Öffentlichkeit gedrängt werden. Im April 1933 wird der „Verein zur Pflege des Spreewälder Volkstums“ gegründet. Es wird unter anwachsendem Druck versucht, sorbische Vereine in nationalsozialistische Organisationen einzugliedern. Die Tageszeitung Serbske Nowiny wird am 11. April 1933 acht Tage wegen staatskritischer Artikel verboten und der Chefredakteur Marko Smoler seiner Stelle enthoben. Viele sorbische Kulturblätter, Zeitschriften und Zeitungen, u. a. die Serbski Casnik müssen das Erscheinen einstellen, was deutliche Unsicherheit und Besorgnis in den sorbischen Vereinen und Organisationen hervorruft. Die zweisprachigen Ortsnamen werden nur noch in deutscher Sprache geführt und der Begriff des „Sorbischen“ wird offiziell durch die weniger slawisch klingende Bezeichnung „wendisch“ ersetzt. Damit wird eine deutlich antislawische Germanisierungspolitik im eigenen Land eingeleitet, die schließlich über die deutschen Grenzen hinausreichen soll. Andererseits wird das sorbische Kulturleben eingeschränkt, indem Intellektuelle wie die Schriftstellerin Mina Witkojc191 mit Berufsverbot belegt, sorbisch-national orientierte Presseorgane wie die sorbische Zeitung Serbski Casnik am Erscheinen gehindert und die niedersorbische Wissenschaftsgesellschaft „Masica Serbska“ zum Beitritt in den „Verband für deutsche Kultur“ gedrängt werden. Sorbische Lehrer, Pfarrer und andere Personen des öffentlichen Lebens werden zwangsversetzt oder aus der Lausitz verbannt und durch Anhänger des Nationalsozialismus ausgetauscht. Das Sorbische wird in Schulen und Behörden als minderwertig propagiert, um die sorbische Identität und den Zusammenhalt des sorbischen Volkes zu schwächen. Zeitweise gibt es Protest aus dem Ausland, der den Nationalsozialisten das Vorgehen gegen die sorbische Bevölkerung erschwert. Nach jahrelangen Bemühungen, auch die Domowina in den „Bund Deutscher Osten“192 (BDO) einzugliedern beziehungsweise durch einen nationalsozialistischen 189 Ebd., S. 138. Die Begriffe „Sorben“ und „Wenden“ bezeichnen dieselbe Volksgruppe. Die Nationalsozialisten verwenden seit 1934 öffentlich nur noch den Begriff „Wenden“, da dieser weniger auf einen slawischen Ursprung schließen lässt. 191 Mina Witkojc erhielt 1933 ein Berufverbot, nachdem sie als Chefredakteurin des Serbski Casnik (eingestellt 1933) zurücktreten musste. Mina Witkojc stand fortan unter polizeilicher Beobachtung. 1941 wurde ihr der Aufenthalt im Regierungsbezirk Dresden-Bautzen gänzlich verboten. Darüber hinaus wurde sie zeitweise inhaftiert. 192 Der „Bund Deutscher Osten“ war ein nationalsozialistischer Dachverband, in den u. a. die sorbischen Vereine eingegliedert und so unter nationalsozialistische Kontrolle gebracht werden sollten. 190 194 Satzungsentwurf, der die Domowina als „Bund zur Pflege der Heimat und des wendischen Brauchtums“193 bezeichnet, der „Wendenabteilung“ gleichzuschalten, wird die Organisation verboten und das Wendische Haus, in dem neben der Domowina auch die „Masica Serbska“, die Smoler’sche Druckerei und der Verlag untergebracht sind, am 25. August 1937 besetzt und das Vermögen sowie die entsprechenden Kulturgüter beschlagnahmt. Die letzte große sorbische Tageszeitung Serbske Nowiny muss daraufhin ihr Erscheinen einstellen. Nach Auswertung der beschlagnahmten Dokumente folgen eine Verhaftungs- und Ausweisungswelle aus der Lausitz und eine Verstärkung der Grenzkontrollen. Zunächst versuchen Mitglieder der Domowina, durch die Gründung neuer Vereine, z. B des „Vereins heimattreuer Wenden“, weiterhin aktiv die sorbische Kultur zu pflegen. Immer wieder erscheinen illegale Flugblätter und sorbische Zeitungen. Mit der fortschreitenden wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Militarisierung in Deutschland wird der Druck gegenüber als regierungsfeindlich verstandenen Gruppen massiv erhöht. 1940 wird mit der Veröffentlichung der Schrift Heinrich Himmlers „Einige Gedanken über die Behandlung der Fremdvölkischen im Osten“ u. a. das sorbische Volk als „minderwertiges“ „führerloses Arbeitsvolk zur Verfügung“ gestellt. Im April 1945 kommt es zu schweren militärischen Auseinandersetzungen zwischen den SS-Einheiten und Einheiten der 1. Ukrainischen Front der Roten Armee und der 2. Armee des polnischen Heeres in der Lausitz.194 Mit der Befreiung sorbischer Dörfer formiert sich umgehend eine Gruppe sorbischer Intellektueller, die mit der Reorganisation der Domowina beginnt, um wieder für die kulturellen, gesellschaftlichen und politischen Rechte der Sorben einzutreten. 1.2.2 Die sorbische Zeitung Serbske Nowiny Die 1842 in Bautzen gegründete obersorbische Zeitung Serbske Nowiny erscheint seit 1921 als Tageszeitung. Im Rahmen der sorbischen nationalen Bewegung tritt die Zeitung für die Belange des sorbischen Volkes ein und macht sich für demokratische Rechte und Freiheiten stark. Ständig wird auf öffentliche Missstände gegenüber der sorbischen Bevölkerung hingewiesen. Nachdem beispielsweise sorbische Gutsbesitzer aus Dürrwicknitz, Höflein und Tschaschwitz Informationen und Argumente für antisorbische Artikel an faschistische Journalisten weitergeleitet hatten, veröffentlicht die Serbske Nowiny am 30. Januar 1931 die Namen dieser Gutsbesitzer und bezeichnet ihre Zusammenarbeit mit den Faschisten als „eine Schande für das ganze sorbische Volk“ 195. 193 Förster, Frank: Die „Wendenfrage“ in der deutschen Ostforschung 1933–1945, Bautzen 2007, S. 82. 194 Vgl. Gros, Jurij u. a.: Domowina. Ein geschichtlicher Abriß, Bautzen 1972, S. 36. 195 Kasper, Martin: Geschichte, a.a.O., S. 107. 195 Mit dem Beginn des Nationalsozialismus gerät das Presseorgan unter staatlichen Druck. Entgegen der nationalsozialistischen Propaganda, die das Wendische als deutsches regionales Brauchtum versteht, zeigt die Zeitung Verbundenheit zu anderen slawischen Völkern. So eröffnet sie am 31. Januar 1933 mit einem Artikel über Polen eine Kolumne über slawische Völker im Osten. Darin heißt es, dass „fast ausschließlich Hetze, Verleumdungen, Schmähungen und Verachtung“ über das Nachbarvolk von Seiten der faschistischen Presse verbreitet würden und daher „sich einmal objektiv mit der Geschichte des polnischen Volkes zu befassen“196 sei. Am 11. April 1933 wird die Serbske Nowiny acht Tage lang verboten und Marko Smoler als Chefredakteur seines Postens enthoben. Zeitgleich müssen viele andere Blätter das Erscheinen einstellen. Unter staatlicher Beobachtung darf die redaktionelle Arbeit der Serbske Nowiny wieder aufgenommen werden. Mit dem Verbot der Domowina und der Besetzung des Wendischen Hauses jedoch muss auch das Erscheinen der Serbske Nowiny am Dienstag, den 24. August 1937, mit der letzten Ausgabe, Nr.196, Jahrgang 96, eingestellt werden.197 Die Tageszeitung belieferte bis zu diesem Datum trotz massivem Druck auf die Bevölkerung und Hetzkampagnen in der faschistischen Presse noch ca. 1700 Abonnenten. Erst mit der neuen Anerkennung der Domowina am 17. April 1945 kann auch die Redaktion der Serbske Nowiny wiedereröffnet werden. 1.3 Aufgaben und Materialien; didaktisch-methodische Arrangements Szenario: Redaktionssitzung 1937 Es ist der 23. August 1937 und die Journalisten der Serbske Nowiny, der letzten sorbischen Tageszeitung, kommen zu einer wahrscheinlich letzten Sitzung zusammen. Die Domowina, der Dachverband aller sorbischen (wendischen) Vereine, soll durch die Nationalsozialisten geschlossen werden. Es droht damit auch die Auflösung der letzten zur Verfügung stehenden Druckerei. Nun soll ein Artikel erscheinen, der die politischen Entwicklungen gegenüber Sorben (Wenden) thematisiert. Gruppe I: Mina Witkojc Mina Witkojc wurde gebeten, sich an der voraussichtlich letzten Ausgabe der Serbske Nowiny zu beteiligen. 196 197 Kasper, Martin: Geschichte, a.a.O., S. 126. Vgl. ebd., S. 175. 196 A1 Lest euch zunächst den Lebenslauf von Mina Witkojc durch und stellt Vermutungen über ihre Haltung gegenüber dem sorbischen Volk an. A2 Beschreibt das Foto der Journalistin. A3 Beurteilt, was das Bild über ihr Verhältnis zur sorbischen Kultur aussagt. A4 Lest nun die Gedichte von Mina Witkojc. A5 Diskutiert unter Berücksichtigung der zusammengetragenen Informationen, welchem Rat ihr euch als Mina Witkojc an eure Leser wenden würdet. Sollten diese: a) sich den Nationalsozialisten anpassen? b) ins Ausland fliehen? c) gegen die Nationalsozialisten vorgehen? Notiert euren Rat und begründet diesen in Stichpunkten. AT Lebenslauf von Mina Witkojc Mina Witkojc, 1893 in Burg im Spreewald geboren und 1975 in Papitz in der Niederlausitz gestorben, erlangte Bekanntheit als sorbische Schriftstellerin. Aus ärmlichen Verhältnissen stammend, arbeitet sie nach dem Besuch der Volksschule u. a. als Dienstmädchen, Blumenbinderin und in einer Fabrik. 1921 kommt sie mit tschechischen und obersorbischen Intellektuellen zusammen, die sie für ihre eigene sorbische Nationalität sensibilisieren und ermutigen, politische Gedichte zu schreiben. Sie lernt, in der wendischen Sprache zu lesen und zu schreiben und ist zudem bald in der Lage, Gedichte und Theaterstücke aus dem Obersorbischen ins Niedersorbische zu übersetzen. 1923 wird sie Redaktionsleiterin bei der Serbski Casnik, der sorbischen Zeitung. Durch sie wird die Serbski Casnik zu einer sozial-demokratischpazifistisch orientierten Wochenzeitung, die eine immer größere Leserschaft gewinnen kann. 1924 übernimmt Mina Witkojc auch die Herausgabe des sorbischen Buchkalenders Pratyja, organisiert wendische Abende und entwirft Trachtenmuster. 1926 nimmt sie am Europäischen Minderheitenkongress und 1930 am „Sokol“-Treffen198 in Jugoslawien teil, um für die Kultur und die Rechte des sorbischen Volkes einzutreten. 1931 muss sie die Redaktionsleitung abgeben und sich 1932 einem Verfahren wegen „deutschfeindlicher Politik“ stellen. 1933 wird sie von den neuen Machthabern mit Berufsverbot belegt und muss als Tagelöhnerin ihren Unterhalt verdienen. Im selben Jahr verkündet die Serbski Casnik offiziell ihren Bankrott nachdem die Tageszeitung Serbske Nowiny für acht Tage von den Nationalsozialisten verboten worden war. Bis 1937 veröffentlicht die Dichterin unter einem Pseudonym Beiträge in 198 „Sokol“ ist eine Bewegung, die sich insbesondere für die Pflege slawischer Kultur einsetzt und das Zusammenkommen von Slawen verschiedener Nationalitäten fördert. 197 obersorbischen Zeitungen. Allerdings steht die Schriftstellerin während des Nationalsozialismus unter ständiger Beobachtung und wird strafrechtlich wegen der Unterstützung von durch die NS-Diktatur Verfolgten belangt und zeitweise inhaftiert, bevor sie aus dem Gebiet der Lausitz ausgewiesen wird. B Die Schriftstellerin Mina Witkojc [Aus: Kunze, Peter: Die Sorben/ Wenden in der Niederlausitz. Ein geschichtlicher Überblick, Bautzen 1996, S. 59] Q1 „Rat“ (1937) [Inhalt aufgrund unklarer Rechteverhältnisse entfernt. Referenz: Witkojc, Mina: Echo aus dem Spreewald. Gedichte, aus dem Niedersorbischen von Elke Nagel, Bautzen 2001, S. 102] Q2 „Sei nicht traurig, Herz!“ (1935) [Inhalt aufgrund unklarer Rechteverhältnisse entfernt. Referenz: ebd., S. 114 f.] Q3 „Sehnsucht“ (1934) [Inhalt aufgrund unklarer Rechteverhältnisse entfernt. Referenz: ebd., S. 120] Gruppe II: Jurij Brězan Jurij Brězan will das Erscheinen der wahrscheinlich letzten Ausgabe der Serbske Nowiny unterstützen. Arbeitet dazu das in den 90er Jahren geführte Interview auf, um einen Eindruck von seinen Erfahrungen mit dem Nationalsozialismus zu gewinnen. A1 198 Lest zunächst das Interview. Tragt zusammen, welche Bedeutung die sorbische Sprache für Brězan in der NS-Zeit hatte. A2 Listet in Stichpunkten auf, wie die Nationalsozialisten gegen den Gebrauch der sorbischen Sprache vorgegangen sind. A3 Beurteilt, warum die Serbske Nowiny in sorbischer Sprache erscheint. A4 Von nationalsozialistischer Seite wurde mehrfach gefordert, sorbische Organisationen an nationalsozialistische Gruppen anzuschließen. Versetzt euch in die Lage von Jurij Brězan. Diskutiert, ob ihr den Lesern der Serbske Nowiny raten würdet, in nationalsozialistische Vereine einzutreten. Berücksichtigt dabei, wer die Leserschaft ist und welche Konsequenzen das jeweilige Handeln für sie als Sorben haben kann. Notiert euch euren Rat und begründet ihn in Stichpunkten. AT Kurzinformation zu Jurij Brezan Jurij Brězan, 1916 in Räckelwitz geboren und 2006 in Kamenz gestorben, wurde während des Nationalsozialismus strafrechtlich wegen illegaler Tätigkeiten verfolgt und zeitweise inhaftiert. Der sorbische Widerstandskämpfer wurde mit einem Arbeitsverbot für die Lausitz belegt. Ab 1941 musste er in der Wehrmacht dienen und geriet 1944 in amerikanische Kriegsgefangenschaft. Bekanntheit erlangte Brězan als sorbischer Schriftsteller. Das in Auszügen vorliegende Interview wurde in der Zeitschrift Lětopis abgedruckt. Q Interview mit Jurij Brězan „I: Herr Brězan, hat die sorbische Sprache als kulturelles Merkmal für Sie eine wichtige Bedeutung? Ist die Muttersprache das wichtigste Merkmal Ihrer sorbischen Identität? B: Das wichtigste möglicherweise; aber vielleicht doch das Bewusstsein, dass ein so kleines Volk wie das unsere in all den Jahrhunderten der Unterdrückung nichts aufgegeben hat von seiner Sprache, sondern dass es uns gelungen ist, sie auf einem Niveau zu entwickeln, das dem allgemeinen Niveau einer mitteleuropäischen Sprache entspricht; das ist kulturelle Leistung. Das Bewusstsein, in all diesen Jahrhunderten sich nicht aufgegeben zu haben, das scheint mir der tiefste Teil unserer Identität zu sein. Das ist vielen zwar nicht bewusst, aber es trifft wohl in hohem Maße für die weitaus meisten Menschen zu. […] Ich fing 1933 an, ein Tagebuch zu führen, ein ganz privates, intimes sozusagen. Es hing zusammen mit meiner ersten großen Liebe, die dann elf Jahre lang gedauert hat. Das Tagebuch wurde deutsch geschrieben, obwohl das Mädchen ein sorbisches war und ich mit ihr sorbisch sprach. I: Das finde ich interessant. 199 B: Ab 1936 wird das Buch sorbisch geführt, als Protest, als Widerstand gegen das Abzusehende. Ich habe sehr früh angefangen, Geschichten zu erzählen, und die habe ich sorbisch erzählt. Als ich versuchte, sie aufzuschreiben, hab' ich sie deutsch schreiben wollen, denn alle Literatur, die ich kannte und die mich irgendwie bewegte, war deutsch geschrieben. Nicht, dass ich die eigene Sprache nicht schätzte, aber Literatur und Deutsch gehörten zusammen. Ich war von vornherein mehr der Prosa, der Erzählung zugewandt und habe sehr wenig Gedichte geschrieben. Für jenes Mädchen hab' ich die ersten Gedichte in Deutsch geschrieben. Die ersten sorbischen Gedichte habe ich 1937 geschrieben. I: Auch als Widerstand? B: Auch als Widerstand. Das war dann schon offene politische Lyrik. Allerdings ist es bei diesen wenigen Sachen geblieben. Während des ganzen Kriegs habe ich an einem [deutschen] Sonettenzyklus gearbeitet; mit keinem Gedanken an eine Veröffentlichung, sondern um mich aus der grausamen Alltäglichkeit eines deutschen Soldaten in einen anderen deutschen Raum zu begeben. Es ging nicht um die Sprache, es ging um geistige Hygiene. Durch den ganzen Krieg hindurch habe ich immer wieder versucht, einen Roman zu schreiben. Die Versuche sind in Deutsch geschrieben, der Roman aber spielt hier, wäre also durchaus ein sorbischer gewesen. I: Kann es nicht sein, dass es im Krieg unerwünscht war, wenn man sorbische Aufzeichnungen bei Ihnen gefunden hätte? B: Ja, natürlich war es auch das. Aber ob in erster Linie, glaube ich nicht. Die Sprache ist ein Mittel der Kommunikation. Ich kann heute beim Schreiben wie im Sprechen in einem Augenblick von einer Sprache nahtlos in die andere springen. […] I: Ich habe noch ein Problem: Wenn das Deutsche, wie im Nationalsozialismus, derartig dominant und ausschließlich wird, gibt es dann nicht ganz intensive Interferenzen mit dem Sorbischen? B: Ich glaube, die größte Auswirkung hat das nicht auf die Sprache gehabt. Sicherlich auf die Umgangssprache. Der Grund liegt anderswo. Es bedeutete: Slawisch gleich weniger wert, also soll man es möglichst nicht sprechen und sich nicht als Sorbe zu erkennen geben. Sie haben vielleicht das Ortseingangsschild hier gesehen, es steht die alte sorbische Bezeichnung Horni Hajnk drauf. Da es für jede deutsche Zunge aussprechbar ist, ist es – auf meine Anregung hin – amtlich so benannt worden. 1990 kam einer der Anwohner zu mir und sagte: „Würden Sie das unterstützen, wenn der Ort wieder in Dreihäuser umbenannt würde?“ Ich fragte, warum und bekam die Antwort: „Na ja, wenn Horni Hajnk im Ausweis steht, sieht doch jeder, dass wir sorbisch sind.“ […] I: Dieses sehr verunsicherte und geringe Nationalbewusstsein. 200 B: Als Mensch zweiter Klasse zu erscheinen, nicht vollwertig zu sein, das ist, was zum Sprachverfall am meisten beigetragen hat. Ich glaube, weit mehr als die offene Unterdrückung der Sprache. I: Ich sehe es auch so. Und es hat wahrscheinlich eine Kontinuität, die perfide ist. Sie sagten, es hat sich auch im Alltagssorbisch ausgedrückt. In welcher Hinsicht würden Sie das sagen? B: Nun, die Presse war nicht mehr da, einen Rundfunk gab es nicht, und jetzt tauchten neue Begriffe für neue Verhältnisse auf, die niemand mehr fachlich auf Sorbisch benannte. Also wurden sie aus dem Deutschen übernommen. Und dann noch etwas ganz Wesentliches: Der Sorbischunterricht wurde gänzlich abgeschafft, in der Kirche durfte nicht mehr gepredigt werden. Ich erlebte einmal einen sorbischen Gottesdienst, wo der Kantor einen sorbischen Choral anstimmte. Die Leute begannen zu singen, und der Priester drehte sich am Altar um, die Hände ausgestreckt und rot vor Zorn: ‚In meiner Kirche wird deutsch gesungen.‘ I: Meinen Sie Lucius Teichmann? In Crostwitz war er Pfarrer, nicht wahr? Seine Beschreibungen sind für mein Gefühl etwas mokant und etwas sehr distanziert gegenüber dem sorbischen Volk. Er ist ja auch '45 in Richtung Dresden und 1961 in den Westen gegangen. Sie kennen das Buch sicherlich? B: Nein. Diese Leute, die hierher geschickt wurden, hatten ja einen klar definierten Auftrag. Die Kirche war eine feste Burg, unser Gott für das sorbische Volk. Und diese Burg aufzubrechen, das war der genaue Auftrag. Und den haben sie im Allgemeinen also befolgt. Eine Zeitlang hat es noch die Möglichkeit gegeben, in Rosenthal am Ende des Gottesdienstes einen sorbischen Choral zu singen. Kennen Sie das Buch „Die Wenden“ von O. E. Schmidt? I: Aus den 20er Jahren. B: Ja, ich habe damals einen Jahresbericht über das Thema geschrieben, eine kritische Durchsicht des Buchs. Und das habe ich dann später in meiner Gestapo-Akte wieder als Beweis meiner Deutschfeindlichkeit gesehen. Das ist vielleicht das Sonderbarste an dem ganzen Verhältnis, dass entweder der deutsche Staat oder die deutsche Gesellschaft oder auch der einzelne unsere normale Liebe zur eigenen Sprache, zum eigenen Volk immer als im Gegensatz zum deutschen Volk, zur deutschen Sprache stehend sieht. […] I: Ja gut, ich nehme Ihnen das so ab, wie Sie es sagen. Aber noch mal zurück zu der eigentlichen Fragestellung: Wie hat sich denn das Zurückstellen der sorbischen Sprache, die Diskriminierung des Sorbischen und damit die Identitätsprobleme auf die folgende Generation ausgewirkt? 201 B: Indem die Diskriminierung die Sprache im täglichen Gebrauch zurückdrängte. Das war eine Zeit der Stagnation, und damit ist immer ein Verlust verbunden. In dieser Zeit entstand keine Literatur, keine anderen publizistischen Arbeiten. […] I: Vielen Dank, Herr Brězan.“ [Bott-Bodenhausen, Karin: „Sprachverfolgung in der NS-Zeit. Sorbische Zeitzeugen berichten“, in: Lětopis, Bd. 44, Sonderheft, Bautzen 1997, S. 45–53] Gruppe III: Erklärungen zu den Sorben Ihnen, den sorbischen (wendischen) Journalisten der Serbske Nowiny, liegen Erklärungen von Felix Eichler und Wilhelm Kube aus dem brandenburgischen Teil des sorbischen Siedlungsgebiets und die Erklärung von Johannes Sievert aus dem sächsischen Gebietsteil in Auszügen vor, die es für den Leitartikel auszuwerten gilt. Teilt euch in zwei Gruppen auf. Die erste Teilgruppe liest die Erklärungen von Felix Eichler und Wilhelm Kube, die andere die Erklärung von Johannes Sievert. Jeweils in der Teilgruppe: Beschreibt euch gegenseitig, welches Bild die Verfasser von Sorben (Wenden) haben. Beurteilt, ob ihr euch als Sorbe durch die Erklärungen ermutigt seht, als „sorbischer Deutscher“ oder „deutscher Sorbe“ zu fühlen und begründet eure Entscheidung. In der ganzen Gruppe: Lest jeweils die Erklärung, die ihr noch nicht gelesen habt. Beschreibt euch gegenseitig, wie die Erklärungen auf euch gewirkt haben und vergleicht anschließend eure Ergebnisse. Analysiert, welches Interesse der nationalsozialistische Staat hatte, die Sorben zu integrieren, und haltet eure Ergebnisse in Stichpunkten fest. Die Domowina, Dachverband aller sorbischen Vereine und die größte sorbische Tageszeitung Serbske Nowiny sollen 1937 aufgelöst werden. Diskutiert gemeinsam, ob ihr euch nach der Analyse der Texte und unter Berücksichtigung der anstehenden Schließungen als Sorbe durch die Regierung integriert oder eher ausgegrenzt fühlen würdet. Fertigt für die bevorstehende Redaktionssitzung Notizen an, in denen ihr euer Ergebnis und die Begründungen stichpunktartig festhaltet. Q1 Erklärung von Felix Eichler Anlässlich des „großen Spreewälder Heimatfestes“ in Burg am 25. Juni 1933 äußert sich Felix Eichler, der kommissarische Regierungspräsident von Frankfurt/Oder zu 202 den Wenden in der Lausitz. Seine Rede wird am folgenden Tag, dem 26. Juni 1933, im Cottbuser Anzeiger Nr. 146 im Beilageheft abgedruckt. „Soll doch gerade diese Veranstaltung klar zum Ausdruck bringen, dass das Wendentum der Niederlausitz als unerlässlicher Bestandteil des deutschen Volkes sich mit ihm eins fühlt. Über ein Jahrtausend alte Schicksalsgemeinschaft hat hier engste Vermischung des Blutes germanischer Vorfahren mit dem Stamme der SorbenWenden herbeigeführt. [...] An nationaler Gesinnung hat sich das Wendentum und im Besonderen der Spreewälder von keinem anderen Deutschen übertreffen lassen. [...] Trotz aller seit Jahrzehnten gestiegenen Nöte hält die Bevölkerung des Spreewaldes in unerschütterlicher Treue zu Heimat, Volk und Vaterland. [...] Leider ist dieses enge Zusammengehörigkeitsgefühl zwischen dem wendischen Volksteil der Niederlausitz und dem deutschen Mutterstaate in sehr unnötiger Weise von außen her belastet worden, ohne dass es allerdings irgendwie ernstlich hätte getrübt werden können. Von polnischer wie von tschechischer Seite hat es nicht an lebhaften Bemühungen gefehlt, die deutsch-wendische Bevölkerung ihrem deutschen Vaterlande zu entfremden. [...] Wir sind dieser und anderer bis in die letzte Zeit fortgesetzten Einmischung in die wendisch-deutsche Schicksalsgemeinschaft überdrüssig und müssen uns dagegen immer wieder energisch verwahren. [...] Hieraus ergibt sich für die deutschwendische Schicksalsgemeinschaft nur eine Folgerung, die da lautet: Treue gegen Treue! Es soll uns gerade im neuen völkischen deutschen Staat höchste Aufgabe sein, völkische Eigenarten unserer einzelnen Volksteile zu achten und zu pflegen. Das gilt in erster Hinsicht für Sprache, Sitte und Tracht als Ausdruck der besonderen Wesenheit völkischen Werdens. Freilich setzt das voraus, dass nach Erhaltung solcher Kulturgüter Sehnsucht bei den Beteiligten selbst besteht und nicht künstlich aufrecht erhalten wird. [...] Im Geiste der neuen Volksverbundenheit des Nationalsozialismus werden wir auch die Aufgaben lösen, die uns in der Pflege und Erhaltung wendischen Kulturgutes erwachsen. Das Ziel des völkischen Aufbaues ist die gesunde Eingliederung aller in der Verbindung von Blut und Boden mitschaffenden Kräfte unseres Volkes, ihre wirtschaftliche, kulturelle und geistige Förderung. Und das gilt in besonderem Maße auch für das Wendentum der Niederlausitz, für unsere leidgeprüfte, unserem Herzen so eng verbundene Spreewaldbevölkerung. Das urarische heilige Symbol des Hakenkreuzes soll das Zeichen unserer Treue sein, das Zeichen des Lichtes nach dunkler Nacht, unter dem wir kämpfen und siegen werden!“ [Förster, Frank: Die „Wendenfrage“ in der deutschen Ostforschung 1933–1945, Bautzen 2007, S. 70 f.] Q2 Erklärung von Wilhelm Kube Der Oberpräsident der Provinz Brandenburg und Gauleiter der Kurmark, Wilhelm Kube, schließt an dessen Worte an: 203 „Wenn ich, meine Parteigenossen, euer braunes Ehrenkleid unter den farbenfrohen Trachten des Spreewaldes sehe, so ist das wahre Volksgemeinschaft. [...] Denn wer in der Garde gedient hat, der hat mit den tschechischen Deserteuren des Weltkrieges nichts zu schaffen. Das Wendentum im Spreewald wird als ein von der nationalsozialistischen Regierung stets behüteter Edelstein bewahrt werden. Ihr dient in eurer Art der Heimat weit besser als irgendein wurzelloser Hurrapatriot. Bewahrt eure Bräuche, liebt eure Sprache, ehrt das gemeinsame Vaterland, dann werdet ihr stets in einer Einheitsfront mit dem Nationalsozialismus in unserem Vaterlande eure Pflicht tun! Gleichzuschalten braucht ihr euch nicht, denn das habt ihr seit Jahrhunderten schon getan.“ [Förster, Frank: Die „Wendenfrage“ in der deutschen Ostforschung 1933–1945, Bautzen 2007, S. 71.] Q3 Erklärung von Johannes Sievert Auszug aus der am 20. September 1933 abgegebenen Erklärung des Bautzener Amtshauptmanns Johannes Sievert (auch Leiter der geheimen Wendenabteilung199) stellvertretend für die Sächsische Regierung, die im Bautzener Tageblatt Nr. 221 am 21. September 1933 abgedruckt wurde: „[…] Dass gegen diese (Autonomie-) Bestrebungen (der Sorben) [...] im nationalsozialistischen Deutschland mit der gleichen Schärfe wie gegen alle anderen landesverräterischen Bestrebungen vorgegangen wird, ist selbstverständlich. […] Darum sei hier klar und deutlich ausgesprochen, dass – entgegen den zahlreichen Behauptungen der ausländischen Presse – das im Laufe der letzten Monate nötig gewesene Vorgehen gegen diese Einzelnen nichts mit der Einstellung der Regierung zur wendischen Bevölkerung in ihrer Gesamtheit zu tun hat oder haben wird, dass vielmehr genau so wie bisher auch in Zukunft jeder Wende auf allen Gebieten des politischen und kulturellen Lebens die gleichen Rechte wie jeder andere deutsche Staatsbürger genießen soll. Insbesondere soll auch künftighin den Wenden die Erhaltung und die Pflege ihrer volkstümlichen Eigenarten, Sitten, Trachten und Gebräuche unbenommen bleiben. In der Beschulung der Wendenkinder soll keinerlei Änderung eintreten. Niemand wird die Wenden in der Pflege und am Gebrauch der wendischen Sprache im täglichen Leben und bei kulturellen Veranstaltungen hindern noch in der Pflege der wendischen Literatur und der Herausgabe von wendischen Zeitungen und wendischen Büchern, soweit die allgemein geltenden Vorschriften beachtet werden. Niemand wird ihnen somit verwehren, das, was ihre Vorväter an Großem und Schönem auf kulturellem Gebiet geschaffen haben, in Ehren zu halten und weiter zu pflegen. Denn die Regierung weiß, dass nur ein Volksstamm, der seine Vergangenheit ehrt und 199 Die „Wendenabteilung“ wurde 1920 eingerichtet, um das „Deutschtum“ in den sorbischen Gebieten zu stärken und gegen sorbische Nationalbestrebungen vorzugehen. 204 sich zu seinem Volkstum bekennt, ein gesundes und starkes Glied am Körper des Volksganzen sein kann. […] Ebenso aber wie die Regierung allen berechtigten, in ihrem Volkstum begründeten Wünschen der Wenden vollstes Verständnis entgegenbringt und über ihnen schützend die Hand hält, muss sie auch erwarten und verlangen, dass nicht nur die wendische Bevölkerung in ihrer Gesamtheit, sondern auch die kleine Gruppe der Verführer und der Verführten sich ihrer Pflichten dem deutschen Vaterlande gegenüber wieder voll und ganz bewusst wird; denn nur auf diese Weise kann die wendische Bevölkerung sich selbst im Rahmen des großen deutschen Vaterlandes eine sichere Grundlage für eine glückliche und segensreiche Zukunft schaffen.“ [Förster, Frank: Die „Wendenfrage“ in der deutschen Ostforschung 1933–1945, Bautzen 2007, S. 72 f.] Gruppe IV: Das Verbot der Domowina Euch, den sorbischen Journalisten der Serbske Nowiny, liegen ein Auszug aus einem geheimen Sitzungsprotokoll der Sächsischen Staatskanzlei und eine interne Mitteilung der Domowina von Pawoł Nedo, dem Vorsitzenden der Domowina, vor. A1 Lest zunächst das Sitzungsprotokoll. Analysiert, warum die Domowina von den Nationalsozialisten als Gefahr angesehen wird. A2 Tragt gemeinsam zusammen, welche Möglichkeiten vorgeschlagen werden, gegen den Einfluss der Domowina auf die sorbische Bevölkerung vorzugehen. A3 Lest nun den Text zur Domowina und die Notiz Pawoł Nedos. Stellt Vermutungen darüber an, warum die Domowina nicht den nationalsozialistischen Satzungsentwurf angenommen hat. A4 Als sorbische Journalisten der Serbske Nowiny müsst ihr euch nun entscheiden, wie ihr auf die bevorstehende Schließung reagieren wollt. Einerseits könnt ihr als Zeitung einen nationalsozialistischen Kurs einschlagen, anderseits könnt ihr euch offiziell gegen die Maßnahmen gegenüber der Domowina stellen. Diskutiert, welche Position ihr in der Serbske Nowiny vertreten wollt unter Berücksichtigung der möglichen (persönlichen und gesellschaftlichen) Konsequenzen. A5 Notiert eure Stellungnahme und eure Begründung für die bevorstehende Redaktionssitzung. 205 Q1 Die Geheimakte „Entwurf Vertraulich! Niederschrift über die Besprechung der Wendenfragen am 7. April 1936, 11 Uhr vormittags in der Sächsischen Staatskanzlei, Dresden. Vorsitz: Min. Dir. Lahr Sächsische Staatskanzlei […] Min. Dir. Lahr begrüßte die Anwesenden und erteilte Prof. Oberländer, der um Herbeiführung der Aussprache gebeten habe, das Wort. Prof. Dr. Oberländer führte aus, dass […] nunmehr ein eindeutiger Weg beschritten und schnelle Arbeit geleistet werden müsse, wenn eine weitere Zunahme des politischen Wendentums unter der Propaganda der Domowina200 verhindert werden solle. Kreisleiter Reiter trat diesen Ausführungen bei […]. Die damalige Möglichkeit eines Anschlusses der Domowina an eine deutsche Organisation, für die seinerzeit der Reichsbund Volkstum und Heimat in Aussicht genommen worden sei, sei nicht ausgenutzt worden. Es sei der wendischen Führung gelungen, in geschickter Weise die Anschlussverhandlungen solange hinauszuziehen, bis der Plan infolge der veränderten Verhältnisse überhaupt hinfällig geworden sei. Inzwischen habe sich das politische Wendentum zu einer erneuten Gefahr entwickelt. […] So habe die Domowina mit Erfolg ihre politische Propaganda weiter treiben können. Er sei nicht der Auffassung, dass bei der Behandlung der Wendenfrage allzuviel Rücksicht auf das Ausland genommen zu werden brauche. Er sei sogar der Auffassung, dass […] das politische Wendentum immer dreister geworden sei und das Ausland mit tendenziösen Nachrichten versehe. Die wendische Presse zeige bedenkliche Auswüchse […]. In dieser Entwicklung der Dinge liege die große Gefahr, dass unter dem Einfluss eines immer mehr ausgebauten Führerstabes eines Tages nicht wie jetzt nur ein kleiner Teil, sondern der überwiegende Teil der wendischen Bevölkerung unter Einschluss der wendischen Jugend politische Wenden werden könnten. Dann aber würde die Wendenfrage nur noch mit großen Schwierigkeiten einer Lösung im deutschen Sinne zugeführt werden können. Er schlage daher vor, entweder die Domowina überhaupt zu verbieten, da sie nicht mehr ein kultureller Verein, sondern ein politischer Bund sei, oder aber die Domowina nunmehr dem BDO201 […] zu unterstellen. Min. Dir. Lahr […] Eine Auflösung der Domowina halte er zur Zeit nicht für erforderlich. Es sei richtig, dass es eine Anzahl fanatischer Wenden und durch diese auch 200 201 Die Domowina ist der Dachverband aller sorbischen (wendischen) Vereine. Der „Bund Deutscher Osten“ ist ein nationalsozialistischer Dachverband, in den u. a. die sorbischen Vereine eingegliedert und so unter nationalsozialistische Kontrolle gebracht werden sollen. 206 ein politisches Wendentum gebe. Die sich hieraus ergebende Gefahr dürfe indessen nicht übertrieben werden. Schließlich hätten die Wenden bei der Reichstagswahl am 29. März noch über dem Reichsdurchschnitt, also in überraschendem Ausmaße, ihre Stimme für die Liste abgegeben, ein Zeichen, dass sie zum mindesten hinter dem Führer stehen. […] Als Beispiel für eine wendenpolitische richtige Volkstumsarbeit weise er z. B. auf den Bericht der Serbske Nowiny vom 9. Oktober v. J. über die Abhaltung des Erntedankfestes in Crostwitz hin, der mit den Worten schließe: ,Es herrschte eine wirklich gute Volksgemeinschaft nach dem Wunsch unseres Führers.‘ […] Prof. Dr. Oberländer führte aus, dass die wendischstämmige Bevölkerung, soweit sie noch nicht assimiliert sei, aus Gründen ihrer besonderen Sprache sowie zum Teil auch aus Gründen des Bekenntnisses eine Zwischenschicht darstellte, die sich über kurz oder lang in Deutsche und in politische Nationalwenden aufspalten müsse. Es sei wichtig, durch Bekämpfung der Radikalinskis Vorsorge zu treffen, dass die Aufspaltung in einem für das Deutschtum möglichst günstigen Verhältnisse erfolge. Schon aus diesem Grunde sei eine Klarstellung der Frage notwendig, ob die Domowina wirklich loyal zum Deutschen Reich stehe oder ob sie eine deutschfeindliche Politik treibe. […] Landesstellenleiter Salzmann warf die Frage auf, ob die Serbske Nowiny vom Ausland finanziert werde. […] OReg. Rat Dr. Tietje warnte, auf die bloße Vermutung hin, dass mit ausländischen Geldern gearbeitet werde, gegen einzelne Wenden oder wendische Unternehmungen vorzugehen. […] Als Gegenmaßnahme gegen die wendische Volkstumsarbeit empfehle er, durch geeignete Presse- und mündliche Propaganda immer wieder darauf hinzuweisen, dass die Sitten und Bräuche, die die Wenden als ihr besonderes Kulturgut betrachten, wie z. B. die Osterbräuche des Eierschiebens und Osterreitens alte deutsche Bräuche seien. Weiterhin müsse, um den von der Domowina durchgeführten größeren öffentlichen Veranstaltungen, Trachtenschauen usw. den wendischen Charakter und somit ihre Propagandawirkung im wendischen Sinne zu nehmen, angestrebt werden, dass möglichst viele Deutsche als Zuschauer teilnähmen und die Wenden auf diese Weise in die Rolle der Schausteller zurückgedrängt würden. […] Bautzen, am 14. April 1936. gez. Rochlitz als Protokollführer.“ [Kasper, Martin/Šolta, Jan: Aus Geheimakten nazistischer Wendenpolitik, Bautzen 1960, Dokument Nr. 2, S. 33–45] 207 Q2 Verbot der Domowina „[…] Der Herr Amtshauptmann zu Bautzen eröffnete mir heute, den 18. März 1937 mündlich nachfolgendes: ‚Da sich die Domowina innerhalb der gestellten Frist nicht bereit erklärt hat, den ihr bereits im November 1936 vorgelegten Satzungsentwurf der Behörden anzunehmen, müssen in Zukunft alle öffentlichen und geschlossenen Veranstaltungen und Versammlungen der Domowina und aller ihr angeschlossenen Organisationen als gegen die Erhaltung der öffentlichen Ruhe, Sicherheit und Ordnung gerichtet angesehen und deshalb auf Grund allgemeiner Polizeibefugnis verboten und notfalls aufgelöst werden. Eine Bekanntmachung dieser Eröffnung in der wendischen Presse darf nicht erfolgen.‘ Meine Anfrage, ob dieser Bescheid der Domowina noch schriftlich zugestellt würde, wurde verneint, Bautzen, am 18. März 1937, gez., P. Nedo.“202 [Kunze, Peter: Kurze Geschichte der Sorben, 3. erw. Aufl., Bautzen 2001, S. 62] AT Die Domowina im Nationalsozialismus Die Domowina, der Dachverband aller sorbischen (wendischen) Vereine, wurde 1912 gegründet und gilt als Interessenvertretung der kulturellen, nationalen und politischen Belange der Sorben. Seit Dezember 1933 ist Pawoł Nedo (1908–1984) Vorsitzender der Domowina. Mit dem einsetzenden Nationalsozialismus gerät die Domowina unter staatlichen Druck. Die sorbischen Vereine sollen in nationalsozialistische Gruppen eingegliedert und eine neue Satzung der Domowina beschlossen werden. Diese wird 1934 abgelehnt und stattdessen betont die Domowina, „sich um alle Lebensfragen des sorbischen Volkes in der Ober- und Niederlausitz zu kümmern“.203 Auch wird hervorgehoben, dass entgegen der kulturellen Eingliederungsversuche und Erklärungen von Seiten der Regierung, die sorbische Kultur den Kulturen der slawischen Nachbarvölker nahe steht. Die neue Satzung wird von der Regierung allerdings nicht bestätigt. Stattdessen wird erwogen, die Domowina in „Bund wendisch-sprechender Deutscher“ umzubenennen. 1936 gibt die Domowina folgende Erklärung ab: „An verschiedenen Ereignissen der neusten Zeit erkennt das sorbische Volk, dass gegen seine berechtigten nationalen Interessen bestimmte deutsche Organisationen auftreten. […] Als berechtigte Vertreter des sorbischen Volks protestieren wir feierlich ge- 202 203 Als Abbildung bei Kasper, Martin: Geschichte a.a.O., Abb. 72. Gros, Jurij u. a.: Domowina. Ein geschichtlicher Abriß, Bautzen 1972, S. 28. 208 gen alle diese Angriffe und Absichten und lehnen sie entschieden ab.“204 Die Möglichkeiten öffentlicher Einflussnahme der Domowina werden stark eingeschränkt durch immer neue Regelungen und Vorschriften gegen Veranstaltungen, Versammlungen und Veröffentlichungen. Es wird nochmals gefordert, die nationalsozialistische Satzung unverzüglich und ohne Vorbehalte anzunehmen, die die Domowina als „Bund zur Pflege der Heimat und des wendischen Brauchtums“ bezeichnet. Diese wird am 7. März 1937 erneut auf der Hauptversammlung der Domowina abgelehnt. Ein letztes Ultimatum wird bis zum 15. März 1937 gestellt, auf das die Domowina wie folgt reagiert: „Wir lehnen […] diese Forderungen von uns ab, da die Erfüllung dieser Forderung eine Verantwortungslosigkeit sondergleichen dem sorbischen Volkstum gegenüber bedeuten würde.“205 Aufgrund kritischer Reaktionen im Ausland bleiben Massenverhaftungen zunächst aus. Jedoch wird der Vorsitzende Pawoł Nedo, der als Lehrer arbeitet, aus der Lausitz versetzt. Schließlich besetzt die Gestapo am 25. August 1937 das Wendische Haus in Bautzen, in dem unter anderen die Domowina und die Smoler’sche Druckerei untergebracht sind, und löst die Organisation unter Beschlagnahmung des Vermögens mit einem Betätigungsverbot auf. Die Redaktionssitzung Es werden neue Gruppen gebildet, die sich aus jeweils einem Journalisten aus jeder der vier Gruppen zusammensetzen. A1 Stellt in der neu zusammengesetzten Redaktion eure Ergebnisse und deren Begründungen nacheinander vor. A2 Bestimmt zwei Protokollanten, die den Diskussionsverlauf der folgenden Aufgaben in Stichpunkten festhalten. A3 Diskutiert, welche Position ihr in der Serbske Nowiny vertreten wollt, unter Berücksichtigung der in Kürze drohenden Einstellung der Serbske Nowiny durch die Nationalsozialisten. A4 Klärt nun gemeinsam, welche Informationen ihr an die Leserschaft weitergeben wollt. A5 Überlegt, wie der Artikel geschrieben sein soll. A6 Schreibt nun einen kurzen Artikel, der am nächsten Tag auf der Titelseite der womöglich letzten Ausgabe der Serbske Nowiny abgedruckt werden soll. 204 205 Ebd., S. 29. Kasper, Martin: Geschichte a.a.O., S. 168. 209 Q Zeitungskopf der Serbske Nowiny [Kasper, Martin/Šolta, Jan: Aus Geheimakten nazistischer Wendenpolitik, Bautzen 1960] 1.4 Inhaltlicher Überblick zu den Aufgaben Gruppe I Mina Witkojc wird als energische Repräsentantin des sorbischen Volkes dargestellt, die sich aktiv für die Vertretung der Interessen ihres Volkes im In- und Ausland einsetzt. Das Foto, das ein geplantes und damit selbstinszeniertes Bild von der Schriftstellerin ist, zeigt sie in einer Tracht, die auf die Kulturverbundenheit der Journalistin schließen lässt. Das Gedicht „Rat“ (1937) legt dem Leser ans Herz, sich möglichst unauffällig in der Öffentlichkeit zu verhalten. In dem Auszug von „Sei nicht traurig, Herz!“ (1935) rät sie dem Leser, sich, allen Konsequenzen zum Trotz, treu zu bleiben, was deutlich ein Hinweis auf das Weitertragen der sorbischen Kultur trotz politischen Drucks zu sein scheint. Im letzten Gedicht „Sehnsucht“ (1934) träumt die Dichterin von einem besseren Ort zum Leben, den sie leider nicht aufsuchen kann. Gruppe II Jurij Brězan hat ab 1936 sein Tagebuch aus Protest auf Sorbisch geschrieben und ab 1937 auch einzelne Gedichte auf Sorbisch verfasst. Das diente zur Stärkung der sorbischen Identität und dem Erhalt der Sprache und der Kultur in einer Zeit, in der das Sorbische aus dem Lausitzer Alltag verdrängt werden sollte. Die Nationalsozialisten propagierten, dass Sorben Menschen zweiter Klasse wären, was bei vielen den Verzicht auf das öffentliche sorbische Leben zu Folge hatte, um nicht als Sorbe identifiziert werden zu können. Sorbisch wurde nur noch heimlich oder gar nicht gesprochen, um sich vor Diskriminierung zu schützen. Die Nationalsozialisten schritten gegen die sorbische Presse ein, schafften den Sorbischunterricht ab und erließen ein Verbot, auf Sorbisch zu predigen. 210 Die Nationalsozialisten gingen gegen alles „Fremde“, das „nicht arisch“ war, vor und bekämpften so auch das sorbische Volk, das sich auf seine slawische Herkunft berief. Zudem ging von der sorbischen Sprache die Gefahr einer unkontrollierbaren Verbindung aus, die zum Widerstand genutzt werden könnte. Durch Vernichtung der Sprache wurde versucht, die sorbische Identität aufzulösen und eine Vernichtung des sorbischen Volkes durchzuführen. Die Zeitung Serbske Nowiny, die in Sorbisch publiziert wurde, erreichte eine bestimmte Leserschaft, die evtl. auch politisch mobilisiert werden könnte. Die Abonnenten der Serbske Nowiny müssen um 1937 Sorben sein, die bewusst eine sorbische Zeitung beziehen, auch entgegen der Einschüchterungsversuche von staatlicher Seite und somit bereit sind, für ihre sorbische Identität und das sorbische Volk einzutreten. Gruppe III Eichler/Kube: Die Sorben seien unerlässlicher Bestandteil des deutschen Volkes. Das Blut habe sich bereits vermischt und es bestehe eine „Schicksalsgemeinschaft“. Die Bevölkerung des Spreewaldes sei besonders heimatverbunden. Sie würden Treue gegenüber dem deutschen Staat zeigen. Sorben (Wenden) seien tief verwurzelte Patrioten. Das „Wendentum [sei ein] behüteter Edelstein“ und müsste nicht „gleichgeschaltet“ werden, da es dies angeblich „seit Jahrhunderten“ bereits getan hätte. Polen und Tschechen würden die Sorben Deutschland „entfremden“ wollen, aber die Sorben würden sich dagegen wehren. Die Nachbarstaaten würden bezwecken, die Lausitz Deutschland zu entreißen und so für Unruhe im deutschen Staat sorgen. Die Sorben erhalten damit militärische Bedeutsamkeit, weil ihnen die Aufgabe zufällt, die Grenzen zu sichern. Die Artikel legen eine (vordergründig) positive Einstellung gegenüber den Sorben an den Tag. Sie bezeichnen die Volksgruppe als sehr patriotisch und erklären, dass die Sorben zum deutschen Volk gehören und sogar „deutscher“ seien als andere Deutsche. Die Kultur der Sorben wird als regionale Tradition gewertet und damit das kulturelle Spannungsverhältnis ausgeblendet. Die Reden sollen suggerieren, dass die Sorben eindeutig Deutsche sind und zum deutschen Volk wie alle anderen gehören. Solange sich die Sorben assimilieren lassen, müssen keine Schritte gegen sie eingeleitet werden. In den ersten Texten geht es um die Betonung des Patriotismus der Sorben und die Eingliederung in das deutsche Volk. 211 Sievert: Die Sorben seien ein traditionsbewusster Volksstamm. Der Autor steht skeptisch den Sorben (Wenden) gegenüber. Es wird deutlich, dass er sie nicht als „richtig“ deutsch anerkennt und ihnen nicht traut (z. B.: „[...] die gleichen Rechte wie jeder andere deutschen Staatsbürger; [...] soweit die allgemein geltenden Vorschriften beachtet werden [...]“). Der Text ist in einem distanzierten Ton verfasst und enthält viele Floskeln (z. B.: „Niemand wird die Wenden [...] hindern“) Es gäbe Gruppen, die die Wenden verführen wollten und sich gegen Deutschland auflehnten. Daher würde die ausländische Presse gegen Deutschland wegen der eingeschlagenen Minderheitenpolitik hetzen. Tatsächlich müssten die Sorben aber assimiliert werden, um das deutsche Gebiet zu verteidigen. Die Rede wirkt distanziert und hegt Zweifel an der Verbundenheit der Sorben mit Deutschland. Die Erklärung schürt Zweifel und Misstrauen gegenüber den Sorben. Dennoch wird suggeriert, dass die Sorben ihre Kultur frei ausleben könnten und nicht durch den deutschen Staat gehindert würden, wobei Sievert immer wieder unter Vorbehalt diese Rechte anführt. Diese Rede konzentriert sich darauf, zu betonen, welche Rechte die Sorben haben, um eine (angebliche) Offenheit der Regierung gegenüber der Minderheit darzustellen, obwohl diese dem deutschen Volk eher fremd sei. Gruppe IV In dem geheimen Sitzungsprotokoll wird die Domowina verdächtigt, der ausländischen Presse hetzerisches Material zuzuspielen und ein Anlaufpunkt für oppositionelle Sorben zu sein. Zum einen wird vorgeschlagen, nichts gegen die Domowina direkt zu unternehmen, sondern die Bevölkerung durch stärkeren Druck zu assimilieren. Zum anderen wird in Betracht gezogen, die Domowina aufzulösen. Die Domowina lässt sich allerdings nicht in nationalsozialistische Organisationen eingliedern, weil sie damit ihren Anspruch, die Belange des sorbischen Volkes zu vertreten, aufgeben müsste. 212 2 BAUSTEIN II – „1945 – WAS WIRD AUS UNS?“ 2.1 Didaktisch-methodische Überlegungen 2.1.1 Zur Bedeutung des Themas 2.1.1.1 Exemplarische Bedeutung Die Situation Deutschlands nach dem 8. Mai 1945 ist in der Geschichte eine wesentliche Zäsur. Vielfach wurde diese Zäsur aus verschiedenen Perspektiven aufgenommen und betrachtet. In diesem Aufgabenkomplex sollen die Schüler einen Einblick erhalten, wie es der sorbischen Bevölkerung in Deutschland nach 1945 erging und welche Vorstellungen und Hoffnungen sie mit der Besetzung Deutschlands in Bezug auf ihre Kultur verknüpften. Die Schüler lernen in diesem Zusammenhang anhand von Zeitzeugnissen bekannte sorbische Vertreter, wie Pawoł Nedo, den Vorstandsvorsitzenden der Domowina, sowie den Schriftsteller Jurij Brězan kennen und erfahren aus diesen Quellen die unterschiedlichen Argumente, die sie zur Überlegung bezüglich einer Angliederung an die Tschechoslowakei bewogen oder die sie gegen eine evtl. Angliederung nutzten. Mit Hilfe dieser Argumentationen sollen sich die Schüler ein Bild über die damalige Lage der Sorben in der Lausitz verschaffen und mit der unmittelbaren Vergangenheit des Nationalsozialismus sowie den damit verbundenen Repressionen gegenüber der sorbischen Bevölkerung auseinandersetzen. Darüber hinaus erhalten die Schüler einen Einblick in die sorbische Kultur und Sprache wie auch einen Überblick über das politische Vertretungsorgan (Domowina) und deren politisches Agieren in der SBZ. Die zentralen, problematischen und programmatischen Begriffe wie „Germanisierung“, „Assimilierung“ und „Tschechisierung“ werden dabei aufgegriffen und kritisch in Bezug gesetzt und sollen den Schülern einen Eindruck vermitteln, wie eine Minderheit versucht, ihre kulturelle Identität in Zeiten des Umbruchs und Aufbaus zu sichern. Sie hinterfragen die jeweiligen konträren Positionen und Motive und erkennen, dass es innerhalb einer Volksgruppe, die weitestgehend gleich unter dem nationalsozialistischen System zu leiden hatte, ganz unterschiedliche Haltungen gegenüber Deutschland, ihrem Heimatland, gab. 2.1.1.2 Gegenwartsbedeutung Die Vermittlung sorbischer Kultur und Geschichte findet im Curriculum der nichtsorbischen Schulen eine nur sehr minimale bis gar keine Berücksichtigung. Jedoch ist das sorbische Kulturgut trotz mangelnder Kenntnisse über die Sorben in ganz Deutschland weit verbreitet. Um neben dem allgemein bekannten sorbischen Brauchtum wie Osterreiten, Maibaumaufstellen, Osterfeuer und Bemalen der Ostereier ein differenziertes Geschichtsbild aus der Perspektive einer in Deutschland le213 benden Minderheit zu entwickeln, bietet die Behandlung der Sorben und deren Situation nach 1945 die Möglichkeit, diese besser kennen zu lernen und als einen Teil der deutschen Geschichte zu entdecken. Mittels der Befürworter und deren Argumente, die Lausitz an die Tschechoslowakei anzugliedern, kann das bis heute schwierige Vertrauensverhältnis der Nachbarländer beziehungsweise anderer Länder gegenüber Deutschland und seiner Vergangenheit erörtert und mit politisch historischen Ereignissen, wie zum Beispiel die Wiederbewaffnung der BRD und DDR in den fünfziger Jahren oder dem aktuellen Bundeswehreinsatz in Afghanistan und dessen globaler Bedeutung für Deutschland problematisiert und weitergeführt werden. 2.1.1.3 Zukunftsbedeutung Die Schüler sollen für die sorbische Geschichte und für ihre historische sowie für ihre heutige Situation in Deutschland sensibilisiert werden. Anhand der Ereignisse und der Forderungen sorbischer Vertreter unmittelbar nach 1945 sollen sie evaluieren, inwieweit die sorbische Bevölkerung ihr kulturelles Erbe als Minderheit bis heute bewahren und verteidigen konnte. Die Schüler werden mit Hilfe der Geschichte der Sorben erkennen, dass es innerhalb Deutschlands andere Kulturen gibt, die versuchen, ihre Sprache und Kultur trotz anhaltender Schwierigkeiten aufrecht zu erhalten. Sie machen sich bewusst, dass sich hinter dem stereotypen Brauchtum, welches sie unbewusst übernommen haben, eine rechtlich geschützte Minderheit in Deutschland verbirgt, die in der Zukunft weiterhin bemüht sein muss, um ihr Dasein zu kämpfen. Das heißt, sie entwickeln ein Verständnis dafür, dass das Sorbische ohne eine gezielte Förderung nicht weiter bestehen kann. In diesem Zusammenhang entwickeln die Schüler ein Bewusstsein dafür, dass auch mit ihrer Hilfe und mit ihrer Bereitschaft, sich mit dem Sorbischen als einem Teil ihrer deutschen Geschichte auseinanderzusetzen, das Sorbische nicht in Vergessenheit gerät. Vor allem über den Bereich der Lausitz hinaus könnten die Schüler Handlungsmöglichkeiten finden, das Sorbische für sich und ihre Umwelt zu entdecken und einer eventuellen Ignorierung oder gar Diskriminierung mit ihrem Interesse an Geschichte und Kultur entgegenzuwirken. 2.1.2 2.1.2.1 Das Potential zur Entwicklung des historischen Denkens Zugänglichkeit Das Interview mit Jurij Brězan ermöglicht einen direkten Zugang zu dessen Geschichtsdeutung, die es zu rekonstruieren und für eine weitere Darstellung kritisch auszuwerten gilt. Der Brief der Domowina macht die nationalen und politischen Interessen der Organisation deutlich, die angibt, das ganze sorbische Volk zu vertreten. In Gegenüberstellung zu Brězans Interview wird die Monopolstellung der Domowina als Sprachrohr für das sorbische Volk erschüttert und kann durch die Schüler dekonstruiert werden. Die beiden Standpunkte werden dann aus sowjetischer Sicht im 214 Themenkomplex A beurteilt, was die Multiperspektivität fördert. Durch die Rolle des Lausitzers gelingt es den Schülern, sich mit Hilfe des Themenkomplexes B emotional der historischen Situation zu nähern und im historischen Rahmen zu orientieren. 2.1.2.2 Darstellbarkeit Die narrative Kompetenz wird durch die schriftlichen Darstellungen explizit geschult. Im Themenkomplex A sollen die Schüler sich in Georgi Shukow, Marschall der Sowjetunion, hineinversetzen und sachgemäß einen Brief an Josef Stalin, den Generalsekretär des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (KPdSU) verfassen. Dabei muss das historische Sachwissen mit der Handlungsintention eines sowjetischen Marschalls in Einklang gebracht werden, um unter Berücksichtigung der historischen Dilemmasituation, in der sich das sorbische Volk und auch die Lausitzer überhaupt befinden, ein sinngemäßes Anliegen zu formulieren. Der Brief eines Lausitzers im Themenkomplex B fordert von den Schülern ebenfalls strukturiertes Vorgehen und sachliche Argumentation im Rahmen des historischen Kontextes. Neben der Orientierungskompetenz werden die Schüler in ihrer Urteilskompetenz geschult, indem sie sich in einen deutschen, nichtsorbischen Bewohner der Lausitz hineinversetzen sollen, der erwarten muss, möglicherweise bald der Tschechoslowakei anzugehören. Über die in Kontrast zueinander gebrachten Forderungen werden die Schüler angeregt, über die Rechte einer Minderheit in einer Gesellschaft nachzudenken und kritisch ihre tatsächlichen Einflussmöglichkeiten zu hinterfragen und die ethischen Mindestanforderungen an die politische Rolle in einem demokratischen Staat zu beurteilen. 2.1.2.3 Methodische Strukturierung Einstieg Mit dem Ende des Zweiten Weltkrieges im April 1945 beginnt der Dachverband der sorbischen Vereine damit, seine Aufgabe als Vertretung der kulturellen, gesellschaftlichen, rechtlichen und vor allem politischen Interessen des sorbischen Volkes wieder aufzunehmen. Die unten aufgeführten Themenkomplexe sollen den Schülern helfen, sich in einem historischen Zeitabschnitt zu orientieren, in dem noch alles in der Schwebe ist. Diese Unterrichtssequenz knüpft an das im Rahmenlehrplan verankerte Themenfeld zum Nationalsozialismus an und soll exemplarisch verdeutlichen, wie politische Akteure mit der „Stunde Null“ um eine neue demokratische Gesetzgebung, Konsolidierung der politischen Struktur und Durchsetzung der eigenen Interessen ringen. 215 Verlauf Das historische Denken der Schüler wird bei den Aufgabenkomplexen zur Angliederung der Lausitz an die Tschechoslowakei durch die Förderung von Multiperspektivität erreicht. Mit der Übernahme der Rolle einer handelnden Person in der Geschichte und der Geschichtsdarstellung einer authentischen historischen Person gelingen eine Identifikation mit dem historischen Konflikt und eine Orientierung im zeitlichen Kontext. Beide Themen präsentieren eine Dilemmasituation, der es sich zu nähern gilt. Die Handlungsmöglichkeiten der historischen Personen müssen diskutiert werden, bevor eine Handlungsentscheidung getroffen werden kann, die es argumentativ zu untermauern gilt. Dabei erkennen die Schüler, dass das Handeln historischer Akteure auch immer situations- und ortsgebunden ist, z. B. durch nationale, ethische oder kulturelle Herkunft, aber auch durch die individuelle und damit verknüpfte politische Position. Die Themenkomplexe sind auf den Meinungsaustausch und die Diskussion zwischen den Schülern angelegt, weshalb es sich empfiehlt, die Aufgaben in Gruppen mit vier bis fünf Schülern bearbeiten zu lassen. Themenkomplex A, „Der Brief des Marschalls“, versetzt die Schüler in die Rolle des Mittlers, der die gegensätzlichen Interessen zweier sorbischer Vertreter im Hinblick auf die eigene sowjetische Politik berücksichtigen muss. Dieser Aufgabe liegen der Brief an den Marschall (Q 1) und das Interview mit Jurij Brězan (Q 2) zugrunde. Die Schüler erkennen bei dieser Aufgabe, dass es nicht das sorbische Volk gibt. Exemplarisch wird anhand der beiden Vertreter der sorbischen Bevölkerung deutlich, dass unterschiedliche Wahrnehmungen und Vorstellungen in jeder Gruppierung auftreten können, ohne die Zugehörigkeit zu einer Gruppe infrage zu stellen. Der Themenkomplex B, „Der Leserbrief eines Lausitzers“, beschäftigt sich hingegen mit einem regionalen Interessenkonflikt, zwischen der politischen sorbischen Vertretung und der nichtsorbischen Bevölkerung. Hier ist der Brief an den Marschall (Q 1) als Quelle ausreichend. Der übergeordnete Aspekt, „Die Begegnung mit dem Fremden im Geschichtsunterricht“, wird durch die Aufarbeitung der Inter-essen sorbischer, deutscher und sowjetischer Akteure deutlich, indem die verschiedenen Handlungsintentionen gegenübergestellt werden. Beide Aufgaben können parallel in der Klasse bearbeitet werden. Allerdings ist der Themenkomplex A in der Aufarbeitung umfangreicher als Themenkomplex B und kann an besonders zügig vorangehende Schüler ausgeteilt werden. Zu beiden Themenbereichen können Autorentexte und eine Karte zum besseren Verständnis den Schülern zur Verfügung gestellt werden. Allerdings sollte in der Oberstufe erwartet werden, dass sich die Schüler selbst um nötige Zusatzinformationen bemühen und diese über Recherchearbeit in Bibliotheken und dem Internet erlangen.206 Beide Auf206 Vgl. Klafki, Wolfgang: Neue Studien zur Bildungstheorie und Didaktik. Zeitgemäße Allgemeinbildung und kritisch-konstruktive Didaktik, 3. Aufl., Weinheim/Basel 1993, S. 147. 216 gabenkomplexe umfassen die für das Abitur festgelegten Anforderungsbereiche (I) Reproduktion, (II) Reorganisation und Transfer und (III) Reflexion und Problemlösung. Daher können sie auch einzeln im Unterricht aufgenommen werden. Beide Themenkomplexe sind darüber hinaus dazu geeignet, fächerübergreifend aufgearbeitet zu werden. So kann im Erdkundeunterricht die Region der Lausitz mit der Grenze zu Polen und der Tschechoslowakei um 1945 neben den unterschiedlichen Interessen der Bevölkerungen thematisiert werden. Im Politik- und Ethik- oder LERUnterricht ist es sinnvoll, Minderheitenpolitik in Deutschland näher zu betrachten und die Einfluss- und Handlungsmöglichkeiten von Minderheiten zu diskutieren. Auch sind weiterführende Fragen, welche Gruppen als Minderheit gelten und wie ein Interessenausgleich gewahrt wird, lohnend zu erörtern. Auswertung Die Schüler stellen ihre Arbeiten unter der gemeinsamen Überschrift „1945 – Was wird aus uns?“ vor. Es ist empfehlenswert, dass die zuhörenden Schüler Notizen anfertigen, um die Ergebnisse zu sichern. Nach Möglichkeit sollen jeweils nicht mehr als sieben Stichpunkte festgehalten werden, aus denen die Schüler in Gruppen- oder Partnerarbeit anschließend drei Thesen formulieren. Die unterschiedlichen Lösungsansätze und Argumentationsketten bieten Anlass zu weiteren Diskussionen im Plenum und regen die Schüler an, mehr über die Belange des sorbischen Volkes, aber auch von Minderheiten in Deutschland erfahren zu wollen. Besonders interessant ist dabei der Blick auf die Minderheitenpolitik in der DDR und die Verlängerung in die Gegenwart mit der Frage nach der sorbischen Volksgruppe heute. Letzteres könnte als Projekt geplant werden. 2.1.2.4 Kompetenzerwerb Themenkomplex A: Der Brief des Marschalls Analysekompetenz: • • • Die Schüler erproben exemplarisch die Fähigkeit, Positionen historischer Personen herauszuarbeiten und zu beurteilen. Die Fähigkeit zur sachgerechten Aufarbeitung eines politischen Briefes und eines Interviews wird geschult. Unterschiedliche Argumentationsstrukturen werden aufgedeckt und zur zielgerichteten Problemlösung gegenübergestellt. 217 Methodenkompetenz: • • • Die Schüler üben die Analyse von Textquellen. Sie werden zu Beurteilung und Vergleich der Intentionen verschiedener Akteure angeleitet. Die Schüler lernen, das Erarbeitete in einem neuen Kontext zielorientiert umzusetzen und sachgemäß zu präsentieren. Deutungskompetenz: • • • • • Die verschiedenen Positionen der Personen müssen die Schüler in den historischen Kontext einordnen. Die Schüler deuten den Interessenkonflikt nach 1945 und rekonstruieren diesen. Mit dem angeleiteten Perspektivwechsel zur Person Georgi Shukows setzen sich die Schüler mit den Handlungsmöglichkeiten und Interessen der sowjetischen Vertreter in der Lausitz auseinander. Durch die Form eines Briefes werden die Schüler dazu veranlasst, die erschlossene historische Situation sinnvoll darzustellen. Die Schüler erkennen die Standortgebundenheit des sorbischen Volkes und können diese argumentativ aufschlüsseln (z. B. nationale, ethnische und kulturelle Herkunft, soziale Lage, politische Position). Urteils- und Orientierungskompetenz: • • • • Mit der Rollenübernahme gelingt den Schülern ein Perspektivwechsel, der ihnen auch im Alltagsleben beim Hinterfragen von Handlungsintentionen helfen kann. Den Schülern wird die Standortgebundenheit des sorbischen Volkes an die Lausitz in Bezug auf den politischen Diskurs bewusst und sie können diese begründen. Die Schüler erkennen den Zusammenhang von historischer Handlungen und den gegenwärtigen Auswirkungen. Sie können so kompetent an öffentlichen Diskursen zur Minderheitenpolitik teilnehmen. Narrativität: • 218 Die Schüler üben die sinnvolle und kritische Darstellung historischer Positionen in einem fiktiven Brief unter Berücksichtigung der Handlungsmöglichkeiten einer Person im historischen Kontext. Sie werden dabei gefordert, die möglichen Konsequenzen für die Zukunft einzubeziehen. Themenkomplex B: Der Leserbrief eines Lausitzers Analysekompetenz: • • • Über die Textform eines formellen Briefes erproben die Schüler ihre Fähigkeiten zur Analyse an einem möglicherweise neuen Medium. Die Schüler arbeiten die Argumente historischer Personen zu einer spezifischen Fragestellung heraus. Sie wägen die Argumente ab und beurteilen sie in Bezug auf einen bestimmten Sachverhalt. Methodenkompetenz: • • • Die Schüler erproben die Analyse einer speziellen Textquelle und können so die gelernte Vorgehensweise auf ein evtl. neues Medium sinnvoll übertragen. Sie erarbeiten eine Gegenposition, die das Transferieren des Gelernten und somit Multiperspektivität fordert. Das Gelesene muss in einem neuen Kontext zielorientiert umgesetzt und sachgemäß präsentiert werden. Deutungskompetenz: • • Die unterschiedlichen Interessen müssen durch die Schüler in den historischen Kontext eingeordnet werden. Die Schüler sollen den Interessenkonflikt nach 1945 rekonstruieren. Urteils- und Orientierungskompetenz: • Die Schüler werden befähigt, den Zusammenhang zwischen historischen Handlungen und gegenwärtigen Auswirkungen zu erkennen. Narrativität: • Die Schüler sollen eine sinnvolle und kritische Darstellung historischer Haltungen in einem fiktiven Brief unter Berücksichtigung möglicher Konsequenzen der entsprechenden Handlungsoptionen für die Zukunft und unter Reflexion historischer Ereignisse anfertigen. 219 2.2 Sachinformationen Nur wenige Tage nach der Kapitulation Deutschlands beginnen sorbische Intellektuelle mit der Reorganisation der Domowina in Crostwitz und erwirken, dass die sowjetischen Militärbehörden am 17. April 1945 eine vorläufige Betätigungserlaubnis ausstellen.207 Pawoł Nedo nimmt, nachdem er aus der Haft als politischer Gefangener der Nationalsozialisten entlassen wurde, erneut den Vorsitz ein. Die Domowina wendet sich in ihren Veröffentlichungen gegen Faschismus und Krieg und für Demokratie und Frieden, wobei sie für das sorbische Volk das Recht auf Entfaltung der sorbischen Kultur, vollständige Gleichberechtigung der sorbischen Sprache in Schulen und im öffentlichen Leben, Anteil von Sorben an den demokratischen Verwaltungsorganen und eine Klärung der Nationalitätenfrage anstrebt.208 Nach interner Abstimmung, in der auch deutliche Gegenstimmen laut werden, setzt sich die Domowina im Juni dafür ein, die Lausitz an die Tschechoslowakei anzugliedern. Entgegen diesen Forderungen stellt die KPD der Ortsgruppe Bautzen am 30. Juli 1945 der Domowina in Aussicht, in allen Fragen des öffentlichen und kulturellen Lebens zusammenzuarbeiten.209 Einige Sorben setzten sich für den Panslawismus, eine im 19. Jahrhundert entstandene Bestrebung, die den Zusammenschluss aller slawischen Völker fordert, ein, worunter viele als ersten Schritt den Anschluss an die Tschechoslowakei fordern. Andere wollen sich aktiv am Aufbau eines demokratischen Deutschlands beteiligen, das die Rechte seiner Minderheiten respektiert und das sorbische Volk fördert. Auch der Schriftsteller Jurij Brězan fürchtet, durch eine Eingliederung in andere slawische Völker die eigene sorbische Kultur und Identität einzubüßen und setzt sich gegen diese Forderungen ein.210 2.3 Aufgaben und Materialien, didaktisch-methodische Arrangements 2.3.1 Aufgaben und Materialien Hauptziel ist es, ein Empfehlungsschreiben hinsichtlich einer möglichen Angliederung der Lausitz an die ČSSR an Josef Stalin zu verfassen. In diesem Schreiben sollt ihr in Abwägung aller erarbeiteten Positionen eine Empfehlung formulieren. 207 Vgl. Gros, Jurij u. a.: Domowina. Ein geschichtlicher Abriß, Bautzen 1972, S. 83. Vgl. ebd., S. 36. 209 Vgl. ebd., S. 83. 210 Bott-Bodenhausen, Karin: „Sprachverfolgung in der NS-Zeit. Sorbische Zeitzeugen berichten“, in: Lětopis, Bd. 44, Sonderheft, Bautzen 1997, S. 45–53, hier S. 50 f. 208 220 A1 Beschreibt, welche Position die Domowina und welche Position Jurij Brězan gegenüber der Eingliederung des sorbischen Volkes in die Tschechoslowakei vertreten. A2 Arbeitet dazu die Argumente heraus, die die Domowina und Brězan anführen, und stellt diese in einer Tabelle in Stichpunkten gegenüber. A3 Stellt euch vor, ihr seid Georgi Shukow, Marschall der Sowjetunion. Euch liegt das Schreiben der Domowina vor und euch ist die Position des Schriftstellers Jurij Brězan bekannt. a) Diskutiert gemeinsam, was mit dem sorbischen Volk geschehen soll, wobei es das Ziel ist, einen sozialistischen „deutschen“ Staat auf dem Territorium der sowjetischen Zone zu gründen. b) Sichert die Diskussionsbeiträge, indem ihr zwei Protokollanten festlegt. A4 Verfasst unter Berücksichtigung der gehörten und festgeschriebenen Argumente ein Empfehlungsschreiben an Josef Stalin, den Generalsekretär des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (KPdSU). A5 Präsentation: Stellt eure Arbeiten unter der gemeinsamen Überschrift „1945 – Was wird aus uns?“ vor. Q1 Schreiben der Domowina an Marschall G. Shukow vom 2. Juni 1945 „[…] Herr Marschall! Die Domowina, als die einzige Vertreterin des sorbischen Volkes, erlaubt sich hierdurch, Ihnen nachfolgendes vorzutragen: Das sorbische Volk gehört zu der Gruppe der westslawischen Völker und bewohnt seit über 1500 Jahren das Gebiet zwischen Bautzen und Cottbus, in Sonderheit die Kreise Bautzen, Löbau, Kamenz, Hoyerswerda, Rothenburg, Spremberg und Cottbus. Es umfasst jetzt noch ungefähr 250.000 Menschen, die sich bis zum heutigen Tage trotz des jahrhundertelangen Druckes, trotz immerwährender Unterdrückung durch die Deutschen und trotz eines bisher nicht gekannten Ausrottungsterrors durch den Faschismus ihre Sprache, ihre Kultur und das Bewusstsein der brüderlichen Verbundenheit mit allen übrigen slawischen Völkern bewahrt haben. Das sorbische Volk hat besonders während der Zeit der faschistischen Herrschaft schwere Opfer bringen müssen. Der Faschismus leugnete den slawischen Charakter des sorbischen Volkes, in dem er einen gefährlichen Vorposten des gesamten Slawentums sah, er verbot die sorbische Sprache, vernichtete im Laufe der letzten Jah221 re das gesamte kulturelle Leben, raubte den mühsam aus gemeinsamen Opfern aufgebauten Besitz des Volkes, vertrieb die Intelligenz aus der Lausitz und machte jedes sorbische Volksleben durch schärfsten Gestapo-Terror unmöglich. Die Führer des Volkes aber wurden erst durch die siegreiche Rote Armee aus den GestapoKerkern befreit. Führende Kreise des Faschismus kündigten in zynischer Offenheit für die Zeit nach dem Siege des Faschismus die restlose und radikalste Ausrottung des gesamten Volkstums durch Feuer und Schwert bis in das letzte Glied und bis zum letzten noch stehenden Haus an. Auf Grund dieser Einstellung wurde das Gebiet der Lausitz auch von der deutschen Wehrmacht in brutalster und rücksichtlosester Weise gehalten. Die Bevölkerung, deren Sympathien zu den russischen und polnischen Truppen bekannt waren, wurden in weiten Gebieten zwangsweise deportiert, das Land selbst in allen lebenswichtigen Zweigen zerstört. Das sorbische Volk hat infolgedessen in den letzten Monaten zu allem Leiden der letzten Jahre noch schwersten Schaden durch den Krieg erlitten. Besonders aber hat die Landwirtschaft gelitten, vier Fünftel des Pferdebestandes, drei Viertel des Rindviehbestandes und neun Zehntel des Schweinebestandes sind verloren, so dass die Landwirtschaft, die für die Lausitz in der Hauptsache die Existenzgrundlage bildet, völlig darniederliegt. Dazu kommen umfangreiche Kriegsschäden an Haus und Hof und den öffentlichen Einrichtungen bis in das kleinste Dorf hinein. Das sorbische Volk sieht in der siegreichen Roten Armee den Befreier aus einer tödlichen Gefahr für seine völkische Existenz. Das sorbische Volk wendet sich nunmehr in vollstem Vertrauen an Sie, Herr Marschall, ihm nun nach der Befreiung vom Faschismus auch die Grundlagen für eine neue völkische Existenz und für eine gesunde Weiterentwicklung des völkischen und wirtschaftlichen Lebens zu geben und dadurch den letzten Rest des polabischen211 Slawentums vor dem Untergang zu bewahren. In Sonderheit richten sich die Wünsche und Bitten des sorbischen Volkes auf folgende Punkte: 1.) Das Sorbentum ist nach Sprache, Volkstum, Kultur und Tradition am innigsten mit dem tschechischen Volke verbunden. Das sorbische Volk bittet daher um Eingliederung der Historischen Lausitz nach dem Gebietsstande des Jahres 1815 in das tschechoslowakische Staatsgebiet und damit um Wiederherstellung einer Regelung, die bis zum Jahre 1635 bestanden hat. Die Domowina hat sich mit einer entsprechenden Bitte bereits an den Marschall der Sowjetunion, Herrn Stalin, und an den Präsidenten der tschechoslowakischen Republik, Herrn Benesch, gewandt. 2.) Das Sprachgebiet der Lausitzer Sorben gehörte bisher verwaltungsmäßig zu drei verschiedenen Provinzen innerhalb des deutschen Reiches, zu Sachsen, Schlesien und Brandenburg. Dadurch war eine gleichmäßige Behandlung sorbischer Kulturfra211 Polaben = früherer westslawischer Stamm. 222 gen völlig unmöglich. Das sorbische Volk erneuert deshalb heute die bereits mehrfach dargelegte Bitte, die gesamte Lausitz in einem Verwaltungsbezirk zu vereinigen. Das sorbische Volk hat auf Grund seiner langen Erfahrungen jedes Vertrauen auf eine gerechte Behandlung seiner völkischen Belange durch die Deutschen verloren. Abgesehen von ganz vereinzelten Ausnahmen hat die deutsche Verwaltung eine systematische Ausrottungspolitik getrieben. Das sorbische Volk bittet daher, alle für das sorbische Volkstum wichtigen Stellen der Verwaltung mit Angehörigen des eigenen Volkstums zu besetzen und damit eine wirkliche völkische Gleichberechtigung zu schaffen. Das sorbische Volk bittet um Wiedergutmachung der durch den Faschismus angerichteten Schäden. Die Söhne des sorbischen Volkes mussten in Erfüllung ihrer staatsbürgerlichen Pflicht gegenüber dem Deutschen Reiche in der Deutschen Wehrmacht dienen. Viele von ihnen sind in Gefangenschaft geraten. Die Heimat hat von Zeit zu Zeit mit tiefer Ergriffenheit die Stimmen im Moskauer Rundfunk vernommen und bittet nun, diesen Gefangenen baldmöglichst die Freiheit wiederzugeben, damit sie für den Neuaufbau des völkischen Lebens eingesetzt werden können. Das sorbische Volk legt Ihnen, Herr Marschall, diese für sein Weiterbestehen wichtigsten Wünsche vor im vollen Vertrauen auf Verständnis und die große Hoffnung auf baldige Erfüllung. Domowina Zwjazk Luziskich Serbow [gez.] podp. P. Nedo“ [Schurmann, Peter: Die sorbische Bewegung 1945–1948 zwischen Selbstbehauptung und Anerkennung, Bautzen 1998, S. 243–245] 223 Q2 Interview mit Jurij Brězan zum Panslawismus „[…] I: Was ist für Sie dann das, was slawisches Bewusstsein heißt, slawische Gegenseitigkeit. Wie bringen Sie das zusammen? B: Ich muss sagen, ich bin nie Panslawist212 gewesen oder so etwas Ähnliches. Ich habe einen Brief gefunden, den ich 1943 an meine damalige Freundin, ein deutsches Mädchen, geschrieben habe. Dort schreibe ich: „Ich werde Dich gleich nach dem Krieg nicht heiraten können, weil ich mich dann mit den Tschechen um meine Heimat schlagen muss.“ Ich wollte keine Angliederung an die Tschechoslowakei. Es war nicht Deutschland zuliebe. I: Dann waren Sie aber ein Außenseiter, nicht? B: Ja, ich war ein Außenseiter, aber ich war nicht der einzige Außenseiter. Ich wollte das einfach nicht, weil wir sonst binnen einer Generation tschechisiert worden wären. Deswegen, nicht etwa Deutschland zuliebe. I: Tschechisiert, also noch rigoroser als germanisiert? B: Natürlich, weil es einfacher gewesen wäre, ein ganz normaler, klarer Übergang. I: Es ist eine größere Nähe da. B: Ja, es hätte gar nicht eines großen Drucks bedurft, das wäre ganz einfach gekommen, das Sorbische hätte sich nicht halten können. Der Gegensatz zur deutschen Sprache führte dazu, dass wenn Unterdrückung da war, auch die Solidarität der Unterdrückten da war. I: Es könnte ja auch sein, dass sich diejenigen, die sich für den Anschluss an die Tschechoslowakei ausgesprochen haben, damit auch indirekt ein Stück Selbstdestruktives in Gang hätten setzen können. Tschechisierung ist eine Selbstdestruktion, die dann eigentlich nur noch eine Fortsetzung des Nationalsozialismus gewesen wäre. B: Es ist noch nicht sehr lange her, da habe ich jemanden getroffen, der mir gesagt hat: „Du warst damals dagegen“, und ich sagte, dass ich heute noch der Meinung wäre, dass es richtig war, und er sagte: „Wir wären tschechisiert worden, besser als germanisiert.“ Ich sehe da keinen Unterschied. 212 Panslawismus ist eine im 19. Jahrhundert entstandene Bestrebung, die den Zusammenschluss aller slawischen Völker propagiert. 224 Also geht es mir nicht um das Slawische an sich, sondern um das Sorbische. Ich bin Angehöriger eines der kleinsten Völker Europas, das durchaus noch lebendig ist, und es gibt keinen logischen Grund dafür, dass wir überhaupt noch vorhanden sind. Alle Gründe sprechen dagegen. Wir leben nicht irgendwo mitten in den Wäldern, nicht umgeben von unzugänglichen Sümpfen. Wir haben immer in der Mitte Europas gelebt, und immer umgeben, seit Hunderten von Jahren, von einer übermächtigen deutschen Kultur und einer übermächtigen deutschen Gesellschaft. Und wir sind am Leben geblieben. Ein Wunder, dass wir, die wir überlebt haben und uns dessen bewusst sind, weiterhin leben wollen. Für andere stellt sich die Frage völlig anders, aber für mich ist der Blickwinkel von hier aus. Wieso kann man die Welt nicht von einem kleinen Hügelchen noch genauso sehen wie von der Zugspitze aus? Das meine ich, und meine nicht, dass mir die sorbische Sicht die Weltsicht verengt hätte. I: Ja gut, ich nehme Ihnen das so ab, wie Sie es sagen. Aber noch mal zurück zu der eigentlichen Fragestellung: Wie hat sich denn das Zurückstellen der sorbischen Sprache, die Diskriminierung des Sorbischen und damit die Identitätsprobleme auf die folgende Generation ausgewirkt? B: Indem die Diskriminierung die Sprache im täglichen Gebrauch zurückdrängte. Das war eine Zeit der Stagnation, und damit ist immer ein Verlust verbunden. In dieser Zeit entstand keine Literatur, keine anderen publizistischen Arbeiten. […] I: Vielen Dank, Herr Brězan.“ [Bott-Bodenhausen, Karin: „Sprachverfolgung in der NS-Zeit. Sorbische Zeitzeugen berichten“, in: Lětopis, Bd. 44, Sonderheft, Bautzen 1997, S. 45–53] Stellt euch vor, ihr lebt in der Lausitz, seid aber kein Sorbe. Ihr habt von dem Vorhaben der Domowina (Q 1), die Lausitz an die Tschechoslowakei anzugliedern, erfahren. Nun wollt ihr in der Lausitzer Rundschau einen offenen Leserbrief an die sowjetischen Besatzer veröffentlichen und euch gegen diese Angliederung aussprechen. A1 Benennt zunächst, welche Gründe für die Angliederung an die Tschechoslowakei angeführt werden. A2 Erörtert in Einzelarbeit, welche Gründe gegen die Angliederung an die Tschechoslowakei sprechen. Fixiert eure Argumente in Stichpunkten. A3 Diskutiert gemeinsam, welche Konsequenzen sich aus einer Angliederung ergeben könnten. Sichert die Diskussionsbeiträge, indem ihr zwei Protokollanten festlegt. 225 A4 Verfasst nun gemeinsam einen Leserbrief, indem ihr eure Position darstellt und mit Hilfe der Notizen argumentativ untermauert. A5 Präsentation: Stellt eure Arbeiten unter der gemeinsamen Überschrift „1945 – Was wird aus uns?“ vor. AT Lausitzer Braunkohle „Gott hat die Lausitz erschaffen und der Teufel hat in ihr die Kohle vergraben.“ Altes sorbisches Sprichwort. Seit 1850 wird in der Lausitz Braunkohle abgebaut. Das profitable Braunkohleflöz nimmt in der Lausitz eine Fläche von 4000 km² ein. Die Braunkohleförderung betrug im Jahr 1944 ca. 156 Millionen Tonnen pro 100 m². Der jährliche Ertrag verdoppelte sich bis 1989 durch technische Innovation. Braunkohle, auch „schwarzes Gold“ genannt, gilt als wichtiger Energieträger, dem wirtschaftlich, besonders im Hinblick auf Ölkrisen, enorme Bedeutung beigemessen wird. „Trotz massiver Proteste der sorbischen [Bewohner] fielen von 1945 bis 1989 46 Dörfer und 27 Ortsteile der Kohle zum Opfer. Die Kohleindustrie führte zu einer Einschränkung des Lebensraumes der Sorben, zu einem bedeutenden Verlust der nationalen Substanz und zu einem starken Zuzug deutscher Arbeitskräfte.“213 So hatte der Aufbau des Kombinats „Schwarze Pumpe“214 (sorb. „čorna pumpa“) in den fünfziger Jahren in der Nähe von Hoyerswerda zum Beispiel einen enorm hohen Zuzug deutscher Arbeiter in sorbische Kerngebiete zur Folge, was in gravierendem Maß die Assimilierung und den Sprachverlust der sorbischen Gemeinschaft forcierte.215 213 Kunze, Peter: Kurze Geschichte der Sorben, Bautzen 2001, S. 70. „Schwarze Pumpe“ war eines der wichtigsten Kombinate für die Energieversorgung der DDR. 215 Vgl.: Elle, Ludwig: Sprachenpolitik in der Lausitz. Eine Dokumentation 1949 bis 1989, Bautzen 1995, S. 44. 214 226 K1 Siedlungsgebiet der Sorben [Kunze, Peter: Kurze Geschichte der Sorben, 4. durchges. Aufl., Bautzen 2008, Umschlag] 2.3.2 Inhaltlicher Überblick zu den Aufgaben Themenkomplex A: Der Brief an den Marschall Domowina Jurij Brězan Für eine Eingliederung in die Tschecho- Gegen eine Eingliederung slowakei Sorben sind nach Sprache/Volkstum/ Kul- Das Sorbische ist nicht gleichzusetzen tur/Tradition mit Tschechoslowakei ver- mit dem Slawischen bunden Die historische Lausitz gehörte zum Die Kultur der Sorben könnte schleitschechoslowakischen Staatsgebiet (bis chend in der tschechoslowakischen auf1815) gehen Die Sorben haben das Vertrauen in Deut- Überleben durch Kulturkontraste sche verloren 227 Zu A 3: • • • • • • • • Die Grundlage ist der „deutsche“ Staat. Die Sorben haben eine eigene Sprache und Kultur, durch die sie sich evtl. abgrenzen. Jedoch sollen im Sozialismus alle gleich sein. Die Sorben würden aber nicht ihre Kultur aufgeben. Andererseits ist die Eingliederung der Lausitz in die Tschechoslowakei inakzeptabel, da dies einen zu großen Gebietsverlust und Verlust der Bodenschätze für den neuen Staat bedeuten würde. Zudem kann die Tschechoslowakei evtl. nicht so gut wie die zukünftige DDR mit dem „großen Bruder“ Sowjetunion „zusammenarbeiten“. Trotz seiner eher kleinen Präsenz kann das sorbische Volk nicht einfach vernichtet werden, da es sich seit Jahrhunderten in Europa gehalten hat. Auch hat das sorbische Volk große Medienpräsenz. Als Kompromiss ist der Erhalt der Kultur und Sprache auf begrenztem Territorium mit Zweisprachigkeit innerhalb eines Verwaltungsbezirkes denkbar. Themenkomplex B: Der Leserbrief eines Lausitzers Zu A 2: Sorben stellen eine Minderheit dar. Es gibt viele Deutsche in der Lausitz, die kein Interesse daran haben, in die Tschechoslowakei eingegliedert zu werden, da sonst Deutsche auf diesem Gebiet zu einer Minderheit (die ggf. unterdrückt würde) werden könnten. Zu A 3: Deutsche könnten in einem bestimmten Gebiet zu einer Minderheit werden und ihre Identität verlieren, evtl. durch die unmittelbare Vergangenheit auch verfolgt werden. Es gäbe damit nur eine Problemverschiebung. Es würde zu Aussiedlerströmen kommen, die zu den aktuellen Flüchtlingen hinzukämen. Insbesondere ungünstig für den neuen Staat wäre der Verlust von Bodenschätzen. 228 Buchtipp Bott-Bodenhausen, Karin: „Sprachverfolgung in der NS-Zeit. Sorbische Zeitzeugen berichten“, in: Lětopis, Bd. 44, Sonderheft, Bautzen 1997, S. 45–53. Elle, Ludwig: Sprachenpolitik in der Lausitz. Eine Dokumentation 1949 bis 1989, Bautzen 1995. Förster, Frank: Die „Wendenfrage“ in der deutschen Ostforschung 1933–1945, Bautzen 2007. Gros, Jurij u. a.: Domowina. Ein geschichtlicher Abriß, Bautzen 1972. Kunze, Peter: Die Sorben/Wenden in der Niederlausitz. Ein geschichtlicher Überblick, Bautzen 1996. Kunze, Peter: Kurze Geschichte der Sorben, Bautzen 2001. Michalk, Franziska Maria: Die Sorben – ein slawisches Volk in Deutschland, München 2002. Pech, Edmund: Die Sorbenpolitik der DDR 1949–1970. Anspruch und Wirklichkeit, Bautzen 1999. Schurmann, Peter: Die sorbische Bewegung 1945–1948 zwischen Selbstbehauptung und Anerkennung, Bautzen 1998. Kostenfreie Materialien zum Thema „Sorben“: Broschüre über den Rat für sorbische (wendische) Angelegenheiten unter http://www.landtag.brandenburg.de/de/infothek/publikationen/396598 oder Landtag Brandenburg, Hausanschrift Am Havelblick 8, 14473 Potsdam. Informationsbroschüre der Stadt Cottbus „Sorben in der http://www.cottbus.de/gaeste/wissenswertes/tradition/index.html http://www.cottbus.de/.files/storage/aa/aa/dt/Flyer_Sorben.pdf. Lausitz“ unter oder Film „Die Sorben – Nationale Minderheit im Land Brandenburg“ unter http://www.landtag.brandenburg.de/de/infothek/unterrichtsmaterialien_-_uebersicht/ 395906 oder Landtag Brandenburg, Hausanschrift Am Havelblick 8, 14473 Potsdam 229 ABBILDUNGSVERZEICHNIS B1 Landung in Yokohama (William Heine, 1854) ...................................... 12 B2 Landung in Yokohama (japanische Sicht, 19. JH) ............................... 12 B3 „Das schwarze Schiff“ (Farbholzschnitt, Japan 1854) .......................... 13 B3 Parther – Bronzeapplike – Sockelrelief Severusbogen (Forum Romanum) ........................................................................................... 26 B4 Sockelrelief Servusbogen (Forum Romanum) – Pferdepectoral, Aosta ....................................................................... 26 B5 Grand Camée de France (23 n. Chr.) .................................................. 27 K1 Vorderasien um 64 v. Chr. ................................................................... 37 K2 Vorderasien unter den Flaviern (ca. 80 n. Chr.) ................................... 37 K3 Der Partherkrieg Trajans (114-117 n. Chr.) ......................................... 37 K4 Vorderasien um 166 n. Chr. ................................................................. 37 K5 Vorderasien beim Tode des Septimius Severus (211 n. Chr.) ............. 37 K6 Vorderasien um die Mitte des 3. Jahrhunderts .................................... 37 K7 Vorderasien nach dem römisch-persischen Frieden von 298 n. Chr. .. 37 K8 Geographische Barrieren der Kaukasusregion .................................... 37 B1 Überreste des antiken Stadion in Olympia ........................................... 61 B2 Blick auf das Olympiastadion in Peking (Sommer 2008, Computergrafik).......................................................... 62 B1 Aufbau der Anlage in Olympia ............................................................. 64 B2 Zeustempel – 6 x 13 Säulen/10,51 m hoch – Dorische Säulenanordnung .............................................................. 67 B3 Die Zeusstatue ..................................................................................... 68 B4 Grundriss der Altis ............................................................................... 70 231 B5 Rekonstruktion der Altis; Modell im Museum von Olympia .................. 70 M1 Verfassung Spartas ............................................................................. 76 B1 Sparta und seine Verbündeten ............................................................ 77 B1 Griechische Vase mit der Darstellung von Läufern (ca. 550 v. Chr.) ... 87 B2 Pankration ............................................................................................ 87 B3 Körperpflege und Hygiene ................................................................. 104 B4 Karte des Peloponnes........................................................................ 105 Q1 Kupferstich aus Theodor de Bry, Americae pars quarta [...]. Frankfurt 1594.................................................................................... 115 Q3 Holzschnitt aus Jean de Léry, Historia navigationis in Brasiliam [...], Genf, 1586 ......................................................................................... 116 K3 Karte des Florenzer Gelehrten Paolo Toscanelli (1397 - 1482) ......... 140 K4 Europa im 16. Jahrhundert ................................................................ 143 B1 Kupferstich aus Theodor de Bry, Americae pars tertia [...] 1592. Frankfurt ............................................................................................ 158 M1 Neuzusammensetzung der Expertengruppen nach der Arbeit in den Stammgruppen........................................................................ 187 B1 Die Schriftstellerin Mina Witkojc ......................................................... 198 Q1 Zeitungskopf der Serbske Nowiny ..................................................... 210 K1 Siedlungsgebiet der Sorben ............................................................... 227 232 Universität Potsdam Dagmar Klose (Hrsg.) Begegnung mit dem Fremden in Geschichtswissenschaft und Geschichtsunterricht Perspektiven historischen Denkens und Lernens | 6